Teil I: Margaret
Margaret starrte auf die geschlossene Tür. Nur wenige Minuten waren vergangen seit er sie allein in der guten Stube ihres Heimes zurückgelassen hatte. Sie hatten gestritten. Nein, dass war nicht die richtige Beschreibung dafür. Sie hatten gekämpft miteinander. Und nun stand sie da, wie eine Statue, erstarrt, betäubt und komplett am Boden zerstört. Als er ärgerlich davon stürmte ohne noch einmal zu ihr zurück zu schauen, fühlte sie sich verloren und konnte nicht wirklich begreifen was gerade passiert war. Alles was sie fühlte war ein schneidender Schmerz in ihrer linken Brust, den sie niemals zuvor verspürt hatte.
Nach den schicksalhaften Geschehnissen von gestern, der Aufstand und ihr Drängen, dass er sich seinen Arbeitern stellen und mit ihnen reden sollte, war die Situation ins Chaos entglitten. Als sie begriff, das John Thornton sich einer ernsthaften Gefahr aussetzte, weil sie die Lage naiverweise falsch eingeschätzt hatte, hatte sie sich vor ihn gestellt und ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden sich an ihn geklammert, um ihn mit ihrem Körper zu schützen. Schließlich war sie schuld daran, dass er sich in dieser misslichen Lage befand. Das ihre Handlung Konsequenzen für ihr Ansehen nach sich ziehen konnte, hatte sie in diesen Moment nicht eines Gedankens gewürdigt, aber ihre kühne Handlungsweise wurde von mehreren hundert Menschen gesehen und Klatsch verbreitete sich schnell in Milton.
Diesen Morgen war John Thornton gekommen und bat um eine private Unterredung mit ihr. Sie wusste bereits als er die Türschwelle zu ihrem Haus überschritt, dass er gekommen war, um das richtige zu tun, und um ihre Hand anzuhalten. Sie wollte nicht gezwungen werden ihn zu heiraten, nur damit ihr Ruf nicht leiden würde. Sie würde nur aus tiefster Liebe heiraten, und sie liebte John Thornton nicht. Deshalb würde sie seinen Heiratsantrag ablehnen.
Ihre Stimmung war bereits am Siedepunkt angekommen bevor sie den Salon betrat, in dem er auf sie wartete. Wenn er glaubte er könnte sie besitzen wie ein hübsches Schmuckstück an seinem Arm, dann war er im Irrtum. Sie würde nicht ihr Leben für ihren Ruf opfern; sie würde erhobenen Hauptes dem Getratsche der Miltoner Gesellschaft entgegentreten bis dieses endete. Es würde im Sande verlaufen sobald ein anderer Skandal diesen überschattete. Sie würde nicht kapitulieren. Sie hörte seinen Antrag wie aus großer Entfernung und antwortete mit aller Wut ohne überhaupt wirklich zu verstehen was er sagte. Dann war es vorbei und sie stand alleine da.
Der Moment in dem er ging, war derselbe Moment in dem ihr Ärger sie komplett verließ. Hinterher durchlebte sie die ganze Begegnung immer und immer wieder, und erinnerte sich der Sätze, die er ausgesprochen hatte. Sie begann darüber nachzudenken, was er während ihres Streites gesagt hatte.
Er sagte, er wollte sie heiraten, weil er sie liebte, und er wünschte nicht sie zu besitzen; seine Gefühle wären sehr tief und er hatte nicht an ihren Ruf gedacht. Seine Erklärung machte er in hochemotionaler Weise. Seine Stimme hatte gezittert, und er hatte nach den richtigen Worten gesucht. Tatsächlich sagte er am Anfang "es ist schwierig die richtigen Worte zu finden". Er sah aus als würde er versuchen seine Nervosität zu verstecken. Nach ihren barschen Worte schien er beleidigt und verärgert. Seine Miene war ernst gewesen, aufrichtiger Schmerz schien aus seinen Augen.
Im Nachhinein betrachtet erkannte sie, dass sie ihn zutiefst verletzt hatte. Desweiteren hatte er gesagt, sie verstände ihn nicht. Es wurde ihr bewusst, das er recht hatte. Vollständig gefangen in ihrem Ärger und in ihren Vorurteilen ihm gegenüber, hatte sie nicht erkannt, dass er ihr die Wahrheit sagte. Seine Liebe für sie war rein. Stück für Stück wurde es ihr klar, und aus dem Blauen heraus wusste sie auf einmal, sie hatte ihr eigenes Herz vorher nicht gekannt. Diese Einsicht kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Von diesem Moment an akzeptierte sie den Schmerz in ihrer Brust für das was es war: eine klaffende Leere wo ihr Herz sein sollte.
John Thornton hatte ihr Herz mitgenommen als er ging. Unwissentlich hatte sie ihn die ganze Zeit geliebt. Sie war blind vor Stolz und Vorurteilen ihm gegenüber gewesen. Das daraus resultierende Ergebnis war, dass sie am Boden zerstört war.
Langsam setzte sie sich an den Tisch und Tränen begannen zu fließen. Was hatte sie getan? Sie hatte ihr Leben geopfert, ihre Liebe, und zusätzlich seine Liebe auch. Ein dummes Mädchen war sie. Mit tränenverschwommenen Blick sah sie seine Lederhandschuhe auf dem Tisch lieben. Sie nahm sie und verbarg ihr Gesicht darin. Sie konnte seinen unwiderstehlichen Duft riechen und fühlte sich getröstet, als wenn er sie umarmen täte. Letztendlich riss sie sich zusammen; sie war keine Frau, die zu Selbstmitleid neigte. Das nächste Mal wenn Mr. Thornton zu einer Stunde mit ihrem Vater käme, würde sie die Handschuhe zurück geben. Bei dieser Gelegenheit würde sie ihm alles erklären, was sie über sich selbst gelernt hatte. Sie würde versuchen ihn zurück zu gewinnen, und mit Gottes Hilfe würde sie es schaffen.
Die folgenden Tage lebte sie wie in einem Trance. Ihre geistige Abwesenheit war für den gesamten Haushalt offensichtlich, aber niemand sprach sie darauf an. Ihre Mutter war zu krank, um sich mit ihr lange zu unterhalten. Ihr Vater machte sich zu viel Sorgen um ihre Mutter, um mit ihr zu reden, und Dixon war zu beschäftigt den Haushalt am laufen zu halten.
Jeden Abend suchte Margaret in ihrem Zimmer Komfort durch seine Lederhandschuhe. Die Handschuhe waren abgetragen, und das Leder ein wenig hart und rissig von außen. Sie nahm an, dass Regen daran schuld war. Aber innen waren sie warm und das Leder war butterweich. Margaret grübelte das die Handschuhe wie Mr. Thornton waren. Unter der harten Schale schlug ein Herz aus wahrem Gold. In den letzten Tagen hatte Margaret kontinuierlich über Mr. Thornton nachgedacht, jede Begegnung mit ihm nochmals erinnert, und alle seine guten Charaktereigenschaften entdeckt nachdem sie alle ihre Vorurteile und Abneigung über Bord geworfen hatte. Nun konnte sie ihn sehen wie er war: der beste Mann in ihrem Bekanntenkreis. Er war verantwortungsbewusst, entgegenkommend, freundlich, sanft, gütig und liebenswert. Darüber hinaus war er nicht nachtragend, sondern eher vergebend. Mehr als einmal hatten sie gestritten, und jedes Mal wenn sie sich wieder trafen, war er trotzdem ihr gegenüber freundlich. Er war ein geschätzter Freund ihres Vaters. Sie hatte immer schon eine hohe Meinung von der Fähigkeit ihres Vaters den Charakter von Menschen zu beurteilen. Das Sahnehäubchen war sein attraktives Aussehen und seine muskulöse Erscheinung. Er war groß, mit dunklem Haar, blauen Augen, breiten Schultern, schlank, aber sehr gut gebaut soweit sie das beurteilen konnte. Ab und zu schlief sie mit seinen Handschuhen in ihren Händen ein, und ihre Träume schlossen nicht selten Mr. Thorntons Person ein.
Zuletzt war der längst ersehnte Tag da und Margaret erwartete Mr. Thornton mit Hochspannung, allerdings völlig umsonst. Er kam nicht. Statt seines Besuches sendete Mr. Thornton eine Mitteilung, die sein Fehlen aufgrund wichtiger Geschäftstermine entschuldigte. Margaret war mehr enttäuscht als ihr Vater. All ihre Hoffnung führte zu gar nichts. Sie fürchtete er ging ihr aus dem Weg, und sie konnte es ihm nicht mal verübeln. Am Abend nahm sie wie üblich seine Handschuhe, um sich zu trösten. Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie ging zu ihrem Schreibtisch und schrieb einen Brief.
