Es ist ein
sonderbares Gefühl, zurückzukehren. Wenig hat sich
verändert in den langen Tagen meiner Abwesenheit, kein Erdbeben
hat die Stadt im Meer versinken lassen, kein Piratenangriff sie in
die Knie gezwungen. Nur die Staubschicht auf meinen größtenteils
kostbaren Büchern ist etwas dicker geworden, und das
nachsichtige Lächeln des Gouverneurs eine Spur bitterer.
„Lasst
Euch versichert sein, wir sind außerordentlich froh, Euch heil
und lebendig wieder zu sehen", sagt er und schüttelt heftig
meine Hand, erschiene es uns beiden doch höchst unziemlich,
würde er Anstalten machen, mich wie einen Freund zu umarmen, und
ich schlucke hart, verbiete mir nachhaltig, auch nur einen Gedanken
zu verschwenden an jene zufällig abwesende Person, die dieses
„wir" mit einschließt, jene Person, die ich geliebt und an
einen anderen verloren habe – ein gnadenlos alltägliches
Schicksal.
Die Nachrichten vom Untergang der Dauntless, erklärt
er, hätten Port Royal bereits vor einigen Wochen erreicht. Mit
einem Anflug von Neugier mustert er mich, dass sein Taktgefühl
es ihm offenkundig verbietet, mich mit Fragen zu bestürmen,
nehme ich mit vagem Wohlwollen hin, zumal ich nur allzu gut weiß,
wie sehr es mir doch an Mut fehlen würde, das Grauen zu
schildern, selbst wenn ich – unwahrscheinlich genug – die rechten
Worte zu finden in der Lage wäre. Stille kommt auf, die der
Gouverneur damit zu überbrücken sucht, mich zum Tee
einzuladen, und für einen Augenblick nur bin ich gewillt
anzunehmen, würde es doch bedeuten, sie wieder zu sehen, und aus
demselben Grund lehne ich schließlich ab. Ich bin mir meiner
Schwäche bewusst: ein Lächeln, ein unbedachtes Wort aus
ihrem Mund, und ich wäre bereit, meinen Entschluss zu
überdenken, und weiterzukämpfen.
Was nicht sein darf.
Deshalb sage ich, „So leid es mir tut, habe ich dennoch bereits
eine anderwärtige Verpflichtung, Sir", und der Gouverneur
quittiert meine Worte mit einer Höflichkeitsfloskel und glaubt
mir nicht, und für einen Moment legt sich ein Schatten, den als
Sorge zu bezeichnen ich mich scheue, über seine Züge, doch
ich lasse ihm keine Zeit, die Gedanken, denen er nachhängen mag,
weiterzuverfolgen, endlich setze ich ihm auseinander, weshalb ich
eigentlich gekommen bin: mit ruhiger Stimme, die Hände hinter
dem Rücken verschränkt, die Maske der Gleichgültigkeit
akribisch fixiert, erzähle ich ihm von der
Untersuchungskommission der Admiralität, der es obliegen wird,
die genauen Umstände und Hintergründe des Verlustes der
Dauntless zu überprüfen, von Admiral Greystoke, der sich
gegenwärtig bereits auf der Überfahrt von Nassau befinden
muss und der Gouverneur sagt, „ich verstehe, ich verstehe", aber
natürlich versteht er nichts, zumal ich ihm den wichtigsten Teil
verschweige, nämlich dass ich keineswegs gewillt bin, mich vor
der Kommission zu verteidigen: ich bin nicht versiert genug in der
Kunst des Selbstbetrugs als dass ich mir weiß machen könnte,
den Schuldigen nicht zu kennen. Einen Schuldigen, den noch heute zu
richten ich mir zur Aufgabe gemacht habe.
„Ich werde mir
sofortiger Wirkung mein Offizierspatent zurücklegen", erkläre
ich dem Gouverneur, dem Vertreter der britischen Krone und
Staatsgewalt, nicht etwa meinem alten Bekannten Weatherby Swann,
dessen Sympathien ich vor langen Jahren durch Loyalität und
ungeschicktes Schachspiel gewonnen habe, und ebendieser Gouverneur
nickt und überlegt und sagt noch einmal „ich verstehe", und
kommt zu dem Entschluss, dass es sich letztendlich nur um eine
Formsache handelt, ein paar Dokumente, eine Unterschrift, es tut ihm
aufrichtig leid, und zumindest meine Offizierslaufbahn findet somit
ein sauberes, rasches Ende, das James Norrington, Privatperson und
Versager, sich selbst nicht vergönnt.
Auf der
blank polierten Platte meines Schreibtisches liegen ein paar Briefe,
die weiter zu beachten ich mir nicht mehr die Mühe mache, und
eine kleine Pistole. Es ist Abend geworden, von dem Fenster aus
bietet sich mir ein prachtvoller Ausblick auf die ewig geschäftige
Stadt, und die Wellen singen ein Lied von Schuld, die keine Sühne
kennt, und ziemlich willkürlich kommt mir meiner Großmutter
Stimme in den Sinn, die mir von der ewigen Verdammnis jener, die sich
selbst aus dem Leben stehlen, spricht, nur Mut, kein Preis zu hoch
für die Sünden, derer ich mich schuldig gemacht.
Ich
fühle das vertraute Gewicht der Pistole in meiner Hand.
Sorgfältig geladen habe ich sie, noch bevor ich mich aufmachte,
dem Gouverneur einen letzten, schweren Besuch abzustatten, es war,
als wollte ich meinen Entschluss besiegeln: ich gehöre nicht zu
jenen schwachen, bedauernswerten Menschen, denen es gegeben ist,
angesichts einer geladenen Pistole ihre Meinung zu ändern.
Vielleicht sollte ich mich verabschieden – doch von wem? Wem
kann, darf, will ich zumuten, die unweigerlich sentimentalen,
unweigerlich etwas lächerlichen posthumen Abschiedsworte eines
Deserteurs aus den Reihen der Überlebenden zu empfangen? Mein
Blick fällt auf das Tintenfass aus bemaltem Keramik, ein
hübsches Stück Zierrat, ja, zum Teufel, ein Geschenk von
ihr, fast gegen meinen Willen beginne ich zu schreiben, kann es
wirklich sein, dass die Feder zwischen meinen Fingern zittert, und
letztendlich wird es ein sehr kurzer, dummer Brief: „Miss Swann",
lautet er, „erinnert Euch meiner, wenn Ihr könnt", aber noch
während ich das Blatt anschließend sorgfältig in
Fetzen reiße, sehe ich Elizabeth vor mir, eine ältere,
reifere Elizabeth, die eines Tages, unerwartet, auf dem Grund einer
Schublade diese kurze Notiz findet, mit einem kleinen, wehmütigen
Lächeln liest, weil es ihr erstaunlich schwer fällt, die
Züge dieses Toten zu rekonstruieren, der dann doch nicht mehr
war denn eine Fußnote ihres Lebens (auch wenn sie, das kann sie
sich jetzt, da so unendlich viele – zwanzig? Wohl eher dreißig
– Jahre vergangen sind, getrost eingestehen, einen Abend lang, als
sie vierzehn war und er sie auf ihrem ersten Ball zum Tanz
aufforderte, ein bisschen in ihn verliebt gewesen war), und noch
einen Augenblick später wirft sie das Briefchen ins Feuer, und
ich schüttle den Kopf in einem kläglichen Versuch, die
ungebetene Vision zu vertreiben. Rasch lege ich die Feder zur Seite,
muss mich davor bewahren, den schmachvollsten aller Sätze,
bestehend aus drei Worten und einer Lüge, zu Papier zu bringen.
Ich wende
mich wieder der Pistole zu: das polierte Metall schimmert im Schein
der flackernden Kerze. Es ist sehr dunkel geworden, die Geräusche
der Nacht haben überhand genommen, Stunden müssen vergangen
sein, wie vermag ich nicht zu sagen.
Natürlich wäre es
einfacher, Gift zu nehmen. Sich nach Art der Feigen, der Schwachen,
davon zu machen. Es kostet soviel weniger Überwindung, einen
Becher zu leeren, denn eine Waffe an die eigene Schläfe zu
setzen, doch mir graut vor der vagen Hoffnung, vielleicht noch
gefunden zu werden, ehe es zu spät ist, die dieser Weg zu
inkludieren scheint. Bei Gott, ich wünschte, ich hätte zu
jenen tapferen, unerschrockenen Männern gehört, denen es
beschieden war, ihren Tod zu finden, an jenem Tag, da die Dauntless
geopfert wurde, weil ihr Kommandant blind war vor Gier und Stolz und
Hass, weil er, einmal nur, Herrscher sein wollte über Gewalten
und See und Schicksal, weil er die Stunde gekommen sah, seine Jagd,
seine große Aufgabe zu Ende zu bringen, weil – ja, weil er
sich unverwundbar glaubte, damals, sich und sein Schiff und all jene,
die unter seinem Kommando standen. Es ist nicht recht, dass der
Schuldige überlebt.
Langsam setze ich die Pistole an meine
Schläfe, den Finger um den Abzug gekrümmt. Lange verharre
ich in dieser absurden Pose, der Pose des Zweiflers, Schwächlings,
draußen graut der Morgen und ich erkenne mit erschreckender
Klarheit, dass mein ganzes Leben, meine ganze Wahrnehmung meiner
selbst, auf einem Irrtum – einer Lüge, vielleicht? – basiert
hat: all die vermutete Tapferkeit, Stärke, Furchtlosigkeit,
Prinzipientreue war mir doch nur Maske und Täuschung, denn an
jenem Punkt meines Lebens, da ich sie mir abverlangen muss, diese
Tugenden, da haben sie mich mit einem Mal verlassen.
„Drück
ab", sage ich mir leise, meine Stimme klingt fremd und hart in
meinen eigenen Ohren, und die schmähliche Wahrheit kenne ich
doch schon zur Genüge: ich kann es nicht.
Später, als die Kerze gelöscht, der Brief verbrannt, die Pistole sicher verwahrt ist, stehe ich auf und gehe ziellos im Raum auf und ab, im Wandspiegel offenbart sich mir ein übernächtiges Gesicht mit tiefen Ringen unter den Augen und einem ungekannten, bitteren Zug um den Mund, ein Gesicht das mir indes nur vage bekannt vorkommt – das Gesicht eines Feiglings, der seine Wahl getroffen hat.
Und ich werde ihn büßen lassen
