Schatten der Vergangenheit 1
Kapitel 1: Gegenwärtige Vergangenheit
Schweissgebadet schrak er hoch und presste die Hand auf seine erhitzte Stirn. Konnte das wahr sein? Konnte es sein, dass Gin und Wodka wieder da sind? Wieder auf freiem Fuss? Wieder auf der Jagd nach ihm?
Shinichi schloss die Augen und versuchte, seine Übelkeit zu bekämpfen, was ihm auch halbwegs gelang. Leise schob er sich aus dem Bett, ohne die neben ihm liegende Ran aufzuwecken, und schwankte in Richtung Bad. Das eiskalte Wasser, das er sich über die Hände laufen liess und sich dann ins Gesicht spritzte, war eine Wohltat. Anschliessend blickte er in sein Spiegelbild hoch. Durch das kalte Licht der Neonröhren wirkte er leichenblass, richtig krank. Wie ein Toter. Shinichi hasste es, wenn er so aussah. Er mochte sonst sein Aussehen, wenn da nicht diese feine, aber im Moment doch gut sichtbare Narbe auf seiner linken Wange gewesen wäre. Shinichi starrte sie an. Wie er diese Narbe hasste. Mit diesem äusseren Zeichen verband er die schrecklichsten Ereignisse, die er in seinem Leben erleiden musste. Damals.
Damals, vor jenen Ereignissen, war die Welt noch in Ordnung.
Shinichi seufzte, kehrte seinem Spiegelbild den Rücken zu, löschte das Licht und ging wieder ins Elternschlafzimmer. Leise schloss er die Tür hinter sich, trat dann aber ans Fenster. Er konnte jetzt nicht einfach wieder ins Bett klettern und weiterschlafen. Shinichi achtete darauf, den Vorhang nicht zu berühren, starrte dann hinaus und dachte nach. Über Ran, die bereits seit 16 Jahren seine Ehefrau war. Über seine beiden 16-jährigen Kinder, die Zwillinge Shinichi Jr. und Reika. Über seine Eltern, zu denen er im Moment keinen Kontakt mehr hatte. Shinichi schloss grimmig die Augen. Seine Eltern, Yusaku und Yukiko Kudo. Ein ganz spezieller Fall. Bereisen die Welt, als ob sie das noch nie getan hätten, verschwanden irgendwo im Urwald, und nur, wenn Shinichi, Ran oder die Kinder Geburtstag hatten, tauchten sie urplötzlich wieder vor der Haustür auf. Ihre Entschuldigungen konnte Shinichi nicht mehr hören. Von wegen, sie hätten sich gerne melden wollen, aber der Handyempfang sei dauernd schlecht gewesen. Was das betraf, log sein Vater jedes Mal. Es war doch immer das gleiche mit ihm. Und seine Mutter war auch nicht viel besser. Sie rief nur an, wenn sie sich über Yusaku beschweren wollte. Sonst nicht. Aber Shinichi war froh, dass sie sich kaum meldeten. So konnten sie sich wenigstens nicht in seine Erziehungsmethoden einmischen. Shinichi seufzte, warf einen Blick auf die noch immer schlafende Ran und sah dann wieder aus dem Fenster. Seine Gedanken schweiften noch weiter zurück in die Vergangenheit.
Als die Kinder noch Babys waren, da war Yukiko fast dauernd bei ihnen. Sie fand die Babys zuckersüss, und am liebsten hätte sie sie gleich mit nach Los Angeles genommen. Als sie das Shinichi, eher als Scherz, damals vorschlug, verschluckte sich dieser an seinem Tee. Was sich Yukiko dabei wieder dachte! Typisch! Aber in einem hatte sie doch Recht, dachte sich Shinichi heute und lächelte. Die Babys waren wirklich süss. Reika schlief fast die ganze Zeit, aber Shinichi Jr., dieser kleine Schlingel, wusste sehr genau, wie er seinen Vater auf Trab hielt. Tag und Nacht. Doch das hielt Shinichi nicht davon ab, seiner Mutter Yukiko dauernd unter die Nase zu reiben, dass sie jetzt Oma und somit auch alt sei. Das nahm Yukiko ihrem Sohn heute noch übel.
Ein leises Rascheln lenkte Shinichis Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurück. Er warf einen kurzen Blick auf Ran, die sich auf die Seite gedreht hatte, jedoch seelenruhig weiterschlief. Sie merkte nicht einmal, dass ihr Mann nicht neben ihr lag. Aber so war Ran schon immer; wenn sie mal schlief, konnte sie keine zehn Pferde wecken. Es gab jedoch mal eine Zeit, da wachte sie beim kleinsten Geräusch auf. Diese Zeit war vor gut 16 Jahren.
Mit einem leisen Prusten erinnerte sich Shinichi zurück an den Juli vor 16 Jahren, der heisseste Monat in jenem Jahr. Damals war Ran im neunten Monat schwanger, und beide wussten, dass sie ihre Kinder noch in diesem Monat zur Welt bringen würde. Wer hätte gedacht, dass es der 31. Juli sein würde...? Wie es der Zufall wollte, war das auch noch gleich der heisseste Tag des Sommers. Und sowohl Ran als auch Shinichi waren froh, als der Tag endlich vorbei war. Ran hatte sich damals etwas Angenehmeres vorstellen können als an diesem schwülen Nachmittag in den Wehen zu liegen. Glücklicherweise dauerte die Geburt nicht lange, und schon nach zwei Stunden konnten die frischgebackenen Eltern ihre Sprösslinge mit Küsschen und Umarmungen auf der Erde willkommen heissen.
Shinichi lächelte vor sich hin. Die Erinnerung kam ihm wie ein wunderschöner Traum vor. Der Tag der Geburt seiner Kinder befreite Shinichi endgültig von seinen Depressionen, und er bedeutete auch das Ende einer schrecklichen Zeit. Das Ende eines Alptraumes. Ein Alptraum...
Mit einem Schlag kehrte Shinichi in die Gegenwart zurück und er wurde wieder bleich. Klar und deutlich hatte er die Bilder seines Alptraumes vor Augen. Ein Messer, grinsende Gesichter, Blut. Eine Menge Blut. Aufgrund dieses Alptraumes war er auch überhaupt auf den Beinen, stand am Fenster, und lag nicht im Bett, wie er es eigentlich sollte um halb vier Uhr morgens.
Shinichi schüttelte heftig den Kopf, um diese furchtbaren Bilder aus diesem zu kriegen, aber er wusste ganz genau, dass es nichts nützte. Dafür stellte sich zusätzlich noch ein ungutes Gefühl bei ihm ein. Angst. Angst um Ran, Angst um seine Kinder. Furchtbare Angst um seine Familie. Seine Kinder! Shinichi konnte nicht anders, er musste nachsehen, ob mit ihnen alles in Ordnung war.
Während er zu den Zimmern seiner Kinder ging, liess ihn eine grauenvolle Vorahnung nicht los. Nämlich dass bald, sehr bald, etwas geschehen würde. Etwas Grausames. Und es hatte etwas mit seinem Alptraum von vorhin zu tun. Doch er verdrängte es, als er leise die Zimmertür seines Sohnes öffnete und eintrat. Sofort blies ihm ein kühler Windhauch ins Gesicht und Shinichi fröstelte. Er eilte zum Fenster und schloss es.
'Wie kann er nur bei offenem Fenster schlafen?', fragte Shinichi sich, trat an das Bett und musterte seinen Sohn. Er schlief friedlich, lächelte sogar. Also musste er einen schönen Traum haben. In diesem Moment beneidete Shinichi ihn. Wie gerne hätte er jetzt einen schönen Traum... und nicht den, den er gerade vorhin gehabt hatte.
Shinichis Blick schweifte über Shinichi Jr., und schliesslich blieb er an dessen Gesicht hängen. Wie sehr er ihm, Shinichi, ähnelte. Das sagten alle, die die Familie Kudo näher kannten. Ausnahmslos alle. Wäre Shinichi noch 16 Jahre alt, sie würden sofort und ohne Zweifel als eineiige Zwillinge durchgehen.
Aber er war nicht mehr 16 Jahre alt, sondern bereits 34. Gott, wie die Zeit verging. Erst waren die Babys noch klein, so dass man sie auf den Armen herumtragen konnte, und jetzt waren sie schon Teenager.
Shinichi lächelte, dann verliess er das Zimmer seines Sohnes und machte sich auf den Weg zu seiner Tochter Reika. In ihrem Zimmer war es wohlig warm, und Shinichi hielt sich nur kurz darin auf. Auch sie schlief ruhig. Keine zwei Minuten später lag Shinichi wieder neben Ran im elterlichen Ehebett unter der warmen Decke. Und konnte nicht schlafen, obwohl er sich wieder hundemüde fühlte. Ran neben ihm war diese Nacht keinen Augenblick lang wach. Nicht einmal dann, als Shinichi aufschrak. Shinichi beneidete sie kurz um ihren tiefen Schlaf, stiess einen üblen, aber lautlosen Fluch aus und drehte sich auf die Seite. Rans wunderschönes Gesicht befand sich nur Zentimeter vor seinem, doch er hielt sich zurück. Er berührte weder ihr Gesicht noch ihren Körper, warum, wusste er selber nicht. Er schloss die Augen und zählte Schäfchen. Ein weisses, wieder ein weisses, ein schwarzes, ein weisses... Irgendwann zwischen fünfzig und achtzig schlief er doch ein.
Kapitel 2: Vorahnung
Es war ein Morgen wie jeder andere auch. Verschlafen machte Shinichi Kaffee für sich und Ran, holte die Zeitung und schlug sie gleich noch beim Briefkasten auf. Er überflog nur kurz die Titelseite, doch der Bericht, in dem ein älterer Mann im Lotto 12 Millionen Yen gewonnen hatte, interessierte ihn nicht.
'Warum gewinnen immer die Alten die Kohle?', fragte Shinichi sich, ging dann aber ins Haus zurück. Ran zuliebe deckte er den Tisch, bereitete die Toastscheiben vor und holte Butter, Marmelade und Milch aus dem Kühlschrank.
Lecker. Wenn Ran wüsste, was ihr Mann gerade in der Küche tat, würde sie ihn auf der Stelle... Shinichi lief ein kalter Schauer über den Rücken, als er sich ausmalte, was alles passieren könnte, tat dann aber doch das Verbotene.
Er naschte von der Erdbeer-Marmelade.
Ein plötzliches Geräusch liess ihn ruckartig den Deckel auf das Glas schrauben und nach der Akte seines aktuellen Falles greifen. Es war eine in den Morgenmantel gehüllte Ran, die gerade in die Küche kam. Doch bevor sie etwas zu Shinichi sagen konnte, polterten schon die Zwillinge die Treppe runter, stürmten an ihr vorbei und setzten sich an den gedeckten Tisch.
"Hallo Mum. Hallo Dad." Und schon stopften sie sich die Mäuler voll.
"Morgen", kam es von Shinichi, der lässig an der Wand lehnte und die Akte noch immer in den Händen hielt.
"Guten Morgen ihr zwei!", grüsste Ran die Kinder und umarmte beide gleichzeitig. Dann ging sie auf Shinichi zu.
"Du bist auch schon wach?", fragte sie ihren Mann gähnend.
"Wie man sieht. In der Detektei werde ich in letzter Zeit geradezu mit Arbeit überhäuft, es ist ein Wunder, dass ich noch nicht darin ertrunken bin."
"Wir finden es toll, dass du noch unter uns weilst. Wer sonst würde uns das Taschengeld bezahlen?", kam es vom Tisch her und lenkte Shinichis Aufmerksamkeit auf seine Tochter, die gesprochen hatte.
"Nicht zu vergessen die regelmässigen Ferien im Ausland", bemerkte nun sein Sohn.
"Und die Kinoabende!"
Shinichi lachte. Reika war begeistert von allem, was mit Film zu tun hatte. Ganz besonders liebte sie die Kinos und die Atmosphäre darin. Darum hatte Shinichi eines der Gästezimmer in ein Heimkino verwandelt. Wenn im richtigen Kino nichts Spannendes lief, schob Reika gerne mal eine DVD in den Player und verschwand gleich für mehrere Stunden ins Heimkino. Ihr Bruder durfte sie dabei nicht stören, sonst ging ein Donnerwetter los. In solchen Momenten widmete sich Shinichi Jr. lieber seinen Büchern. Wie sein Vater liebte er Kriminalromane und verschlang sie geradezu. Sein unangefochtener Lieblingsautor war sein Grossvater Yusaku Kudo, dessen "Baron der Nacht" es ihm angetan hatte.
Zwischen ihm und seiner Schwester gab es kaum Streit, und wenn doch mal die Fetzen flogen, war Shinichi schnell zur Stelle und fand einen Kompromiss, den beide akzeptierten. Aber sehr oft waren die beiden ein Herz und eine Seele. So wie jetzt.
Shinichis Blick blieb auf seiner Tochter ruhen, die sich gerade lebhaft mit ihrem Bruder unterhielt. Er dachte nach, verglich. Shinichi war sich auch nach 16 Jahren immer noch nicht ganz sicher, wem Reika denn jetzt eigentlich ähnelte. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog sie es durch, ohne Wenn und Aber. Genau wie Ran. Ihre Wutausbrüche hatte sie auch von ihr. Aber wenn sie ihr schauspielerisches Talent zeigte, war sie präzise Yukiko.
Schauspielerei.
Seine Mutter Yukiko hatte Shinichi dieses Talent vererbt, und Reika hatte es wiederum von ihm bekommen. Auch äusserlich sah sie aus wie eine gelungene Mischung aus Ran und Yukiko. Die Haare und Augen von Ran. Das Gesicht von Yukiko. Und - wer hätte das gedacht - die scharfe Zunge von Eri. Ein Wunder, dass sie und auch Shinichi Jr. nichts von Kogoro geerbt hatten. Doch Shinichi war froh darüber. Und Ran auch. Ganz besonders Ran. Fand man doch in ganz Japan keinen grösseren Trunkenbold als Kogoro Mori.
Nein, zu so einem Säufer würden sie ihre Kinder ganz sicher nicht erziehen! Das wäre ja noch schöner! Jedoch schränkte Kogoro seinen übermässigen Alkoholkonsum eine Zeit lang so stark ein, dass sich seine Tochter Ran nicht mehr für ihn schämen musste und er voll und ganz für sie da sein konnte. In einer Zeit, in der Ran mehr Beistand und Unterstützung brauchte als eine Witwe, deren geliebter Mann gerade gestorben war...
Elender Mist! Verdammter! Schon war Shinichi gedanklich wieder dort, wo er nicht mehr, nie wieder, sein wollte. Diese schreckliche Vergangenheit... Shinichi schloss gequält die Augen und strich sich über diese.
"Geht's dir nicht gut?"
Reika schaute Shinichi mit grossen Augen an. Seit sie denken konnte, war ihr Vater noch nie krank gewesen. In den Wintermonaten zog er sich für gewöhnlich eine Erkältung zu, aber nie verbannte ihn eine Grippe ins Bett. Jetzt sah auch ihr Bruder auf. Shinichi war etwas blass um die Nase. Ran sagte kein Wort, obwohl sie ihn schon die ganze Zeit beobachtet hatte.
"Ich hab nur schlecht geschlafen, das ist alles", erklärte Shinichi und stand auf. "Und jetzt muss ich gehen. Ran, ich komme erst zum Abendessen wieder nach Hause, ich hab noch einen Termin mit einem Klienten. Um sechs bin ich wieder da."
"Ist gut", sagte Ran schlicht und umarmte ihn.
"Bis heute Abend", sagte Shinichi und küsste sie. Shinichi Jr. und Reika sahen demonstrativ weg.
"Sag mal, muss das immer sein, Dad?", sagte Shinichi Jr. zu der Wand. "Immer müsst ihr knutschen!"
"Lass uns doch, wenn's uns Spass macht", sagte Ran in leicht gekränkeltem Ton. "Ich möchte mal sehen, wie du dich verhältst, wenn du deine erste Freundin hast und alleine mit ihr bist."
"Natürlich will ich dann mit ihr alleine sein und keine Fremden um mich haben. Aber ihr..."
"Ihr beide seid keine Fremden für uns, merkt euch das. Ihr seid unsere Kinder. Als solche bilden ihr, eure Mutter Ran und ich eine Familie. Und als Familie sollte man sich nicht streiten, oder?"
"Ja, ja, schon gut. Wir kennen die Predigt 'die Familie sollte zusammenhalten' inzwischen auswendig", grummelte Shinichi Jr. Reika stimmte ihrem Bruder zu.
"Das ist mir sehr wichtig", sagte Shinichi, nun ernst. "Es geht nichts, absolut nichts über den Zusammenhalt einer Familie. Irgendwann wirst du das verstehen." Shinichi wusste genau, wovon er sprach.
In der Küche war es still. Die Art, wie er diese Worte ausgesprochen hatte, liess Shinichi Jr. und Reika frösteln. Was war heute bloss mit ihrem Vater los? So kannten sie ihn ja gar nicht. Ihnen schien es plötzlich, als wäre Shinichi ein Fremder. Er zeigte heute Seiten von sich, die ihnen beiden vollkommen neu waren. Die Zwillinge tauschten einen schnellen Blick. Aber so schnell, wie die Stille gekommen war, so schnell war sie auch wieder verschwunden, und Shinichi wirkte wieder heiter.
"Ich muss jetzt gehen. Viel Spass in der Schule, Kinder!" Shinichi Jr. und Reika rissen empört die Münder auf.
"Wie kannst du das sagen, Dad?", grummelte Reika. "Schule macht doch nicht Spass."
"Mir damals schon."
"Ja, weil du die ganze Zeit geschlafen hast!", grinste Shinichi Jr.
"Hab ich nicht!", regte Shinichi sich auf.
"Doch!"
"Nein!"
"Doch! Mama war Zeuge. Sie hat es uns erzählt", sagte Shinichi Jr. und grinste noch breiter.
"Was hast du?" Shinichi sah seine Frau ungläubig an.
"War mir rausgerutscht. Tut mir leid." Aber ganz so ernst sah es Ran nicht, denn auch sie musste schmunzeln. Shinichi seufzte.
"Schon gut. Aber ihr könnt mir nicht vorwerfen, ich hätte jemals schlechte Noten gehabt. Die Lehrer waren begeistert von mir und lobten mich in den höchsten Tonen!"
"Ja, ja, übertreiben musst du's jetzt aber nicht."
"Hab ich auch nicht!"
"Shinichi, du musst jetzt wirklich gehen", mischte sich Ran ins Gespräch ein. "Dein Klient wartet bestimmt schon."
"Gut. Wo war ich stehen geblieben? Ah, ja. Viel Spass in der Schule!", wiederholte Shinichi feixend und betonte jedes Wort. "Dir auch einen schönen Tag", sagte er zu Ran, vermied es aber, sie zu küssen. Auf eine weitere Diskussion mit seinem Sohn hatte er keine Lust. "Wiedersehen!"
Shinichi wirkte noch immer fröhlich, doch Ran entging nicht den gequälten Ausdruck in seinen Augen. Irgend etwas stimmte nicht.
"Viel Spass bei der Arbeit!", rief sie ihm hinterher und hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel. "Und viel Glück...", fügte sie murmelnd und leicht beunruhigt hinzu. "Besonders viel Glück."
Sie hatte ein ungutes Gefühl. Ein sehr ungutes Gefühl.
"Pass bitte auf dich auf, Shinichi."
Kapitel 3: Ausraster
Kaum hatten sich die Zwillinge von ihrer Mutter verabschiedet, breitete sich eine unnatürliche Stille in der Villa aus. Ran war allein. Normalerweise schaltete sie um diese Zeit das Radio ein, doch heute hatte sie Angst, auch nur in die Nähe des Gerätes zu kommen. Zu gross war ihre Furcht, es einzuschalten und zu hören, dass etwas Schlimmes passiert war. Etwas, was mit Shinichi zu tun hatte. Also liess sie die Finger davon und räumte die Küche auf. Anschliessend wollte sie die Wäsche waschen und bügeln, schliesslich war heute Waschtag im Hause Kudo – doch es ging nicht. Ran liess das Gefühl nicht los, dass sich etwas Furchtbares zutragen würde. Die Sorge um Shinichi liess Ran an nichts anderes mehr denken.
'Was soll's, es hat ja sowieso keinen Zweck', dachte Ran sich und liess die Wäsche Wäsche sein. 'Werde ich eben weiterschreiben'.
Seit geraumer Zeit versuchte sich Ran an einem Roman, den sie irgendwann an einen Verleger schicken wollte. In den letzten Wochen konnte sie ohne Probleme daran arbeiten, die Ideen sprudelten unaufhaltsam, und sie schaffte es kaum, sie alle zu Papier zu bringen. Obwohl Shinichi ihr angeboten hatte, extra für sie einen Laptop zu kaufen, lehnte sie es entschieden ab. Sie wolle lieber mit Papier und Füllfederhalter arbeiten, hatte sie Shinichi erklärt. Das schaffe eine bessere und besondere Atmosphäre. Und Ran hatte darauf bestanden, dass Shinichi ihr seine Hilfe nicht anbietet. Sie hatte sich fest geschworen, ihm den Entwurf erst zu zeigen, wenn er fertig war. Und bis heute hatte sie diesen Schwur gehalten.
Ran hatte das Manuskript, ein paar lose Blätter und den Füllfederhalter zur Hand genommen und wollte gerade den Stift auf das Papier ansetzen, als ihr ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf schoss. Was wäre, wenn es Shinichi nicht mehr möglich war, ihr Manuskript zu lesen? Was wäre, wenn er vorher sterben würde?
Ran begann zu zittern und schraubte so gut sie konnte die Kappe wieder auf den Schreiber. Nein, unmöglich. Sie konnte nicht weiterschreiben. Nicht unter diesen Umständen. Sie verstaute das Manuskript samt Zubehör wieder in ihrer Schreibtischschublade.
Ran gähnte und warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Es war jetzt kurz nach halb zwei. Der Tag begann sich furchtbar in die Länge zu ziehen. Sie sass im Wohnzimmer und starrte die Wand gegenüber an. Ihre Gedanken schwirrten mit Überschallgeschwindigkeit in ihrem Kopf umher, und Ran war nicht in der Lage, sie abzubremsen, geschweige denn, sie zu ordnen. Ein Seufzer verliess ihren Mund. Schliesslich ging sie in ihr Schlafzimmer hoch und holte nach längerem Suchen ein ganz bestimmtes Buch hervor. Sie setzte sich auf das Bett und starrte es minutenlang an. Sie hasste dieses Buch. Im hellen Schein der Nachmittagssonne schlug sie es trotzdem einfach auf und begann zu lesen. Schon nach den ersten Sätzen musste sie schlucken, um den Kloss in ihrem Hals loszuwerden. Doch der Kloss hatte anscheinend seine Miete bezahlt, denn er blieb drin. Trotzdem las sie weiter – und konnte bald nicht mehr. Ran hatte nicht mal die Seite fertig gelesen, als sie das Buch mit voller Kraft an die Wand schmiss. Tränen liefen ihr über die Wangen, Tränen voller Bitterkeit, Wut und Angst.
'Shinichi, bitte komm schnell wieder nach Hause. Unverletzt. Bitte', flehte sie in Gedanken und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann liess sie sich rücklings aufs Bett fallen. Den kleinen Edelstein, den sie sich bei ihrem Einzug in die Villa vor das Fenster hing, warf farbige Lichter auf die Decke und die Wände, wenn das Sonnenlicht den Stein traf. Ran beobachtete die funkelnden Farben. Sie wartete. Hoffte. Bangte. Und gähnte.
Wie müde sie plötzlich war...
Ein lautes Rufen weckte Ran auf. Sie streckte sich erst mal richtig und setzte sich auf.
"Hallo?", kam es von unten. "Mama?"
"Hier!", rief Ran und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Dann ging sie runter.
"Ist das Abendessen noch nicht fertig?", wurde sie von Shinichi Jr. begrüsst.
"Hallo erst mal! Wie war die Schule?", fragte Ran und ignorierte bewusst seine Frage.
"Wie immer. Stinklangweilig", antwortete ihre Tochter und warf ihre Schultasche in die Ecke. Ran missbilligte das sofort.
"Bitte, Liebes, Schulzeug hat in der Küche nichts zu suchen. Habt ihr keine Hausaufgaben?"
"Doch."
"Dann macht sie doch bitte im Wohnzimmer oder oben, ja?"
"Schon gut. Aber beeil dich bitte mit dem Abendessen, ich hab langsam Kohldampf", murmelte Shinichi Jr. und ging dann mit Reika ins Wohnzimmer. Ran seufzte und zog sich die Schürze an.
'Na dann, an die Arbeit. Ein paar Mäuler wollen gestopft werden.'
Die Zeit verging und Shinichis Heimkehr rückte mit jeder Minute näher.
"Bin wieder da!"
Kaum trat Shinichi ins Haus, wurde er schon von Ran umarmt.
"Bin ich froh, dass dir nichts passiert ist", schluchzte sie und drückte sich fest an ihn.
"Schon gut, ich bin ja da", flüsterte Shinichi ihr zu, ehe er sich von ihr löste und die Haustür schloss.
"Ist etwas passiert, das ich wissen sollte?"
Shinichi wagte es nicht, Ran in die Augen zu sehen, und zog sie ohne ein Wort ins Wohnzimmer. Dort wurde er gleich von seiner Tochter von hinten angesprungen. Durch Reikas Schwung stolperte Shinichi ein paar Schritte vorwärts, konnte aber sein Gleichgewicht halten.
"Hallo Dad!", sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange. "Wie war dein Tag?"
Shinichi machte eine Grimasse und liess sie runter.
"Fast wie immer", antwortete er. Dann fiel sein Blick auf seinen Sohn, der vor dem Fernseher sass und ein Videospiel spielte. Schliesslich war das ja interessanter als die Heimkehr seines Vaters. Shinichi verzog das Gesicht.
"Gibt es hier einen ca. 16-jährigen Jungen, furchtbar nett und gut aussehend, so als könnte er mein Sohn sein?"
"Nö!"
"Warum nicht?"
"Er ist nicht da", kam es von Shinichi Jr.
"Ja, klar, und ich bin der Weihnachtsmann. Würdest du bitte das Spiel beenden und kurz in dein Zimmer gehen? Bitte. Reika, du auch", wandte sich Shinichi an seine Tochter.
"Warum denn?"
"Geht jetzt bitte, ich muss mit eurer Mutter reden."
"Und das Abendessen?", fragte Shinichi Jr. ärgerlich und stand auf. "Ich hab Hunger!"
"Wird später serviert", gab Ran zurück und machte eine unmissverständliche Geste. "Verschwindet! Nach oben! Marsch!"
Die Zwillinge sahen ihre Mutter mit grossen Augen an. Was war heute bloss los? Erst benahm sich ihr Vater beim Frühstück so komisch. Und jetzt fing Ran auch noch damit an. Sie war sonst zu ihren Kindern nur dann nachsichtslos, wenn sie was angestellt hatten - was in letzter Zeit kaum mehr vorgekommen war. Reika und ihr Bruder waren der Meinung, nichts getan zu haben, und bewegten sich daher keinen Schritt aus dem Wohnzimmer.
"Verdammt, was ist eigentlich los?", fragte Shinichi Jr. und sah seine Eltern missgelaunt an. "Dürften wir das vielleicht mal erfahren?"
Jetzt erhob Shinichi das Wort.
"Der einzige, der unter diesem Dach fluchen darf, bin ich, klar? Und jetzt verschwindet. Beide!" Shinichi klang gereizt und furchtbar aufgebracht, und das war er auch. Als seine Kinder immer noch keine Anstalten machten, sich zu bewegen, ging Shinichi drohend einen Schritt auf sie zu. Sofort wichen sie zurück, mit einem ungläubigen Ausdruck in ihren Augen.
"Dad?", fragte Reika zögernd.
"RAUS!"
Sie drehten sich ruckartig um und rannten die Treppe hoch, flüchteten zu ihren Zimmern, als sei der leibhaftige Teufel hinter ihnen her. Aus Angst zog Reika ihren Bruder in ihr Zimmer, schlug die Tür mit einem ohrenbetäubenden Knallen hinter ihm zu und verriegelte sie.
Dann lehnte sie sich schwer atmend an diese und hielt die Augen geschlossen. Sie zitterte leicht, dann sah sie ihren Bruder fassungslos und stumm an.
Shinichi hatte sie nicht verfolgt. Er hatte ihnen nicht hinterhergerufen. Er hatte sich nicht mehr bewegt, sondern nur zur Treppe geschaut, wo sie verschwunden waren. Ran war geblieben, wo sie war, und hatte dem Spektakel nur stumm und ungläubig zugesehen.
Das Türknallen holte ihn aus seiner Erstarrung, und er drehte sich zu Ran um, die ihn verständnislos, aber auch etwas wütend ansah. Shinichi senkte den Blick.
"Was sollte das gerade eben?"
Shinichi blieb stumm und sah weiterhin zu Boden.
Ran verstand ihn nicht, er verhielt sich doch sonst nicht so. Sie wollte ihn erneut anfahren, warum er ihre Kinder so in Angst und Schrecken versetzte, als sie in seine Augen blickte. Und das, was Ran in diesen entdeckte, liess sie all ihre Wut auf Shinichi sofort wieder vergessen. Sie setzte sich auf das Sofa und winkte ihren angetrauten Mann zu sich.
"Setz dich", forderte Ran ihn auf. Shinichi folgte ihr, setzte sich neben sie, stützte sich die Ellbogen auf die Knie und vergrub sein Gesicht in den Händen. Ran ahnte Schreckliches.
"Was ist passiert?", fragte sie zum wiederholten Male. Shinichi hob den Kopf, sah sie jedoch nicht an, sondern starrte geradeaus.
"Noch nichts", sagte er endlich.
"Was?"
"Es ist noch nichts passiert."
Ran sah Shinichi an, dass es ihm schwerfiel, die nächsten Worte auszusprechen.
"Sie sind wieder da."
Ran hatte ihn kaum verstanden, so leise hatte Shinichi gesprochen.
"Wer ist wieder da?", fragte sie verständnislos.
Shinichi atmete gepresst aus, bewegte die Lippen, aber kein Wort kam über diese.
"Shinichi?" Ran legte ihre Hand sachte auf seine Schulter.
"Gin und Wodka", sagte er dann. Ran traf der Schlag und zog sogleich wieder die Hand zurück. Sie wurde bleich, wollte nicht glauben, was ihr Mann da gerade gesagt hatte. Ran sah ihn nur an, versuchte, aus seinem Gesicht herauszulesen, dass er nur scherzte. Irgendwas an seiner Haltung musste ihr doch verraten, dass er das nicht ernst meinte! Irgendwas!
Aber da war nichts. Keine Anzeichen im Gesicht, dass Shinichi versuchte, sie zu veralbern. Keine Anzeichen an der Körperhaltung, dass Shinichi gerade gelogen hatte. Einfach nichts. Es war die Wahrheit. Eine schreckliche Wahrheit. Sie waren tatsächlich wieder da - und bedrohten ihre Familie! Ran wollte das nicht wahrhaben, ihre nächsten Worte waren aufgebracht und in ihrer Stimme schwang Angst mit.
"Aber... die waren doch hinter Gitter! Sie-!"
"Nicht mehr. Sind ausgebrochen. Wieder frei." Shinichi liess den Kopf hängen.
"Woher weisst du das?"
"Megure hat es mir gesagt. Er war schon ganz aus dem Häuschen, als ich mich heute morgen verspätete. Er dachte wahrscheinlich schon, dass es mich erwischt hat. Jedenfalls war er heilfroh, mich zu sehen. Und dann hat er es mir gesagt."
"Ach du meine Güte...! U-und jetzt?" Ihr graute es vor der Antwort, die unweigerlich diejenige war, die sie auch erwartete.
"Tja...," begann Shinichi, sah Ran jedoch immer noch nicht an. "Du weisst, wie die drauf sind, wenn sie sich rächen wollen. Ich... Ich..." Shinichi stand ruckartig auf und fuhr sich aufgeregt durch die Haare. Unruhig durchquerte er das Wohnzimmer und blieb neben dem Fenster stehen. Einige Minuten lang starrte er stumm hinaus, ohne von Ran Notiz zu nehmen, die kurz leise schluchzte.
"Ich weiss nicht, was ich machen soll!", brach es schliesslich aus ihm hervor und er sah Ran unverwandt an. "Ich weiss es nicht. Ich weiss es einfach nicht! Ich weiss nur, dass ich Angst hab. Eine Scheissangst. Um dich. Und um die Kinder!" Shinichi atmete heftig, versuchte krampfhaft, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Ein Misserfolg. Shinichi fuhr fort. "Ich habe Angst, dass sie euch etwas antun. Dass sie euch schlagen oder sonst irgendwie verletzen. Dass sie euch vielleicht sogar umb-"
Shinichi würgte und wandte sich wieder dem Fenster zu. Kalter Schweiss sammelte sich auf seiner Stirn. "Oh Gott, wenn ich nur daran denke... Alles kommt wieder hoch..."
Shinichi zuckte zusammen, als Ran ihn von hinten umarmte. Sofort wurde er ruhiger, und sein inzwischen rasender Puls verlangsamte sich wieder. Erschöpft lehnte er sich gegen die Wand und wischte sich mit der Hand über sein Gesicht.
"Es hat sich nichts geändert", sagte er dann, drehte sich in Rans Umarmung zu ihr um und umarmte sie ebenfalls. "Schon damals warst du der ruhende Pol. In deiner Gegenwart beruhigte ich mich jedes Mal. Immer wieder. Ran, wenn ich dich nicht gehabt hätte..."
"Ich weiss", seufzte Ran und lehnte ihren Kopf an Shinichis Brust. Er blieb stumm, und auch Ran sagte kein Wort. Sie genoss es nur, seinem Herzschlag zu lauschen, der sich jetzt beruhigt hatte, während Shinichi den Duft ihrer seidigen Haare einatmete. Immer, wenn er sich aufregte oder sonst schon aufgebracht war, strahlte Ran eine unerklärliche Ruhe aus, die ihn jedes Mal ansteckte. Jedes Mal. Und er war dankbar dafür.
Shinichi schloss die Augen und atmete tief ein. "Ich liebe dich, Ran. Ich liebe dich so sehr, dass es wehtut. Und ich bin froh, dass ich dich habe."
"Ich liebe dich auch, Shinichi", sagte Ran und küsste ihn kurz. "Aber trotzdem muss ich jetzt das Abendessen auftischen, sonst wird Klein-Shinichi mir ein Leben lang vorwerfen, dass er nichts zu essen bekommen hat."
Shinichi lächelte.
"Das wird er nicht, glaub mir. So etwas würde er nie tun. Wenn er erst alles weiss, wird er es verstehen und sich anders verhalten."
"Wenn er erst alles weiss?", wiederholte Ran, hob den Kopf und sah Shinichi ins Gesicht. "Du meinst, du...?"
Shinichi nickte.
"Ich werde es ihnen sagen. Heute Abend noch. Ich darf sie nicht länger im Dunkeln tappen lassen. Sie müssen wissen, was damals passiert ist und welche Gefahr jetzt auf uns lauert. Jetzt ist Schluss mit der Geheimniskrämerei. Endgültig." Auf Shinichis Gesicht trat Entschlossenheit.
"Gut, kannst du machen. Aber vorher wird gegessen", sagte Ran bestimmt und löste sich von Shinichi. Er sah ihr nach. Als Ran gerade die Küche betreten wollte, drehte sie sich zu Shinichi um, der sich nicht vom Fleck gerührt hatte. "Kommst du?"
"Nein, ich... hab keinen Hunger."
"Wirklich?" Ran klang nicht überzeugt.
"Ja. Ich werde mich etwas hinlegen. Und mir Worte zurechtlegen, um es ihnen behutsam beizubringen. Ich kann sie ja nicht gleich... damit überrumpeln."
"Ist gut."
Shinichi seufzte und setzte sich in Bewegung. Vor dem Treppenansatz blieb er stehen.
"Ach ja, noch etwas...", begann er. "Ich glaube, es wäre besser, wenn du die Kinder zum Essen rufst. Nach dem... Geschehnis von vorhin trauen sie mir nicht mehr über den Weg."
"Ach was, du redest mal wieder Unsinn", beschwichtigte Ran ihn, war aber einverstanden. Shinichi nickte und verschwand aus ihrem Blickfeld. Sie hörte, wie oben eine Tür sanft geschlossen wurde. Ran seufzte und rief dann ihre Kinder.
"Shinichi, Reika, Essen!"
Eine Tür wurde entriegelt.
"Ist Dad unten?", kam es zurück.
"Nein!"
Shinichi Jr. und seine Schwester traten bedächtig aus dem Zimmer, sahen sich kurz um und spurteten dann schnell die Treppe runter in die Küche, wo Ran war. In Gegenwart ihrer Mutter fühlen sie sich gleich viel sicherer und fragten erst gar nicht, wo ihr Vater blieb. Normalerweise ass er immer mit ihnen zusammen zu Abend. Heute nicht.
"Euer Vater will nachher mit euch reden", sagte Ran plötzlich.
Shinichi Jr. Und Reika sahen sich an.
"Über was?"
"Über das, was vorhin passiert ist", antwortete Ran und schöpfte sich noch etwas nach. Reika schenkte sich noch etwas Tee ein.
"Wo ist er überhaupt?"
"Oben."
Die Zwillinge wagten es nicht, mit Ran über ihren Vater zu reden.
"Dürfen wir nachher fernsehen?", fragte Shinichi Jr. stattdessen.
"Wenn ihr mir erst dabei helft, die Küche aufzuräumen, dann ja", stellte Ran gleich die Forderung. "Vorher nicht."
"Okay!"
Shinichi horchte auf und sah kurz auf seinen Wecker. Sieben Uhr. Die Nachrichten liefen im Fernsehen. Jemand musste ihn eingeschaltet haben.
'Also gut', redete sich Shinichi ein und schloss die Augen. 'Wenn die Nachrichten zu Ende sind... kommt die Stunde der Wahrheit.'
Kapitel 4: Geschichtsstunde (Teil 1)
Shinichi schritt die Treppe hinunter. Seine inzwischen schweissnassen Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben, und er war bleich. Die nahende Begegnung liess ihn noch nervöser werden als er es schon war. Gleich würde er auspacken. Den Kindern den Grund nennen, warum er den ganzen Tag so unruhig war. Warum er Narben am ganzen Körper hatte. Warum er jetzt noch, als erwachsener Mann, untergewichtig war... Und warum er vor dem Abendessen vor den Kindern ausrastete. Vor denjenigen, die überhaupt nichts dafür konnten. Die keine Ahnung hatten, was damals passiert war. Was Shinichi widerfahren war. Was er erleiden musste.
Ran war noch in der Küche zugange, hörte aber, dass Shinichi die Treppe runterkam. Sie ging ihm entgegen.
"Du wirst es ihnen tatsächlich sagen? Bist du dir wirklich sicher?"
Shinichi nickte und sah sie ernst an. Dann wandte er sich um, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Sein Ziel war das Wohnzimmer, der jetzige Aufenthaltsort seiner Kinder.
Reika und Shinichi Jr. hatten es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und sahen eine Talkshow, als ihr Vater an den Fernseher trat und ihn einfach ausschaltete.
Jeder andere Jugendliche wäre sofort sauer auf seinen Vater gewesen, wenn er ihm wortlos den Fernseher ausgeschaltet hätte. Nicht so Reika und ihr Bruder. Ihnen war es sogar egal, ob der Flimmerkasten lief oder nicht. Besonders interessant war die Talkshow ja doch nicht. Allerdings vermieden sie es, Shinichi in die Augen zu sehen. Sie spürten jedoch, dass er sie ansah, sie spürten seine Blicke, die auf ihnen ruhten.
Als Shinichi seinem Nachwuchs gegenüberstand, war sein Hirn wie leergefegt. All die Worte, all die Sätze, die er sich zurechtgelegt hatte, um es ihnen schonend beizubringen, waren weg. Ausnahmslos alles war weg. Alles.
Und was jetzt?
Glücklicherweise machte sein Sohn den Anfang.
"Wolltest du uns nicht etwas sagen?", begann er, hielt jedoch weiterhin den Blick gegen den Boden gerichtet. Shinichi räusperte sich. Jetzt hiess es also improvisieren.
"Doch. Ich... Bevor ich anfange... wollte ich euch sagen... Es tut mir Leid. Ich wollte euch vorhin nicht erschrecken. Ehrlich nicht. Entschuldigt bitte." Shinichi seufzte und schloss die Augen.
Shinichi Jr. und seine Schwester sahen endlich auf. Die anfängliche Angst ihrem Vater gegenüber war verflogen. Shinichi war nicht gefährlich. Jedenfalls nicht für sie.
"Dad?", fragte Reika und beugte sich vor. "Was ist mit dir los? Was ist passiert?"
Shinichi seufzte abermals, doch er gab sich endlich einen Ruck. Jetzt musste es raus. Jetzt.
"Als ich so alt war wie ihr heute... wurde ich entführt...", begann er.
Shinichi Jr. und seine Schwester sahen ihn wortlos an.
"... und gefoltert", beendete Shinichi seinen angefangenen Satz.
Den Zwillingen klappte die Kinnlade runter. Sie waren schockiert. Entsetzen spiegelte sich in ihren Augen, doch sie wussten sofort, dass es die Wahrheit war. So etwas würde Shinichi nicht zum Spass sagen. Alles andere vielleicht schon, aber doch nicht das. Doch nicht so was.
"Diejenigen, die mich..."
Shinichi brach ab. Er konnte nicht weitersprechen. Aber er musste! Er musste! Das war er seinen Kindern schuldig! Verdammt, er war es ihnen schuldig! Shinichi holte tief Luft und fuhr stockend fort.
"Diejenigen, die mich... damals... gefoltert haben... bekamen lebenslänglich. Weil ich gegen sie ausgesagt hatte."
"Lebenslänglich?", fragte Shinichi Jr. nach. "Sind sie jetzt etwa nicht hinter Gitter?"
"Sie sind es... waren es", korrigierte Shinichi sich. "Sind ausgebrochen."
"Aber dann werden sie sich an dir rächen wollen! Sie werden dich töten! Ermorden! Über den Jordan schicken! Umlegen! Killen! Abmurksen!"
'Makabre Ausdrucksweise, Sohnemann', dachte Shinichi und warf ihm einen Blick zu.
Einerseits war er jetzt erleichtert. Endlich verstanden er und seine Schwester, welche Gefahr von Gin und Wodka ausging. Endlich verstanden sie, was Shinichi durchmachen musste, auch wenn sie noch nicht alles wussten. Endlich verstanden sie... ihren Vater. Sie wussten jetzt, warum er sich so benahm, warum er so nervös war. Andererseits... Jetzt hatte er mit der Geschichte angefangen, also musste er sie auch beenden.
"Du hast Recht", bestätigte Shinichi leise. "Das werden sie zweifelsohne tun, wenn ich sie nicht aufhalte."
Sofort warf sich Reika ihm an den Hals. "Oh mein Gott! Oh mein Gott! Oh mein Gott!", jammerte sie und vergrub ihr Gesicht in Shinichis Hemd. "Das darfst du nicht zulassen. Bitte, Dad. Lass nicht zu, dass wir-"
"Ich werde es versuchen, glaub mir", sagte Shinichi zu ihr, drückte sie leicht von sich weg und sah in ihr tränennasses Gesicht. "Aber damit ich das tun kann, müsst ihr alles darüber wissen. Ihr müsst wissen, was es heisst, ein Kudo zu sein – und welche Gefahr damit verbunden ist. Denn wenn sie mich nicht kriegen können, dann vielleicht euch..."
Jetzt schaltete sich Shinichi Jr. wieder ins Gespräch. Er war angespannt. Etwas, was bei ihm sehr selten vorkam.
"Du meinst, wir sind in Gefahr? Reika und ich auch?"
"Und Ran ebenfalls", fügte Shinichi hinzu.
Es dauerte ein paar Minuten, bis den beiden Teenagern die Ausmasse klar wurden. Und dann stellte Shinichi Jr. die finale Frage.
"Was haben sie dir angetan?"
Vor dieser Frage hatte Shinichi sich gefürchtet. Er wusste, sie würde irgendwann kommen, und dann musste er sie beantworten. Jedoch hatte er immer wieder versucht, diesen Zeitpunkt hinauszuschieben, die Gedanken daran immer wieder verdrängt. Jetzt konnte er es nicht mehr. Jetzt war die Zeit da. Also nahm er Reika an die Hand und führte sie zum Sofa zurück.
"Es ist besser, du setzt dich", sagte Shinichi zu ihr und setzte sich gleich zwischen sie und seinen Sohn. "Ich möchte nicht zu sehr ins Detail gehen, denn... es zu erleben war schon schlimm genug. Bitte versteht das." Shinichi starrte den Boden an, ohne ihn wirklich zu sehen.
Die Zwillinge nickten, und wieder verstrichen ein paar Augenblicke, ehe Shinichi zu reden anfing.
"Es war an einem Donnerstag. Morgens war ich müde, weil ich die Nacht zuvor kaum geschlafen hatte. Den ganzen Tag über sass ich in der Schule, und am Abend rief mich Inspektor Megure zu Hilfe. Ein Fall bereitete ihm Kopfschmerzen, doch ich konnte ihm wie immer helfen. Aus Dankbarkeit wollte er mich persönlich nach Hause fahren, denn es war da schon fast Mitternacht. Doch ich lehnte es ab."
"Und das war ein Fehler", bemerkte Shinichi Jr. Sein Vater nickte.
"Genau. Das war ein Fehler. Der grösste Fehler, den ich bis dahin in meinem Leben gemacht habe. Aber ich wollte nach Hause laufen. Der Fall hatte mich etwas aufgeregt, und die kühle Nachtluft hätte mir gut getan. Darum lehnte ich Megures Angebot ab. Ich machte mich also auf den Weg."
Shinichi brach wiederum ab und musste seine Gedanken sortieren. Reika und ihr Bruder warteten stumm, bis Shinichi weitererzählte.
"Plötzlich wurde ich in eine dunkle Seitengasse gezerrt und niedergeschlagen. Ich hatte keine Chance, mich zu verteidigen, sie waren zu stark. Und auch der Überraschungsmoment war nicht auf meiner Seite."
"Hat euch denn niemand gesehen?", fragte Shinichi Jr. ungläubig. "War denn kein Mensch in der Nähe?"
"Nein, und das überraschte auch mich. Normalerweise schlief Tokyo nie, aber in dieser Nacht... Ich weiss auch nicht." Shinichi schloss die Augen. "Der Schlag auf den Hinterkopf raubte mein Bewusstsein, aber als ich wieder aufwachte, befand ich mich noch immer in der Seitengasse. Ich war, wie mir später gesagt wurde, nur ein paar Minuten ohne Bewusstsein. Allerdings war ich gefesselt, geknebelt und mein Fuss schmerzte höllisch."
"Sie haben deinen Fuss verletzt?" Diesmal war es Reika, die gefragt hatte. Shinichi nickte.
"Wie verletzt?"
"Gebrochen. Flüchten lag also nicht mehr drin. Um Hilfe rufen auch nicht. Und dann drohten sie mir. Sollte ich wider Erwarten doch flüchten oder auch nur an Flucht denken, dann... dann..." Schon wieder brach Shinichi ab. Er fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht.
"Dann?", fragte Reika leise nach.
"Sie... sie haben gesagt, dass sie Ran umbringen würden."
Die Kinder sahen Shinichi geschockt an.
"Mama?"
"Ja", murmelte Shinichi und hob den Blick. "Aber so weit kam es gar nicht. Denn bereits nach vier Tagen war ich nicht mal mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen."
"Das heisst, sie haben dich an jenem Abend verschleppt?", fragte Shinichi Jr. und sah seinen Vater an, der abwesend wirkte.
"Was?", fragte er plötzlich und sah seinen Sohn an. "Was hast du gesagt?" Shinichi war so sehr in seinen Gedanken gefangen gewesen, dass er die Frage nicht gehört hatte.
Shinichi Jr. wiederholte sie.
"Ja, ja, das haben sie", griff Shinichi den Faden wieder auf. "Tut mir leid, ich bin etwas durcheinander."
"Etwas?", dachte eine Person, die das Trio stumm beobachtete und natürlich mithörte. "Etwas durcheinander, mein lieber Shinichi?"
Jetzt fuhr Shinichi wieder fort, diesmal in der richtigen Reihenfolge. Jetzt sprach er ruhig und ohne zu stocken.
"Also, noch mal von vorne. Ich war auf dem Nachhauseweg, sie zerrten mich in eine Seitengasse und schlugen mich nieder. Als ich wieder zu mir kam, war ich gefesselt und so weiter und so fort."
"Ja, das wissen wir jetzt", unterbrach Shinichi Jr. seinen Vater. "Und wie ging's weiter?"
"Sie schlugen mich wiederum bewusstlos, denn als ich wieder aufwachte, lag ich in einem Raum, der stark einem Kerker ähnelte. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Aber ich wusste, dass ich ohne Hilfe nicht mehr lebend rauskam. Ich war absolut wehrlos. Ich war ihnen ausgeliefert."
Erstaunlicherweise konnte er immer noch ruhig reden. Die Worte kamen über seine Lippen, so als sei das alles gar nicht passiert. Fast könnte man glauben, alles sei nur der Phantasie eines Schriftstellers entsprungen. Aber welcher Schriftsteller würde so etwas ausdenken?
"Warum haben sie dich nicht einfach umgebracht?", kam die schlichte Frage von Shinichi Jr. und unterbrach somit die Erzählung. Shinichi musste sich kurz sammeln.
"Weil sie sehen wollten, wie ich leide. Wie ich vor Schmerzen schrie. Und weil sie sehen wollten, wie ich um mein Leben bettelte." Shinichi lächelte kurz böse auf. "Aber das hab ich nicht."
"Was hast du nicht?", fragte Reika verständnislos. Sie begriff nicht. Oder wollte sie nicht begreifen?
"Ich hab gelitten. Ich hab auch vor Schmerzen geschrien. Aber ich hab nicht um mein Leben gebettelt. Ich konnte es gar nicht. Weil ich kaum noch reden konnte, so sehr geschwächt war ich", fügte Shinichi hinzu und beantwortete somit die aufkeimende Frage.
Er hielt es für das Beste, nicht weiter darauf einzugehen, stattdessen machte er dort weiter, wo Shinichi Jr. ihn unterbrochen hatte.
"Wie auch immer. Pech oder vielleicht ein Glück war, dass Heiji ebenfalls gefangen genommen wurde."
"Moment mal!", unterbrach Shinichi Jr. seinen Vater wiederum lautstark. "Du meinst, Onkel Heiji war auch da?" Reika sah ihn ebenfalls fassungslos an. Der Onkel Heiji? Der beste Freund ihres Vaters? Ihnen war natürlich klar, dass er nicht wirklich ihr Onkel ist, aber sie nannten ihn immer so. Und Heiji hatte nie etwas dagegen gehabt.
"Ja, Heiji wurde auch gekidnappt", bestätigte Shinichi. "Ich hätte das gerne verhindert, aber... ich konnte nichts dagegen unternehmen. Diese Gefangenschaft dauerte vierzehn Tage, sagte man mir, und ich glaube, dass Heiji am zehnten Tag in meine Zelle gestossen wurde."
"'sagte man mir' und 'ich glaube'? Wusstest du denn nicht, welcher Tag gerade war?", fragte sein Sohn.
"Nein. Ich wusste nicht mal, ob gerade Tag oder Nacht war. Ich hab die Sonne nur ein einziges Mal gesehen, und selbst das verlief nicht ohne Schmerzen." Shinichi schluckte schwer.
"Wie seid ihr wieder freigekommen?", fragte Reika.
"Heijis Handy hatte einen Peilsender eingebaut. Auf Anweisung seines Vaters hin", fügte Shinichi auf den fragenden Blick Reikas hinzu. "Heijis Aufenthaltsorte wurden dauernd aufgezeichnet, und wenn er längere Zeit an einem Ort verweilte, der nicht sein Zuhause oder die Schule war, war das natürlich verdächtig. Aber das war noch nicht alles."
"Ich nehme an, dass sein Handy zerstört wurde", schlussfolgerte Shinichi Jr., und sein Vater nickte.
"Genau. Heijis Vater Heizo wurde natürlich langsam unruhig, da er tagelang nichts mehr von seinem Sohn hörte, also fing er an nachzuforschen. Und so fand er unter Umwegen heraus, wo unser Aufenthaltsort war."
"Dann hattet ihr ja ein riesiges Glück!"
Shinichi sah seine Tochter stirnrunzelnd an. Glück? Vielleicht. Wohl eher Glück im Unglück. Shinichi lehnte sich nach hinten und sah an die Decke.
"Unsere Rückkehr in die Freiheit war alles andere als schmerzfrei. Wobei... Während der ganzen Zeit der Gefangenschaft liessen sie Heiji weitestgehend in Ruhe, doch bei mir zeigten sie keine Gnade. Und so war es auch bei der Befreiung. Heiji hielten sie einfach nur als Geisel. Ich jedoch wurde weiterhin gefoltert. Sogar noch vor den Augen der anwesenden Polizisten. Vor den Augen von Megure und Kogoro. Und auch vor den Augen von Ran."
"Mutter war bei deiner Befreiung dabei?", rief Reika und sprang auf. "Das ist nicht wahr, oder? Sag, dass das nicht wahr ist!"
"Doch, es ist wahr. Leider. Ich hätte es ihr gerne erspart, das kannst du mir glauben", versuchte Shinichi seine Tochter zu beschwichtigen, aber es nützte nichts. Reika schien plötzlich ausser sich zu sein.
"Du hättest das verhindern müssen!", tobte das Mädchen.
"Wie denn?", rief Shinichi zurück und sackte plötzlich zusammen. Kalter Schweiss sammelte sich auf seiner Stirn, er stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in seinen Händen. In diesem Moment sah er erbärmlich aus, und Reika beruhigte sich etwas, als sie ihren Vater so sah. Seine vorher langsam aufgebaute Sicherheit war dahin. Seine Selbstbeherrschung war dahin. Die Ereignisse hatten ihn eingeholt, mit voller Wucht. Jetzt brauchte er das Verständnis seiner Kinder. Sonst nichts.
Shinichis nächste Worte an Reika waren kaum noch zu hören.
"Ich hatte keine Kraft mehr, um zu rufen oder zu schreien. Ich hatte keine Kraft mehr, um überhaupt auf eigenen Beinen stehen zu können. Ich war halb tot. Mehr tot als lebendig. Ich konnte nicht, versteh das doch. Bitte..."
Shinichi wusste, warum Reika plötzlich so aufgebracht war. Sie ertrug es einfach nicht, wenn man ihrer Mutter Ran wehtat. Wenn Ran traurig war, war auch Reika traurig. War Ran glücklich, war das auch ihre Tochter. Die Nachricht, dass Ran es mit ansehen musste, war demnach ein Schock für sie. Reika heulte los. Shinichi wusste, dass sie jetzt nicht angefasst werden wollte, also blieb er sitzen.
"Reika, bitte beruhige dich. Bitte!", sagte Shinichi leise und sah sie an. Reika starrte noch immer weinend zurück, und plötzlich sah sie Shinichi mit anderen Augen. Ihre Tränen versiegten langsam.
"Was waren das für Verletzungen? Wie hast du das überlebt? Wie konntest du damit umgehen? Wie...?"
"Bitte eins nach dem anderen, ja?" Shinichi zeigte ganz kurz eine Spur von Gereiztheit, doch die verflog sehr schnell wieder. Jetzt war nicht die Zeit, sich überfordern zu lassen. Jetzt nicht.
"Was die Verletzungen angehen... Die hab ich aufgeschrieben. Gleich nach unserer Befreiung musste ich operiert werden. Und zur Sicherheit versetzten mich die Ärzte ins künstliche Koma, damit sich mein Körper ungestört erholen konnte. Als ich dann wieder aufwachte... hatte ich die Geschehnisse klar und deutlich in meinem Kopf. Ich konnte es verarbeiten, indem ich es aufschrieb. Irgend jemand hatte ein gebundenes Buch mit leeren Seiten samt Schreiber in meinem Zimmer deponiert, und als ich es gesehen habe... musste ich einfach drauflos schreiben. Mit jedem Wort, das ich schrieb, fühlte ich mich besser. Auch wenn's dann noch Jahre dauerte, bis ich wirklich darüber hinwegkam."
"Jahre?", fragte sein Sohn zur Sicherheit nach. "Jahre?"
"Jahre", bestätigte Shinichi. "Aber ich hab das Buch seitdem nicht mehr geöffnet, und das ist jetzt schon sehr lange her. 18 Jahre, um genau zu sein."
"Dürfen wir es lesen?", kam sofort die nächste Frage, und Shinichi lief ein Schauer über den Rücken.
"Was wollt ihr?", krächzte er.
"Es lesen! Dürfen wir? Bitte, Dad...", bettelte Reika. Shinichi starrte sie an. Er wollte doch die Einzelheiten verschweigen! Und dann fing er plötzlich an, von diesem Buch zu erzählen. Was war er doch für ein Idiot!
"Willst du wirklich?", fragte Shinichi zweifelnd.
"Ja!"
"Du auch, Shinichi?" Von seinem Sohn kam ein heftiges Nicken. Shinichi atmete gepresst aus.
"Dann bleibt mir wohl nichts anders mehr übrig..."
Shinichi stand auf und begab sich ans Fenster, während die Zwillinge ihn beobachteten. Die Narbe an seiner Wange konnten sie im Augenblick gut sehen, sie zeichnete sich deutlich von Shinichis kreideweissem Gesicht ab.
Plötzlich fiel ihnen ein weiteres Detail an Shinichis Aussehen auf. Ein Detail, das ihnen bisher noch nie wirklich ins Auge gesprungen war. Dabei war es doch so offensichtlich.
Kapitel 5: Geschichtsstunde (Teil 2)
Shinichi begann wieder zu sprechen und lenkte somit die Aufmerksamkeit der Zwillinge abermals auf ihren Vater.
"Die Verletzungen beziehungsweise die Narben davon waren nicht das Einzige, was man mir bis heute noch ansieht." Ein kurzer Seufzer verliess Shinichis Mund. "Wie gesagt, laut den Angaben von Ran dauerte die Gefangenschaft genau vierzehn Tage. Das sind zwei Wochen. Zwei Wochen, in denen ich nichts zu essen bekam."
"Sie liessen dich hungern?", platzte es wiederum schockiert aus Shinichi Jr. heraus. "Vierzehn Tage lang?"
"Ganz recht. Ihr seht ja selber, wie dünn ich bin. Seit damals hatte ich nie wieder ein Normalgewicht. Und ich kämpfe heute noch gegen plötzliche Schwächeanfälle."
Shinichi war überrascht, wie gefasst er klang. Er konnte davon erzählen, als ob es nicht ihm, sondern jemand anderem passiert wäre. Oder so, als wäre es gar nicht passiert. Unglaublich war die Sache auf jeden Fall. Unglaublich entsetzlich. Shinichi atmete tief ein, sah zu Boden, doch dann sprach er weiter.
"Zu deiner zweiten Frage, Reika. Wie ich das überlebt habe." Shinichi hob den Blick. "Die Ärzte sagten, ich sei ein medizinisches Wunder. Jeder andere Mensch wäre den Verletzungen erlegen. Nur ich nicht." Shinichi holte kurz Luft. "Das Einzige, was mich damals am Leben hielt, war Ran. Und das Einzige, was mich auch heute noch am Leben hält, ist immer noch Ran. Und ihr beide, seid es euch gibt." Shinichi sah seine Kinder jetzt unverwandt an. Sie sahen zurück, und was sie in Shinichis Augen sahen, erschreckte sie abermals. Tränen. Ihr Vater hatte Tränen in den Augen. Doch er machte keine Anstalten, sie wegzuwischen.
"Ihr wisst gar nicht, wie oft ihr mich zum Lachen gebracht habt", fuhr Shinichi mit teils gebrochener Stimme fort. "Ihr habt mich in euren ersten paar Jahren so aufgebaut, dass ich jetzt so bin, wie ich bin. Sogar jetzt noch baut ihr mich auf. Und als du, Shinichi, fünf Jahre alt warst, hast du mir etwas gesagt, das mir Tränen in die Augen trieb. Gott, das war so süss, wie du das gesagt hattest. Wirklich."
"Was hab ich denn gesagt?", fragte Shinichi Jr. verwundert. Jetzt war er neugierig, und auch Reika lauschte gespannt. Auf Shinichis Gesicht breitete sich ein Lächeln aus und er wischte sich endlich die Tränen weg.
"Es war damals ein Gewittertag und es goss aus Kübeln. Du hattest den ganzen Tag mit deiner Schwester gespielt, und als ich völlig durchnässt von der Arbeit nach Hause kam, ranntest du fröhlich auf mich zu. Ich nahm dich wie immer hoch, und dann hast du Folgendes gesagt:
'Du Papa? Du siehst aus wie ein Pirat.'"
Shinichi Jr. lief knallrot an und wandte sein Gesicht ab. Reika lachte laut auf. Shinichi erzählte weiter.
"Ich hatte mich schon auf das Schlimmste gefasst gemacht, als du mit deinem Finger meine Narbe an der Wange nachgefahren bist. Und dann hast du gesagt, dass ich wie ein Pirat aussehe. Ich war sprachlos, das kannst du mir glauben."
Shinichi lächelte seinen Sohn an, der noch immer rot war, während Reika sich vor Lachen den Bauch hielt. Sie wusste gar nicht, dass ihr Bruder so etwas jemals gesagt hatte, und fand es natürlich urkomisch. Shinichi liess sich die Erinnerung kurz einwirken, dann sprach er weiter.
"Obwohl ich mit dieser Narbe eine schreckliche Zeit verbinde, musste ich laut lachen. In solchen Momenten habt ihr mir immer klar gemacht, dass das Leben schön sein kann, und dass ich gebraucht werde. Dass ich nicht aufgeben darf..."
Shinichi setzte sich wieder zwischen seine Kinder und umarmte beide. "Ihr zwei und Ran seid mein Ein und Alles. Meine Familie. Mein Leben. Ihr bedeutet mir alles. Ich liebe euch." Shinichi drückte die beiden noch mehr an sich, und er spürte, dass beide es genossen. Vergessen war der Ausraster von vorhin, und vergessen war auch die Angst vor ihrem Vater. Aber nicht vergessen war die Gefahr, die noch immer lauerte. Die nächsten Minuten verbrachten die drei schweigend. Bis Reika sich räusperte.
"Dad?"
"Hm?"
"Wie haben sie deine... Folter damals begründet?"
Shinichi seufzte, löste sich etwas von seinem Nachwuchs und starrte den Boden vor sich an. Das nächste Wort brachte er wieder nur mühsam über seine Lippen.
"Spass."
"Was?" Reika dachte, sich verhört zu haben. Dem war aber nicht so. Shinichi hatte wirklich 'Spass' gesagt.
"Es war Spass. Reiner Spass am Quälen, Spass am Foltern, und schliesslich reiner Spass am Töten. Ich hätte jämmerlich verenden sollen."
"Warum?", fragte nun Reika, und brachte somit die ganze Geschichte auf den Punkt. "Warum? Warum du?"
Shinichi sah ihr in die Augen. Sie fragte nach dem Grund. Endlich.
"Dazu muss ich etwas weiter... in die Vergangenheit. Seinerzeit war ich der erfolgreichste Detektiv unter Japans Sonne", begann Shinichi die Erklärung.
"Das bist du auch heute noch", warf sein Sohn dazwischen. Shinichi ignorierte die Bemerkung und fuhr fort.
"Ich knackte jeden Fall, egal wie schwierig er war. Jeden. Man sagte mir eine glänzende Zukunft voraus, wenn ich so weitermachte. Also tat ich das. Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich Gin und Wodka nie irgendwelche Geschäfte verpfuscht. Mich nicht in ihre krummen Dinger gemischt. Noch nicht. Früher oder später hätte ich es, denn es war nur eine Frage der Zeit, bis ich auf ihre Spur stossen würde. Doch sie drehten den Spiess einfach um. Sie kamen mir zuvor, machten mich vom Jäger zum Gejagten. Anders gesagt, ich war nichts weiter als eine Gefahr, die es zu beseitigen galt. Sie gingen ohne Gnade vor, wie ich es ja schon erzählt habe. Diese Leute waren skrupellos. Sind es immer noch. Massenmörder werden im Laufe der Zeit nicht unbedingt sanfter."
Shinichi schwieg. Stille. Und plötzlich...
"Du sagtest, Onkel Heiji wurde auch gefangen genommen?", fragte Reika. Shinichi nickte. "Warum?"
"Ich kann nur Vermutungen anstellen, denn den Grund kennt niemand."
"Ausser diejenigen, die dich...", sagte Shinichi Jr. Shinichi nickte.
"Genau. Ich vermute, dass sie in Heiji nicht eine so grosse Gefahr gesehen haben, da er ja in Osaka lebt und ermittelt. Es war ein offenes Geheimnis, dass ich besser war als er. Und wenn er mal wieder in Tokyo war, zeigte sich das auch. Natürlich gefiel es ihm nicht, doch er machte mir nie einen Vorwurf deswegen. Nach diesen zwei Wochen war er für kurze Zeit sogar dankbar, dass er mir nicht das Wasser reichen konnte."
"Um auf dich zurückzukommen...", begann Shinichi Jr. "Diese Leute haben den ersten Schritt gemacht. Dann sind also die Narben, die du..."
"...Narben von den Verletzungen, die sie mir zugefügt haben, richtig."
"Aber du hast uns erzählt, sie stammen von einem Unfall aus deiner Kindheit!", warf Reika ein.
"Das war gelogen. Es tut mir Leid, aber ihr wart damals, als ihr mich danach gefragt habt, noch nicht bereit für die Wahrheit. Heute seid ihr es. Verurteilt mich bitte nicht wegen dieser Lüge."
"Ist schon okay", murmelte Reika. "Aber wie konntest du damit umgehen?"
"Mal abgesehen davon, dass ich es mir schliesslich von der Seele schrieb?", fragte Shinichi und erhielt ein Nicken. Shinichi suchte nach den richtigen Worten.
"Um ehrlich zu sein... gar nicht. Ich konnte nicht damit umgehen, und das hat mir niemand vorgeworfen. Alle in meinem Umfeld konnten mich verstehen, meine Stimmungen, meine Anfälle, meine Zusammenbrüche... und auch meine Ausraster... Ich hasste die Kerle. Ich hasste mein Leben. Ich hasste mich."
Reika und ihr Bruder sahen ihn mitfühlend, aber auch ungeduldig an. Also erzählte Shinichi weiter.
"Doch plötzlich wurde ich apathisch. Plötzlich wollte ich von meiner Umwelt nichts mehr wissen. Wollte mit niemandem mehr reden, wollte niemanden mehr sehen. Ich wurde depressiv. Schwer depressiv. Niemand konnte mich aufmuntern oder mich ablenken. Nicht mal Ran. Ich war des Lebens überdrüssig."
"Aber eins verstehe ich immer noch nicht, Dad", begann Reika und hinderte so Shinichi am Weitersprechen. "Warum hast du uns das erzählt? Du hattest es eigentlich schon verarbeitet, du führst ein fast normales Leben, und doch fängst du jetzt wieder damit an. Das muss dich doch wieder verletzen, oder etwa nicht?"
"Du hast ganz Recht, Kleines. Aber ich musste es tun. Ich musste es euch erzählen."
"Warum?"
"Weil ich nicht will, dass euch was passiert. Weil ich Angst um euch habe. Und weil sie mir damals etwas eingebleut haben, was mich seither nicht mehr losliess."
"Was haben sie gesagt?" Shinichi Jr. sah seinen Vater unverwandt an.
"Sollte ich wider Erwarten doch überleben und irgendwann mal Kinder haben, kämen sie zurück und..."
Shinichi würgte und musste mit aller Kraft den Brechreiz unterdrücken. Er brauchte nicht weiterzureden. Den Zwillingen war klar, was er sagen wollte:
Auch sie sollten gefoltert werden.
Und das war die Wahrheit. Sie waren jetzt gleich alt wie Shinichi damals, und laut Gin war es das perfekte Alter, um den wahren Schmerz kennenzulernen. Reika fröstelte, und Shinichi Jr. war bleich. Shinichi selber schwieg. So vergingen mehrere Minuten.
"Das kann ich nicht verantworten!", brach es plötzlich verzweifelt aus Shinichi hervor. "Es hat schon gereicht, dass ich Opfer dieses Gewaltverbrechens wurde. Es hat gereicht, dass ich die Folter ertragen musste! Nicht umsonst pumpte man mich mit Beruhigungsmitteln voll, damit ich die Schmerzen ertragen konnte, als ich aus dem Koma erwachte!"
Shinichi musste tief Luft holen. "Ich will nicht, dass ihr das Gleiche erleben müsst wie ich. Ihr wisst jetzt, was ich durchstehen musste, und jetzt denkt ihr anders über mich. Ihr versteht mich jetzt. Ich weiss, nach aussen hin betrachtet ihr mich vielleicht als mutig und unbesiegbar, aber ich bin verwundbar. Und wenn es um euch, um Ran, um meine Familie geht, erwacht einfach ein altbekanntes Gefühl."
"Und welches ist das?", fragte Reika leise. Shinichi seufzte.
"Angst. Ich habe Angst um euch. Angst, euch zu verlieren. Ich habe Angst, dass sie euch etwas antun. Denn eines könnt ihr mir glauben: Sie waren Meister ihres Faches. Sie haben mir alle nur erdenklichen Schmerzen zugefügt... Aber gleichzeitig hatten sie eine erlösende Ohnmacht immer wieder verhindert."
Shinichi Jr. wollte schon nach dem Grund fragen, doch nach kurzem Überlegen kam er selber auf die Antwort. Eine Ohnmacht hätte Shinichi – wenn auch nur für kurze Zeit, aber immerhin – von seinen Schmerzen erlöst.
Er wurde noch weisser im Gesicht. Mit welcher sadistischen Freude mussten die Kerle seinen Vater behandelt haben. Welcher normale Mensch foltert einen anderen nur so zum Spass? Diese Typen waren doch krank! Absolut krank!
Shinichi Jr. hatte grosses Mitleid mit seinem Vater. Er fand jedoch keine Worte des Trostes, konnte nichts machen, damit es ihm etwas besser ging. Er konnte nur dasitzen und warten, bis er sich wieder beruhigte. In Gefühlssachen war er einfach nicht gut, Reika dafür umso mehr. Doch ihr ging jetzt anderes durch den Kopf.
Sie spürte, dass sie Shinichi vorhin unterbrochen hatte, doch irgendwie hatte sie im Gefühl, was er sagen wollte. Also fragte sie ihn danach. Sie flüsterte.
"Hast du damals nach dieser Gefangenschaft dran gedacht, dir das Leben zu nehmen?"
Shinichi schloss die Augen und senkte den Kopf. Er wagte nicht, seinen Kindern in die Augen zu sehen. Er hätte den Ausdruck darin nicht ertragen.
"Nicht nur daran gedacht", antwortete er schliesslich ganz leise.
"Was? Du meinst...?"
Das konnte doch nicht wahr sein! Niemals! Shinichi Jr. sah ihn mit übergrossen Augen an. Sein Vater hatte versucht, Selbstmord zu begehen? Sein Vater? Er, der sonst immer stark war, der immer für alles eine Lösung in petto hatte? Er, der immer für alles einen Ausweg wusste? Das war für Shinichi Jr. die mit Abstand am meisten schockierende Nachricht an diesem Abend. Shinichi Kudo Senior, sein Vater, war ein Selbstmordkandidat.
Auch Reika dachte Ähnliches. Sie kniff die Lippen fest aufeinander und versuchte mit aller Gewalt, die Tränen zurückzuhalten. Es gelang ihr jedoch nicht.
"Ja, ich hab's versucht", begann Shinichi wieder. "Ich... ich war schon bewusstlos, als ich schliesslich gerettet wurde. Aber es war knapp. Sehr knapp."
"Du wurdest gerettet? Von wem?", fragte seine Tochter schluchzend.
"Von Heiji."
Reika wollte nicht wissen, auf welche Art Shinichi versuchte hatte, sich umzubringen. Das hätte ihr endgültig den Rest gegeben. Es war schon schlimm genug zu hören, dass er es versucht hatte.
Shinichi starrte traurig zu Boden. Tränen sammelten sich wieder in seinen Augen.
"Ich habe überlebt, um von nun an Alpträume zu durchleben. Ich... ich war wirklich am Boden zerstört, glaubt mir. Ich sah keinen Ausweg mehr... Und ich habe meinen Retter sogar noch angeschnauzt." Shinichi wollte zwar weitersprechen, doch er brachte kein weiteres Wort mehr heraus.
Zum zweiten Mal an diesem Abend umarmte Reika ihren Vater, drückte ihn fest an sich. Er entspannte sich langsam, und Reika wusste daher sofort, dass es ihm guttat. Shinichi und Ran waren in dieser Hinsicht gar nicht so verschieden, überlegte Reika. Shinichi umarmte sie auch und beruhigte sich langsam.
"Ich wäre jämmerlich zu Grunde gegangen, hätte ich Ran nicht gehabt. Aber...", sagte Shinichi und seine Stimme festigte sich wieder. "Zwei Jahre später war ich heilfroh, dass ich gerettet wurde. Denn damals erschien ein Licht in meinem Leben, das mir wieder Mut und Kraft gab. Damals passierte etwas, für das es sich lohnt zu leben. Mein Leben bekam einen neuen Sinn." Shinichi erinnerte sich kurz an diese Zeit. Es war einer der schönsten Momente in seinem Leben, und auf keinen Fall würde er diesen je vergessen.
"Was passierte da?", fragte Shinichi Jr. neugierig und lenkte somit Shinichis Aufmerksamkeit wieder auf seine Sitznachbarn. Shinichi sah sie an. Und dann lächelte er.
"An jenem Tag... wurdet ihr zwei geboren. Ihr habt mir die Kraft gegeben um weiterzuleben. Aber auch Ran trug dazu bei."
"Oh Dad!", schluchzte Reika und umarmte ihn erneut. Tränen benetzten ihre Wangen, doch sie machte keine Anstalten, sie wegzuwischen. Wozu auch? Shinichi Jr. zögerte erst, doch dann umarmte er seinen Vater ebenfalls.
"Familiendrücken!", meinte er. "Jetzt fehlt nur noch Mama."
Er warf einen Blick zur Küche hinüber, wo Ran im Türrahmen stand und zu ihnen rübersah. Auch sie hatte Tränen in den Augen, doch sie lächelte. Und schüttelte leicht den Kopf, als sie den Blick ihres Sohnes auffing. Sie wollte jetzt nicht stören. Der Moment gehörte ihnen. Dem Vater und den Kindern.
"Wir haben dich lieb", murmelten die Zwillinge im Chor. In diesem Augenblick der Nähe dachten beide dasselbe. Sie liebten ihren Vater, von ganzem Herzen. Und doch wollten sie nicht mit ihm tauschen.
Shinichi war der erste, der sich wieder löste. Er stand auf.
"Ihr solltet jetzt ins Bett, es ist schon spät", meinte er. "Ihr habt morgen Schule."
Shinichi Jr. gähnte.
"Du hast Recht. Aber..."
"Ich werde euch das Buch schon geben, aber ich muss es erst suchen. Wie heisst es doch so schön: Aus den Augen, aus dem Sinn. Ihr kriegt es zum Lesen, versprochen. Aber nicht mehr heute. Für heute habt ihr genug erfahren."
"Ist gut."
Die Zwillinge standen auf und machten sich auf den Weg. Kurz vor der Treppe hielt Reika jedoch inne.
"Dad?"
Shinichi hob den Kopf und sah sie an.
"Vergiss eines bitte nicht", begann sie und lächelte aufmunternd. "Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist. Denk dran, ja? Und lass den Kopf nicht hängen!" Shinichi lächelte müde zurück, dann polterten die Zwillinge die Treppe hoch.
Im Wohnzimmer war es jetzt still. Shinichi stand wieder am Fenster und sah hinaus, während Ran sich lautlos auf das Sofa setzte und ihren Mann beobachtete.
Shinichi spürte, dass Ran anwesend war, auch wenn er sie nicht gesehen hatte. Einige Minuten lang schwieg Shinichi noch, doch gerade als er etwas sagen wollte, kam ihm Ran zuvor. In ihrer Stimme schwang Sorge mit.
"Geht's dir jetzt besser?"
Shinichi nickte und wandte sich um, sah Ran in die Augen.
"Es war ein klärendes Gespräch. Und genau das hatte gefehlt. Das hatte ihnen gefehlt. Vielleicht hätte ich es ihnen früher sagen sollen."
"Damit deine Wunden wieder aufreissen?", fragte Ran lauter als beabsichtigt. "Keiner von uns hat daran geglaubt, dass diese Mistkerle je wieder freikommen. Wir wollten nicht daran glauben. Nicht mal daran denken. Du hattest keinen Grund, es ihnen zu sagen. Jetzt hattest du einen", schluchzte Ran plötzlich. "Sogar zwei."
"Ich dachte ja auch, dieses Kapitel meiner Vergangenheit endgültig abgeschlossen zu haben. Aber das Leben ist nicht fair. Sie kamen zurück. Das Einzige, was ich jetzt tun kann, ist dafür zu sorgen, dass ihr unverletzt bleibt. Was mit mir geschieht, ist zweitrangig."
"Aber...", warf Ran ein, doch dann sah sie zu Boden. Typisch Shinichi. So war er nun mal. So war er schon immer. Immer stellte er die Leben anderer über sein eigenes. Solange anderen nichts passiert, war ihm egal, was mit ihm geschah. Das war Shinichi, wie er leibte und lebte.
Shinichi sah Ran nachdenklich an. Er konnte sich denken, was Ran den ganzen Tag gemacht hatte. An ihn gedacht. Er wusste, dass Ran manchmal eine diffuse Angst spürte. Immerhin erlebte Shinichi in seinem Beruf gefährliche Momente. Als erfolgreicher Detektiv, der sich gegen die Korruption wehrte, hatte er auch viele Feinde. Wenn er sich verspätete, musste Ran gegen ihre Phantasie ankämpfen. Was würde sie tun, wenn Shinichi eines Tages nicht mehr nach Hause käme? Ran wäre verloren gewesen.
Shinichi seufzte und nahm mit hängendem Kopf neben Ran auf dem Sofa Platz. Er zog sie zu sich und umarmte sie. Ran drückte sich fest an ihn, während Tränen über ihre Wangen liefen.
"Du warst mehr als nur durcheinander, Shinichi", sagte sie unerwartet. Shinichi drehte den Kopf zu ihr.
"Was?"
"Gleich am Anfang. Du hast gesagt, du wärst etwas durcheinander. Das stimmte nicht. Du warst vollkommen durcheinander."
Sie hatte also das ganze Gespräch mitverfolgt, sie hatte sich ihre Gedanken dazu gemacht. Aber kein Wort gesagt.
Shinichi beliess es vorerst bei einem Schweigen und legte seine Wange wieder auf Rans Kopf.
"Weisst du, die Angst ruft bei vielen Menschen wirre Gedanken hervor. Bei mir war das nicht anders." Ran seufzte, und Shinichi fuhr fort. "Ich habe Angst um die Kleinen, und ich habe Angst um dich. Ich fühlte mich schon lange nicht mehr so schutzlos."
"Dann bitte Megure um Polizeischutz."
"Schon erledigt. Er hat bereits ein Sonderkommando um unser Zuhause aufstellen lassen. Megure hat mir versprochen, dass uns diese Nacht nichts geschieht. Aber trotzdem bleibt dieses Gefühl. Wie kann man so etwas auch nur versprechen?" Shinichi schüttelte leicht den Kopf und dachte wieder ans Gespräch von vorhin. Es dauerte länger als gedacht.
"Ich hoffe, ich hab den Kindern nicht zu hart zugesetzt", murmelte Shinichi.
"Mach dir keine Sorgen, sie sind stark", munterte Ran ihn auf. "Sie werden das schon verarbeiten."
Rans Optimismus steckte Shinichi an, und er lächelte.
"Natürlich. Sie sind schliesslich unsere Sprösslinge."
Ran seufzte erleichtert auf und kuschelte sich noch mehr an Shinichi.
Der restliche Abend verlief ereignislos, denn die Zwillinge lagen schon im Bett und Ran und Shinichi genossen ihre Zweisamkeit.
Obwohl Shinichi Jr. zuvor gegähnt hatte, konnte er nicht schlafen. Seiner Schwester ging es genauso, ihre Gedanken liessen sie einfach nicht an Schlaf denken. Sie wussten jetzt, dass sie in Gefahr waren. Diese Kerle könnten sie entführen, um an ihren Vater ranzukommen. Aber falls das wirklich eintreten sollte, stellte sich die Frage nach dem Wann. Morgen? Übermorgen? Nächste Woche? Vielleicht sogar diese Nacht noch?
Kapitel 6: Männer in Schwarz
Schweissgebadet schrak Shinichi wieder hoch und presste die Hand auf seine Stirn. Schon wieder dieser verfluchte Alptraum!
Er hatte grosse Lust, irgend etwas zu zertrümmern, und das erste, was griffbereit war, war der Funkwecker, der unschuldig neben seinem Kopfkissen auf den Nachttischchen stand. Shinichi packte ihn und holte aus.
"Shinichi?"
Rans müde Stimme drang an sein Ohr. Sofort liess er den Wecker sinken und sah sie an. Ihre Augen blitzten vorwurfsvoll.
"Wolltest du gerade meinen Wecker zerstören?"
Ohne eine Antwort abzuwarten, stellte sie eine weitere Frage.
"Es ging um uns, nicht wahr?"
"Ja..." Shinichi schälte sich aus seiner Decke, stand auf und trat ans Fenster. Draussen war es immer noch stockdunkel.
"Komm zurück ins Bett", bat Ran und liess sich wieder zurückfallen. "Du musst noch etwas schlafen."
Shinichi warf erst einen Blick auf seine Frau, dann auf den Wecker, und schliesslich sah er wieder aus dem Fenster. Er wusste, dass seine Nacht jetzt vorbei war. Es war halb drei Uhr morgens.
Mit einem Seufzen warf sich Shinichi seinen Morgenmantel über, liess Ran weiterschlafen und ging die Treppe runter. Auf halbem Wege jedoch machte er kehrt und holte seine Waffe aus dem Nachttischchen. Man konnte nie wissen. Mit der Pistole in Reichweite fühlte sich Shinichi gleich etwas sicherer. Er kniete sich vor das Wohnzimmertischchen und starrte die Akten der Fälle, die er am vorigen Abend dort hingelegt hatte, noch lange an.
"Shinichi?"
Der Angesprochene riss den Kopf hoch und griff sofort zur Pistole. Als Shinichi jedoch erkannte, dass Ran ihm gegenüberstand, liess er die Waffe sofort sinken.
"Hast du mir vielleicht einen Schrecken eingejagt", sagte Shinichi atemlos und rieb sich die Augen. Er hatte doch tatsächlich wieder geschlafen. Die oberste Akte bezeugte, dass Shinichi den Blätterstapel als Kopfkissen missbraucht hatte.
"Kommst du was essen? Ich mache gleich Frühstück."
"Ich...", begann Shinichi, doch Ran unterbrach ihn.
"Bitte. Du hast gestern nichts mehr gegessen, du bist bestimmt schon halb am Verhungern. Komm."
Shinichi stand ächzend auf. Er hätte nicht kniend und mit dem Kopf auf dem Tisch schlafen sollen. Aber er war ja selber schuld, er hätte einfach liegen bleiben sollen. Oder besser, auf den Rat seiner Frau hören und wieder ins Bett steigen sollen.
'Kann man eben nichts machen', dachte Shinichi, streckte sich erst mal richtig durch und betrat dann die Küche. Ran hatte ihm bereits ein Glas kalten Orangensaft hingestellt, und kaum hatte er es ausgetrunken, trat Ran zu ihm und küsste ihn leidenschaftlich.
Sie lösten sich gerade wieder voneinander, als die Zwillinge runtergepoltert kamen.
"Morgen Mum! Dad, du siehst schrecklich aus!"
"Guten Morgen, ich hab einigermassen gut geschlafen und ich fühlte mich schon besser, danke der Nachfrage", meinte Shinichi sarkastisch und sah seinen Sohn an, der mit verstrubbelten Haaren und noch ziemlich verschlafen vor ihm stand.
Normalerweise hätte Shinichi Jr. jetzt eine bissige Bemerkung zurückgeworfen, aber ihm fiel wieder ein, was sein Vater ihm und seiner Schwester am Vorabend erzählt hatte. Er wurde ernst, und auch Reika hörte auf zu lachen.
"Geht's dir wirklich gut?"
Shinichi seufzte. "Nein. Mir geht's nicht gut. Und wenn ich daran denke, was heute noch alles passieren könnte, wird mir schlecht."
"Dann solltest du nicht an Heute denken", sagte Shinichi Jr.
"Und wie bitte soll ich das anstellen?", gab Shinichi gereizt zurück, ehe er innehielt. Jetzt war es denkbar ungünstig, sich zu streiten. Shinichi sah seinen Sohn entschuldigend an. "Tut mir Leid, ich wollte nicht..."
"Schon gut. Du kannst ja nichts dafür."
Stille. Reika und ihr Bruder sahen ihre Mutter an, Ran sah zu Shinichi, aber der sah auf den Boden. Allerdings war er der erste, der wieder sprach.
"Ich gehe mich umziehen."
Shinichi Jr. hatte den Blick gesenkt, als sein Vater an ihm vorbeiging, doch dann fixierte er seine Mutter.
"Dad muss noch lange wach gewesen sein. Er tut mir leid."
"Mir auch", fügte Reika hinzu. "Irgendwie möchte ich gar nicht mehr wissen, was in dem Buch steht."
Ran wusste darauf nichts zu antworten, also überbrückte sie die Zeit, bis Shinichi wieder in die Küche kam, um ihm ein Brot zu streichen. Am Frühstückstisch wurde nun still gegessen. Shinichi betrat den Raum wieder und rubbelte sich kurz durch die noch feuchten Haare. Dankbar nahm Shinichi Ran das bestrichene Brot aus der Hand und biss hinein.
Und dann klingelte es an der Tür. Shinichi und Ran sahen sich an.
"Ich geh schon!", rief Reika fröhlich und stand auf.
"Du bleibst, wo du bist!", kam es aufgebracht von Shinichi. "Wer weiss, wer draussen steht!"
Die Vorstellung, dass Gin vor seiner Haustür stand und einfach klingelte war absurd. Aber trotzdem denkbar.
Der Fall, dass ein Killer an der Haustür seines Opfers klingelte kam bisher noch nie vor. Aber was nicht war, konnte ja noch werden.
Es klingelte erneut, diesmal stürmischer.
Reika warf einen verängstigten Blick auf ihren Vater und wich zurück.
Shinichi spähte durch den Türspion und was er erblickte, war ein ockerfarbener Hut. Das Gesicht konnte Shinichi nicht sehen, denn der Besucher war kleiner als er. Shinichi atmete kurz auf, denn sowohl Gin als auch Wodka waren grösser als er. Shinichi wusste, wer es war. Inspektor Megure. Shinichi warf noch mal einen Blick durch den Spion, um wirklich sicher zu gehen. Jetzt bemerkte er, dass Megure nicht allein war. Hinter ihm standen zwei Männer in schwarzen Anzügen und schwarzen Hüten. Der kleinere von ihnen trug eine Sonnenbrille.
Shinichi brach der Angstschweiss aus. Er wurde kreideweiss und seine Knie drohten unter seinem Gewicht einzuknicken. Sie waren da. Standen vor seiner Tür. Keine zwei Meter von ihm entfernt. Nur getrennt durch einen menschlichen Körper und einer Holztür.
Shinichi trat langsam einen Schritt zurück und deutete seiner erstaunten Familie wortlos, dass sie sofort nach oben gehen sollten. Ran nickte nur und zog die Zwillinge mit sich. Als Shinichi sah, dass sie ausser Reichweite waren, holte er schnell die Pistole, die noch immer auf dem Wohnzimmertischchen lag. Er entsicherte sie und trat wieder an die Tür.
Es klingelte wieder, doch anscheinend hielt der Besucher den Klingelknopf jetzt so lange gedrückt, bis jemand die Tür öffnete oder die Klingel ganz einfach kaputtging.
Urplötzlich verspürte Shinichi ein Gefühl, das er schon lange vermisst hatte. Mut. Jetzt war die Zeit gekommen, seine Familie zu beschützen. Jetzt war es Zeit, anzugreifen!
Shinichi trat an die Tür, drehte den Schlüssel um und drückte kurz die Klinke nach unten. Anschliessend drückte er sich flach an die Wand und wartete mit vorgehaltener Pistole. Ein Windstoss stiess die Tür etwas auf und nach einem kurzen Zögern trat Inspektor Megure zusammen mit seinen Begleitern ein. Die aufschwingende Tür verbarg den Besitzer des Hauses.
"Shinichi?"
Megures Stimme hallte besorgt durch den Eingangsbereich. Sofort schnellte Shinichi aus seinem halbwegs vernünftigen Versteck hervor und stürzte sich wild entschlossen auf die beiden schwarz gekleideten Männer. Sogleich entstand ein Handgemenge, an dem Megure jedoch nicht beteiligt war. Er beobachtete alles mit offenem Mund und unfähig, ins Geschehen einzugreifen.
Durch Shinichis Adern pulsierte Adrenalin, und nach nur wenigen Augenblicken hatte er es geschafft, den grösseren Mann zu Boden zu werfen und ihm die Pistolenmündung schussbereit an die Stirn zu halten.
Kurz bevor Shinichi den Abzug betätigte, fiel es ihm auf. Das waren nicht die eiskalten blauen Augen, die ihn jahrelang in seinen Alpträumen verfolgt hatten. Es waren keine blonden Haare. Der Mann hatte auch nicht das gehässige Grinsen aufgesetzt. Im Gegenteil, er sah Shinichi zutiefst erschrocken und fast flehend an. Kurzum: Es war gar nicht Gin. Und der andere war auch nicht Wodka. Es waren zwei für Shinichi völlig fremde Menschen.
Shinichi stand langsam und zitternd auf und torkelte ein paar Schritte rückwärts. Die Pistole fiel ihm aus der Hand. Seine Augen suchten Megures Blick, und als dieser lächelnd nickte, knickten Shinichis Knie vor Erleichterung ein. Somit kniete er vor den fremden Männern, die Hände am Boden, den Kopf hängend.
Shinichi benötigte einige Augenblicke, um sich von dem Schock zu erholen, doch er machte keine Anstalten, aufzustehen. Er sah nicht mal auf.
"Megure, warum tun Sie mir das an?"
Der Angesprochene stutzte. "Was meinst du?"
"Sie waren doch dabei, am Schluss. Die Kerle waren allesamt schwarz gekleidet." Shinichi sah endlich auf. "Sie hätten doch wissen müssen, dass ich beim Anblick von denen hier in Panik gerate!" Shinichi deutete auf die beiden Männer und stand wieder auf.
Das hatte Megure total vergessen und er entschuldigte sich gleich mehrmals bei Shinichi.
"Wenn ich sie dir trotzdem vorstellen darf, begann Megure und zeigte auf den grösseren der beiden. "Das ist Sakamoto, und der andere heisst Ogawa. Sie sind heute deine Bodyguards."
Shinichi musterte sie verächtlich.
"Ihr wollt meine Leibwächter sein? Warum konnte ich dann vorhin einen von euch überwältigen und fast erschiessen?"
Ogawa, dem kleineren Mann, fiel die Kinnlade runter.
"Soll das heissen, dass das ein Test war?"
"Nein, verdammt! Mir brannten die Sicherungen durch! Weil ihr schwarz angezogen seid! Ich hatte panische Angst! Und ihr unterstellt mir, es wäre ein Test gewesen!"
Shinichi musste kurz tief einatmen, ehe er sich an den Inspektor wandte.
"Megure, woher haben Sie diese Leute?"
"Sie sind ausgebildete Leibwächter, und sie haben zusätzlich eine spezielle Ausbildung bekommen, um dich zu schützen."
'Bodyguards werden Gin und Wodka nicht daran hindern können, mich zu erschiessen', dachte Shinichi, doch er sprach es nicht aus. Stattessen fixierte er den Inspektor.
"Wenn ein ihnen körperlich unterlegener Mann es schafft, sie zu überwältigen, dann zweifle ich ernsthaft an ihren Fähigkeiten", sagte Shinichi und winkte Ran zu sich, die gerade am oberen Treppenansatz auftauchte. Sie wusste, dass keine Gefahr bestand, denn immerhin hatte Shinichi einen sehr giftigen Ton angeschlagen. Trotzdem wollte sie sehen, was eigentlich los war.
"Ja, da hast du Recht", gab der Inspektor zu und erklärte Ran kurz den Sachverhalt, als sie ihn fragend ansah. Dann wandte er sich wieder deren Mann. "Aber du hast ihnen einen gehörigen Schrecken eingejagt, Shinichi."
"Ein ausgebildeter Bodyguard muss auf jede Situation vorbereitet sein. Auf jede! Ausserdem haben sie mich mehr in Schrecken versetzt als ich sie!"
"Ach wirklich?", knirschte Sakamoto. "Sie haben mich fast umgebracht!"
Shinichi stieg die Zornesröte ins Gesicht und er warf Sakamoto einen vernichtenden Blick zu.
"Selber schuld!"
Nicht mal sein Sohn übertraf Shinichis momentanes freches Mundwerk, und Ran musste sich sehr zusammenreissen, um ihrem Mann nicht den Ellbogen in die Seite zu stossen.
Doch irgendwie hatte Shinichi Recht. Wären die Männer nicht schwarz angezogen, wäre das alles gar nicht passiert.
Wie dem auch sei", sagte Sakamoto um sich zu beruhigen. "Wir sollten jetzt gehen."
Shinichi sah ihn verständnislos an. "Was sollten wir?"
"Gehen!", wiederholte Sakamoto.
"Wohin?"
"Zur Arbeit", erklärte Inspektor Megure. "Wir haben einen komplizierten Fall, und wir benötigen deine Mitarbeit. Dringend."
"Kann ich das nicht von zu Hause aus machen?", fragte Shinichi mürrisch und kriegte schon feuchte Hände beim Gedanken, sich draussen auf der offenen Strasse aufzuhalten.
"Geht leider nicht. Du musst den Tatort besichtigen, denn dir fallen Details auf, an die wir nicht einmal denken, selbst wenn sie uns ins Gesicht springen. Bitte, Shinichi. Ohne dich sind wir aufgeschmissen."
Inspektor Megure sah Shinichi bittend an, doch der hatte keinerlei Interesse, sein sicheres Heim zu verlassen.
"Wir glauben nicht, dass Gin und Wodka Sie heute töten werden", meldete sich Ogawa zu Wort.
"Woher willst du das wissen?", fragte Shinichi gehässig. Er legte noch immer keinen Wert auf Höflichkeit, deshalb siezte er den Mann auch nicht.
"Sie brachen erst vorgestern aus dem Gefängnis aus, sie müssen sich erst organisieren und einen Plan machen, um an Sie... heranzukommen, Herr Kudo."
"Wie ich sie kenne, haben sie das bereits getan. Es ist also nur noch eine Frage der Zeit, bis sie mich kriegen werden. Was ich aber nicht hoffe. Ausserdem hab ich keine Lust, so lange zu warten. Ich hab keine Lust, auf sie zu warten. Und ich hab keine Lust, mich umbringen zu lassen. Deshalb bleib ich heute zu Hause. Basta."
"Die Tatsache, dass du die meiste Arbeit im Polizeipräsidium erledigen kannst, bringt dich auch nicht dazu, mit uns zu kommen?", versuchte Megure einen neuen Versuch.
"Was fällt Ihnen eigentlich ein?", mischte nun endlich Ran lautstark in die Diskussion ein. "Shinichi soll umgebracht werden! Und sie bestehen darauf, dass er sich auf dem silbernen Tablett präsentiert! Wie können Sie nur?"
"Ran hat Recht", pflichtete Shinichi ihr bei. "Sie hat ganz Recht. Würde ich mit Ihnen gehen, würde ich mich selber ausliefern. Und überhaupt. Was ist so wichtig an diesem Fall, dass ich ihn lösen muss?"
Nun spielte Megure den letzten Trumpf aus.
"Weil der Fall etwas mit Gin und Wodka zu tun hat."
"Was?", fragte Ran laut und warf einen besorgten Blick ins Gesicht ihres Mannes, das wieder deutlich an Farbe verloren hatte.
"So ist es leider. Sie haben jemanden getötet und mit dessen Blut eine Nachricht neben der Leiche hinterlassen."
"Was haben Sie geschrieben?", fragte Shinichi leise.
"Ich möchte, dass du dir das selber ansiehst. Ran braucht es nicht unbedingt zu erfahren", fügte Megure flüsternd hinzu. Shinichi liess die Schultern hängen und seufzte.
Somit war der Fall klar. Shinichi würde mitgehen. Und dafür hasste er den Inspektor.
"Ich bin zum Mittagessen wieder zu Hause", sagte Shinichi plötzlich zu Ran und umarmte sie.
"Aber Shinichi, der Fall...", warf Megure ein.
"Ich bin zum Mittagessen wieder zu Hause", wiederholte Shinichi klar und deutlich. Wenn er schon gehen musste, dann wollte er zumindest bestimmen, wann er wieder zurückkam.
Ran drückte sich fest an Shinichi. Ihr war klar, dass sie ihn nicht zurückhalten konnte, also liess sie ihn gehen. Wenn auch widerwillig. Dann wandte sich Shinichi an seine Kinder, die vorher auf der Treppe Platz genommen und den Schluss der Unterhaltung mitbekommen hatten.
"Shinichi, Reika, ich möchte, dass ihr euch in der Schule benehmt. Ich will keine Reklamationen hören. Habt ihr verstanden?"
Reika sprang mit Tränen in den Augen auf und umarmte ihren Vater.
"Komm heil wieder zurück!", schluchzte sie.
"Ich werde sehen, was ich tun kann."
Nun trat Shinichi Jr. hinzu. Er schenkte seinem Vater ein aufmunterndes Lächeln.
"Lass nicht zu, dass sie dich kriegen. Ich brauch dich nämlich noch. Wir alle brauchen dich noch. Ausserdem hast du mir zu meinem 17. Geburtstag ein Motorrad versprochen."
Shinichi hob eine Augenbraue. "Hab ich das?"
"Nein, natürlich hast du nicht", gab Shinichi Jr. zu und musste sich kurz über die Augen wischen. "Komm einfach wieder zurück. Wenn möglich nicht als Leiche."
Shinichi nickte.
"Damit das nicht passiert, haben wir dir eine schusssichere Weste mitgebracht", versuchte Megure die Anwesenden aufzumuntern. Er sah sich um. "Wo ist sie überhaupt?"
Sakamoto meldete sich. "Draussen im Wagen."
Shinichi stöhnte genervt auf und musste sich den Kopf halten. So viel Dummheit verursachte bei ihm Kopfschmerzen.
"Nur die Ruhe, Herr Kudo. Sie können sie draussen anzieh... Ich meine, ich hole sie gleich herein", unterbrach sich Ogawa selber und holte die Weste.
Shinichi wandte sich an Megure.
"Sie sagten, sie wären extra für meinen Schutz ausgebildet worden?", fragte Shinichi zur Sicherheit nach.
"Ja, so ist es", gab Megure zurück und musterte den Detektiven besorgt.
Shinichi verdrehte die Augen. Das konnte ja heiter werden, der Vormittag mit diesen Witzfiguren. Und die sollten für seine Sicherheit sorgen? Da konnte er sich ja gleich eine grosse Zielscheibe auf die Brust malen und so lange draussen herumlaufen, bis er erschossen wurde! Oder er könnte sich gleich selber die Pistole an den Kopf halten und abdrücken. So wäre wenigstens gewährleistet, dass er nicht lange leiden musste. Shinichi schloss die Augen und versuchte durch ganz bewusstes Atmen, sich zu beruhigen. Nein, an so was sollte er nicht denken. Durfte er nicht denken!
Endlich kam Ogawa mit der Weste zurück und Shinichi verschwand mit ihr kurz in der Küche, um sie anzuziehen. Er hatte keine Lust, ihnen beiden und auch Megure seine Narben zu zeigen.
"Also, können wir gehen?", drängte der Inspektor und packte Shinichi am Oberarm, kaum war er wieder bei ihnen. Shinichi befreite sich sofort aus dem Griff. Warum nur drängte der Inspektor so? Ihm konnte es wohl nicht schnell genug gehen, bis Shinichi ins Gras biss. Er grummelte.
Nun umarmte Ran ihn wieder und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.
"Pass bitte auf dich auf, ja? Und komm unverletzt wieder zurück. Wir warten auf dich."
Shinichi nickte, drückte sie noch einmal fest an sich und warf anschliessend seinen Kindern einen letzten Blick zu.
Und dann war Shinichi weg.
Kapitel 7: Das Buch der Erinnerungen
Wie angekündigt stand Shinichi um Punkt zwölf Uhr in seiner Villa. Er war heilfroh, als er die Schwelle übertreten und die Tür geschlossen hatte und er sich somit wieder im sicheren Haus befand.
"Dad!", jauchzte Reika und warf sich ihm sofort entgegen. Im Gegensatz zum letzten Mal konnte Shinichi den Sprung nicht abfangen, und kam es, wie es kommen musste: Shinichi landete samt Tochter unsanft auf dem Boden.
"Tut mir Leid", lachte Reika mit Tränen in den Augen und drückte sich fest an ihn. "Aber ich bin so froh, dass du noch lebst. Wirklich!"
Shinichi lächelte und setzte sich zusammen mit ihr auf.
"Das kann ich mir vorstellen. Eine solche Begrüssung hatte ich von dir noch nie! Na los, komm!" Shinichi stand auf und zog seine Tochter auf die Füsse.
Dann fiel sein Blick auf seine Ehefrau. Ran stand in der Küchentür und strahlte ihn an. Ihr liefen unaufhörlich Tränen der Erleichterung über die Wangen.
"Ran!" Shinichi ging eilig auf sie zu, und Ran kam ihm heulend entgegen.
"Shinichi! Oh mein Gott! Dir ist nichts passiert!" Sie klammerte sich so sehr an ihn, als wolle sie ihn nie wieder loslassen.
"Ran, wenn du mich weiter... Du erdrückst mich...", keuchte Shinichi und schnappte nach Luft, bis Ran sich endlich etwas von ihm löste.
"Du bist am Leben", sagte sie überglücklich.
"Ich bin am Leben", bestätigte Shinichi lächelnd und küsste sie lange, als ihm plötzlich ein gewisser Geruch in die Nase stieg. Er sah zur Küche, aus der der Geruch kam. "Ähm, Ran? Das Essen... brennt irgendwie an."
"Was?", fragte Ran verständnislos und folgte Shinichis Blick. "Oh nein!" Sofort eilte Ran in die Küche, um den Schaden zu beheben. Eine Gejammer-Litanei erklang.
Shinichi lachte leise in sich hinein. Normalerweise achtete Ran immer auf das Essen, aber heute... Na ja, es war ja auch kein Wunder. Die Familie hatte eben doch einen höheren Stellenwert.
Während Ran sich um das zum Teil angebrannte Essen kümmerte, sah Shinichi sich etwas in der Villa um. Ein Seufzen kam über seine Lippen. Seine Villa. Er hatte nicht mehr wirklich damit gerechnet, sie je wieder zu sehen. Dank Inspektor Megure und seinem Instinkt konnte er jedoch lebend und unversehrt nach Hause zurückkehren.
Reika hielt sich immer noch in seiner Nähe auf und zog unweigerlich Shinichis Aufmerksamkeit wieder auf sich. Sie wischte sich zum wiederholten Male die Tränen aus den Augen.
"Hast du keine Hausaufgaben?"
"Nein."
"Das glaube ich nicht."
"Musst du aber, weil es stimmt. Wir haben die Schule geschwänzt", sagte Reika breit grinsend. Als Shinichi empört den Mund aufmachte, fuhr sie schnell fort. "Mit der Erlaubnis von Mum. Sie sagte, es sei zu gefährlich draussen, und wir sollten lieber zu Hause bleiben."
Daran hatte Shinichi nicht gedacht. Wollte gar nicht daran denken. Aber er hatte es hier mit Gin und Wodka zu tun, zwei skrupellosen Killern, die sogar eine ganze Familie auslöschen würden, um ihre Rache zu kriegen. Das durfte er nicht vergessen. Es stand zu viel auf dem Spiel. Einfach zu viel. Ran handelte absolut richtig.
"Dad?", fragte Reika zögernd und musterte ihren Vater. "Hallo? Erde an Dad, bitte kommen!" Sie wedelte so lange mit der Hand vor seinem Gesicht herum, bis er sie ansah.
"Tut mir leid, ich war ganz in Gedanken."
"Das sah man dir deutlich an", gab Reika zurück.
"Wo ist eigentlich dein Bruder?"
"Der ist noch oben. Wahrscheinlich am Lesen."
"Von wem er das wohl hat?", fragte Ran ironisch und erschien wieder. "Dauernd dieses 'Lesen-bis-der-Arzt-kommt' vor dem Essen. Wenn das nicht bald aufhört, muss ich wohl mit dem Erzieher ein ernstes Wörtchen reden." Dabei funkelte sie Shinichi gespielt böse an, doch der sah cool zurück.
"Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Ich kann nichts dagegen tun."
Reika prustete los und drehte ihren Eltern den Rücken zu, damit sie ihr Gesicht nicht sehen konnten. Das war mal wieder so was von typisch von Shinichi, dass sie es hätte wissen müssen. Manchmal war Shinichi so durchschaubar, und manchmal war er ein Buch mit sieben Siegeln. Ein Fremder wäre aus ihrem Vater niemals schlau geworden, das wusste Reika. Und das machte sie stolz.
Auch Ran hatte ein Lächeln auf den Lippen.
"Das Essen ist angerichtet."
Sofort spurtete Reika in die Küche. Ran folgte ihr mit tänzelnden Schritten, nachdem sie ihrem Mann noch einen bittenden Blick zugeworfen hatte.
"Shinichi, Essen!", rief sein Vater, und kam somit einer seiner Pflichten nach. Er war immer zuständig dafür, die Kinder zum Essen zu rufen - sofern sie nicht schon halb verhungert am Tisch sassen. Shinichi stand unten an der Treppe und wartete, bis sich sein Sohn blicken liess.
Als der Shinichi sah, breitete sich ein Lachen auf seinem Gesicht aus und er rannte die Treppe nach unten. Auf halber Höhe der Treppe sprang er ab und warf sich freudestrahlend auf seinen Vater. Es geschah das Gleiche wie bei einer Schwester vorhin. Shinichi Jr. umklammerte Shinichi und riss ihn aufgrund des enormen Anlaufs mit voller Wucht zu Boden. Shinichi stiess sich hart den Kopf und dachte, für einen Moment das Bewusstsein verloren zu haben, was aber glücklicherweise nicht so war.
"Hallo Sohnemann. Ist was in der Schule passiert, dass du mich jetzt umbringen willst?", fragte Shinichi leise und rieb sich den schmerzenden Hinterkopf. Das gab später Kopfschmerzen und eine riesige Beule, da war er sicher.
"Nein! Was denkst du denn von mir? Ich bin überglücklich, dass dir nichts passiert ist! Und überhaupt: Wir waren nicht in der Schule."
Shinichi musste lächeln und strich seinem Jungen durch die Haare.
"Nun komm, das Essen ist fertig."
Shinichi Jr. stand auf und reichte seinem Vater die Hand. Der war aufgrund sich einstellender Kopfschmerzen noch nicht aufgestanden, und auch sonst bewegte er sich eher langsam. Shinichi Jr. wusste, woran das lag.
"Tut mir Leid."
"Schon gut", erwiderte sein Vater und warf ihm einen Blick zu, der heissen soll: 'Wenn du mich noch einmal zu Boden reisst, gibt's eine Kopfnuss!' Shinichi Jr. sah verlegen und leicht rot im Gesicht zu Boden.
Fünf Minuten später waren alle vier Kudos beim Essen.
"Sag mal, wie kommt es, dass deine beiden Bodyguards nicht mehr hier sind?", fragte Shinichi Jr., kaum hatte er den Bissen runtergeschluckt.
"Inspektor Megure hat sie buchstäblich zum Teufel gejagt", antwortete Shinichi und schöpfte sich etwas nach. "Alle beide." Die beiden Frauen am Tisch sahen ihn mit grossen Augen an, während Shinichi Jr. laut lachen musste.
"Erzähl!", forderte er.
"Als wir am Tatort waren, hatten die beiden Trottel nichts Besseres zu tun, als die Vögel zu beobachten und zu diskutieren, ob der Rabe ein Zugvogel ist oder nicht. Ausserdem hielten sie immer einen gewissen Abstand zu mir. Inspektor Megure fragte sie nach dem Grund, und jetzt ratet mal, was sie geantwortet hatten."
"Keine Ahnung. Sag schon!"
"Sie nannten es einen Sicherheitsabstand. Weil ich sie heute Morgen attackiert hatte."
"Dabei sollten sie dir doch so sehr auf der Pelle sitzen, dass du dich kaum mehr bewegen kannst, oder?", fragte Shinichi Jr.
"Ja. Das ist die Aufgabe von Leibwächtern", gab Shinichi zurück. "Sollte jedenfalls die Aufgabe sein."
"Haben sich die Killer blicken lassen?", fragte Reika leise.
"Wenn sie aufgetaucht wären, wäre ich jetzt nicht mehr hier." Reika wunderte sich, wie gefasst die Worte erklangen, doch sie spürte, dass noch etwas kommen musste, und sie hatte Recht. Shinichi fuhr fort.
"Plötzlich schreckte uns ein lauter Knall auf und ehe ich mich versah, warfen sich Inspektor Megure und einige andere Polizisten auf mich. Ihr wisst ja, wie füllig Megure ist, ich konnte sein Gewicht also nicht halten. Er und die anderen rissen mich zu Boden und vergruben mich unter ihnen. Irgendwie wurde ich heute ungewöhnlich oft zu Boden gerissen", fügte Shinichi hinzu und warf seinen Kindern einen verheissungsvollen Blick zu. Diese lächelten schuldbewusst.
"Erzähl weiter", bat Ran. Das Essen auf ihrem Teller war bereits kalt, doch das störte sie nicht im Geringsten. Shinichis Geschichte war viel spannender als der Tellerinhalt.
"Durch ihre Körper war ich vor eventuellen Kugeln geschützt, und sie brachten mich auch schnell ins Polizeipräsidium zurück. Es stellte sich heraus, dass der Knall von einem einzelnen Feuerwerkskörper stammte, doch das interessierte mich in jenem Moment nicht. Stellt euch das doch mal vor! Ein riesiger Haufen bestehend aus Polizisten, von denen die meisten nicht gerade Fliegengewichte waren, und wer liegt unter ihnen? Ich!"
"Das hätte ich zu gerne gesehen", lachte sein Sohn und klopfte ihm auf die Schulter.
"Das kann ich mir denken. Jedenfalls bin ich froh, dass ich mir keine Rippen gequetscht habe. Ich hab schon genug Sorgen, die mich quälen, da kann ich demolierte Rippen nicht gebrauchen."
"Und was haben die beiden Bodyguards gemacht?", fragte Ran. Bingo. Der Knackpunkt.
"Das ist es ja! Nichts!", regte Shinichi sich auf.
"Wie, 'nichts'?"
"Sie haben nichts gemacht. Nur blöd zugeschaut. Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, wie sauer Megure auf sie war. Da wurden sie extra für meine Sicherheit ausgebildet, und dann so was!"
"Dummheit macht sich nicht bezahlt", bemerkte Shinichi Jr. und grinste.
"Als wir im Präsidium angekommen waren, jagte Megure sie höchstpersönlich wieder raus. Er warf ihnen sogar noch einen Stiftständer samt Inhalt hinterher, der Ogawa am Kopf traf."
Shinichi Jr. konnte sich nicht mehr halten, er lachte schallend los, und Reika stimmte mit ein.
"Was für Idioten! Ich krieg mich nicht mehr ein!"
Shinichi senkte den Blick und sah auf seinen Teller.
"Es ist pures Glück, dass ich noch lebe", sagte er so leise, dass nur Ran ihn verstand. "Wären Gin und Wodka wirklich aufgekreuzt, könntest du mich jetzt im Leichenschauhaus besuchen."
"Ach was! Du hast den Morgen überlebt, also wirst du auch den Nachmittag überleben. Und den morgigen Tag natürlich auch." Rans Lächeln munterte Shinichi etwas auf.
Kurze Zeit später sassen Ran und Shinichi alleine am Tisch. Als Ran das Geschirr wegräumen wollte, hielt Shinichi sie zurück.
"Lass es, ich mach das schon. Oder willst du meine Hilfe nicht?"
"Wann musst du wieder gehen?", stellte Ran die Gegenfrage.
"Morgen früh, wenn überhaupt", antwortete Shinichi wahrheitsgemäss. Ran sah ihn erstaunt an.
"Du meinst, du-?"
"Ich bleibe den Nachmittag über zu Hause. Ich bleibe bei dir."
Ran öffnete erfreut den Mund, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Also schloss sie ihn wieder und fiel Shinichi stattdessen um den Hals.
"Du weisst gar nicht, wie glücklich mich das macht!"
"Oh doch, das weiss ich", gab Shinichi grinsend zurück.
"Na gut, wenn du denkst, du weisst es so genau", sagte Ran und setzte sich Shinichi gegenüber wieder an den Tisch. "... dann kannst du ja jetzt die Küche aufräumen."
"Och, hilfst du mir nicht?", gab Shinichi gespielt schmollend zurück.
"Lass mich überlegen..." Ran legte einen Finger an ihr Kinn und sah zur Decke. Dann blickte sie wieder Shinichi an. "Nein." Nach einem Lachen fügte sie hinzu: "War doch nur Spass!" Grinsend stand sie auf und nahm Shinichi den Stapel Teller aus den Händen. "Lass mich nur machen, geh du zu den Kindern. Immerhin bist du ihnen noch was schuldig, wenn ich mich recht erinnere. Weisst du eigentlich noch, wo du es versteckt hast?"
"Ich... ja, jetzt weiss ich es wieder!" Shinichi griff sich an die Stirn. "Wie konnte ich das nur vergessen?"
"Um nicht dauernd daran erinnert zu werden", sagte Ran und traf so den Nagel auf den Kopf. "Na los, hol dieses Ding und dann ab zu den Zwillingen."
Mit einem Seufzen ging Shinichi ins Elternschlafzimmer hoch und öffnete zielstrebig die Schranktür.
Die nächste Viertelstunde verbrachte Shinichi mit Suchen. Er war sich sicher, dass er das Buch im untersten und hintersten Winkel des Schranks verstaut hatte, und doch... Es war nicht mehr da. Shinichi hatte niemandem verraten, wo er es versteckt hatte. Nicht einmal Ran wusste, wo das Versteck war. Also musste Shinichi es wohl oder übel suchen, um das Versprechen gegenüber seinen Kindern einlösen zu können.
Er öffnete eine Schublade nach der anderen, beförderte den Inhalt auf das Bett und den Boden und richtete dabei ein rekordverdächtiges Chaos an. Seine und Rans Klamotten langen kreuz und quer im ganzen Zimmer verteilt, doch Shinichi war das egal.
Gerade als er den Inhalt der letzten Schublade auf den Boden verfrachtet hatte, fiel Shinichis Blick auf ein in schwarzes Packpapier gebundenes Buch. Es lag am Boden gleich an der Wand. Und so ramponiert, wie es jetzt aussah, musste es an eine Wand geworfen worden sein. Einzelne Teile des Papiers waren zerfetzt, die ursprünglich dunkelblaue Farbe des Buches kam zum Vorschein, und man konnte unter dem Papier Stellen sehen, wo Shinichi das Buch damals mit einem scharfen Messer mehrmals attackiert hatte. Allerdings hatte er es nicht an eine Wand geschmissen. Nie. Vielleicht sollte er das nachholen? Shinichi hob es langsam vom Boden auf und betrachtete es nachdenklich. Es befanden sich neben den tiefen Kerben auch noch einzelne kleine braune Flecken darauf. Eingetrocknetes Blut. Sein Blut.
"Ich war's."
Erschrocken liess Shinichi das Buch fallen und drehte sich ruckartig um. Ran stand in der Tür und sah ihn entschuldigend an.
"Hä?"
"Ich war's", wiederholte Ran und deutete auf das Buch. "Ich hab's gestern gefunden, drin gelesen und schliesslich an die Wand geworfen." Ran kam auf ihn zu. "Warum hast du mir nicht gesagt, wo es ist?"
"Aus den Augen, aus dem Sinn", sagte Shinichi. "Warum hast du drin gelesen?"
"Ich weiss es nicht", gab Ran murmelnd zurück. "Aber ich musste wieder weinen. Weil ich dich damals verdächtigt habe, fremd zu gehen." Sie schluchzte plötzlich. "Dabei konntest du gar nichts dafür!"
"Ran, bitte", versuchte Shinichi sie zu beruhigen und umarmte sie. Er wusste genau, welche Stelle sie gelesen hatte; Der Teil mit dem Sonnenbrand. "Du hast dich dafür bei mir mehrmals entschuldigt, dabei musstest du das gar nicht. Vergiss es einfach, okay? Es macht dich nur kaputt."
"Und dich ebenfalls. Kaum sind diese Kerle wieder aufgetaucht, schon bestimmen sie wieder dein Leben."
Shinichi schwieg. Er wusste, dass Ran Recht hatte. In solchen Sachen hatte sie immer Recht. Er senkte den Blick zu Boden und sah das Buch an, das momentan ganz unschuldig vor seinen Füssen lag.
Ran hatte wortlos ihr Gesicht in Shinichis Hemd vergraben. Einige Minuten lang standen sie still da, bis sich Shinichi von ihr löste und das Buch wieder aufhob.
"Ich werde jetzt mein Versprechen einlösen."
"Dad? Du kommst genau richtig", wurde Shinichi begrüsst, kaum hatte er das Zimmer seiner Tochter betreten. Shinichi Jr. war ebenfalls da, und Shinichi sah, dass sie über Schulaufgaben brüteten. Er wusste natürlich, dass die Zwillinge ihre Hausaufgaben immer zusammen erledigten.
"Ich dachte, ihr hättet keine Hausaufgaben?", fragte Shinichi und blieb bei der Tür stehen.
"Bis vor kurzem war das auch noch so, aber wir haben von unserem Lehrer eine E-Mail mit den Aufgaben gekriegt. Bis morgen müssen wir sie erledigt haben."
Shinichi verzog das Gesicht.
"Dann hat der Lehrer aber etwas vergessen."
"Was denn?"
"Dass ihr morgen nicht in die Schule geht. Zu gefährlich. Und damit meine ich jetzt nicht den Unterricht, sondern die Umstände. Mit anderen Worten: Ihr werdet das Haus nicht mehr verlassen, bis diese ganze... Sache vorbei ist."
'Das hätte ich schon heute Morgen sagen sollen, ich Idiot', dachte Shinichi sich. 'Aber zum Glück ist nichts passiert.'
"Das ist nicht dein Ernst, oder?", fragte Shinichi Jr. begeistert.
"Doch, das ist mein voller Ernst."
"Keine Schule mehr! Juhuu!"
"Nicht so voreilig, junger Mann. Die Hausaufgaben erledigt ihr aber trotzdem, klar?" Der Ton in Shinichis Stimme duldete keinen Widerspruch, das spürte Reika sofort, und das Lachen verschwand aus ihrem Gesicht. Ihr Bruder sah aus, als ob er gleich anfangen würde zu heulen. Mist. Leicht grummelnd wandte sich Reika wieder den Schularbeiten zu.
"Wo waren wir stehengeblieben?", fragte sie dann, eher zu sich selbst.
"Ihr wolltet mich etwas fragen", antwortete Shinichi und trat näher zu ihnen.
"Ja, stimmt. Vielleicht kannst du uns helfen, denn bei einer Rechenaufgabe bekommen wir immer wieder ein anderes Resultat", erklärte Reika. Shinichi legte das blauschwarze Buch auf das Bett seiner Tochter, setzte sich sie und zog das Mathematikbuch zu sich heran.
"Einmal hattet ihr das richtige Resultat, seht ihr?", sagte Shinichi kurze Zeit später und erklärte den beiden, was sie falsch gemacht hatten.
"Oh Mann, dabei war das so einfach!", grummelte Shinichi Jr. und warf seinen Stift auf sein Pult. "Punkt vor Strich! Logisch! Mann!"
"Jetzt wisst ihrs wenigstens."
"Warum bist du eigentlich gekommen?", fragte Reika und drehte sich zu ihrem Vater um.
"Um mein Versprechen einzulösen." Shinichi legte das Buch vor den beiden aufs Pult. Sofort blieben ihre Blicke daran hängen.
"Ich möchte es dann wieder zurück, ja?", sagte Shinichi und stand auf. "Und seid nicht zu sehr bestürzt über den Inhalt. Ihr wolltet es ja lesen." Shinichi warf ihnen aber trotzdem einen aufmunternden Blick zu und verliess dann das Zimmer. Er lehnte sich noch kurz an die geschlossene Tür und liess den Kopf hängen. Shinichi wollte nicht dabei sein, wenn sie im Buch lasen. Er wollte nicht diesen gewissen Ausdruck in ihren Augen sehen. Es reichte, wenn sie ihm nachher mit fassungslosen Gesichtern gegenüberstanden.
Kaum hatte Shinichi das Elternschlafzimmer wieder betreten, half er sofort seiner Frau, das von ihm angerichtete Durcheinander zu beseitigen.
"Warum hast du dich hier nicht umgesehen, bevor du unsere ganzen Klamotten im Zimmer verteilt hast?", fragte Ran leicht sauer und faltete einen ihrer Pullover wieder zusammen. "Du hättest es doch gleich sehen müssen."
"Warum hast du mir nicht gesagt, dass du es gefunden hast?", gab Shinichi zurück und stopfte seine vorher schön getrennten Shorts und Socken einfach in dieselbe Schublade. Ran warf ihm einen missbilligenden Blick zu, doch Shinichi ignorierte ihn und warf zu den Shorts und den Socken zusätzlich noch zwei zerknüllte Unterhemden. Er wartete auf eine Antwort.
Mit einem Seufzen meldete sich Ran wieder.
"Ich weiss es nicht. Ich weiss nicht, was mich da geritten hat. Tut mir Leid."
"Ach was. Ich war derjenige, der blind genug war, das Buch nicht zu sehen. Aber da ich weiss, dass du dich nicht gerne mit mir streitest, belassen wir es dabei, okay?"
Shinichis Worte zauberten ein Lächeln auf Rans Gesicht, und mit deutlich mehr Elan ging sie an das Aufräumen heran. Diese Arbeit beanspruchte fast den ganzen Nachmittag, und ehe sie beide es sich versahen, war es auch schon nach fünf Uhr. Bald Zeit fürs Abendessen.
"Ich gehe jetzt kochen, mach du bitte hier noch fertig, ja?"
"Ist gut, Schatz", sagte Shinichi und legte die letzte Schublade aufs Bett. Der Nachmittag verlief wider Erwarten ruhig und bis vorhin hatten sie einiges der Schubladeninhalte aussortieren und schliesslich wegschmeissen können. Eigentlich wollte Shinichi das jetzt auch noch machen, doch es blieb beim Wollen, denn er hatte keine Lust mehr. Also warf er alles übrig Gebliebene einfach in die letzte Schublade, schob sie zurück in die Kommode und warf sich rücklings aufs Bett. Fertig aufgeräumt. Shinichi war müde. Todmüde.
"Dad?"
Reika streckte den Kopf ins Zimmer und sah ihren Vater regungslos auf dem Bett liegen. Sofort war Reika in Alarmbereitschaft.
"Dad!"
Shinichi grummelte im Schlaf und drehte seiner Tochter den Rücken zu.
"Musst du mich so erschrecken?", murmelte Reika erleichtert und zog leise die Tür hinter sich wieder zu.
"Er schläft", antwortete Reika auf die unausgesprochene Frage ihrer Mutter. Ran überraschte das nicht, denn sie wusste, dass Shinichi müde war. Also liess sie ihn in Ruhe und ass mit den Kindern bereits zum zweiten Mal alleine zu Abend.
Shinichi kam auch später am Abend nicht mehr runter. Die Kinder hatten sich gemeinsam in Reikas Zimmer verschanzt und Ran ging ins Elternschlafzimmer hoch, um nach ihrem Mann zu sehen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass er nicht mehr schlief. Tatsächlich lag Shinichi bereits dick eingemummt im Bett und liess sich den Tag Revue passieren. Am meisten jedoch beschäftigten ihn der Fall, der ihn den Morgen gekostet hatte, und die Nachricht, die am Tatort hinterlassen wurde.
"Shinichi?"
Ran setzte sich auf den Bettrand und zog etwas die Decke weg, damit sie Shinichi ins Gesicht sehen konnte. Shinichi drehte den Kopf zu ihr.
"Was ich dich schon den ganzen Nachmittag fragen wollte", begann Ran und zögerte kurz, ehe sie dann doch weitersprach. "Welche Nachricht haben Gin und Wodka neben der Leiche hinterlassen?"
"Das willst du nicht wissen, glaub mir", gab Shinichi als Antwort zurück und gähnte.
"Doch, das will ich jetzt wissen."
Shinichi seufzte.
"'Wir kriegen dich, Kudo.' Das haben sie geschrieben."
Ran sah Shinichi einen Moment lang verstört und besorgt an. Shinichi hatte Recht.
"Stimmt. Das wollte ich wirklich nicht wissen."
Mehrere Minuten lang starrte Ran wortlos zu Boden, während sich Shinichi wieder weggedreht hatte.
"Ach übrigens. Inspektor Megure hat die Wachposten um unsere Villa verstärkt", sagte Shinichi um Ran etwas zu beruhigen, was auch gelang.
"Gut." Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter. "Ich nehme an, du kommt nicht mehr runter was essen, oder?"
"Nein. Ich hab keinen Hunger. Tut mir Leid, Ran."
Sie seufzte und stand auf. "Ich muss wieder runter, aber ich werde auch bald ins Bett kommen. War ein anstrengender Tag."
Nachdem Ran die Küche fertig aufgeräumt hatte, ging sie noch kurz zu den Zwillingen.
"Euer Vater ist bereits im Bett, und ich werde mich auch gleich zurückziehen. Macht bitte nicht mehr allzu viel Lärm, wenn ihr noch was wollt. Seid so gut, ja?"
"Ist gut, Mum. Gute Nacht!"
"Schlaft gut!"
Kaum hatte ihre Mutter die Zimmertür hinter sich geschlossen, schon wanderten die Blicke der Zwillinge wieder zurück auf das dunkelblau-schwarze Buch. Sie hatten bisher nicht gewagt, im Buch zu lesen, geschweige denn es auch nur anzufassen. Aber jetzt waren sie bereit dafür. Shinichi Jr. streckte seine Hand aus... und schlug endlich das Buch auf.
Kapitel 8: Erinnerungen
Ich schlief noch, als mich lautes Türenschlagen aus meinem Alptraum riss. Der anschliessende Fausthieb in mein Gesicht liess mich dann vollends wach werden. Ich befand mich also noch immer in der Hölle.
"Pennst du immer noch?", hörte ich eine spöttische Stimme über mir. Ich gab keine Antwort, und dafür kassierte ich einen Tritt in den Magen. Ich krümmte mich zusammen.
Heiji verhielt sich ruhig, weil er genau wusste, dass ich es zu spüren bekommen würde.
Als sie mich ins Freie schleiften, sah ich, dass es ein wunderschöner Tag werden würde. Es war eine willkommene Abwechslung, wieder an der frischen Luft und an der Sonne, als immer eingesperrt in einem Verlies zu sein. Woher sollte ich wissen, was mich noch erwartete?
Plötzlich schlug Gin mir wieder ins Gesicht und er und Wodka warfen mich auf den Boden. Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich vor mir vier dicke, kleine Holzpfähle, die im Rechteck angeordnet waren. Ich ahnte, was jetzt kam.
Keine zwei Minuten später lag ich bäuchlings auf dem Boden, die Hände und Füsse jeweils an einen dieser vier Pfähle gefesselt. Mein gesamter Oberkörper war entkleidet. Gin trat noch mal nach mir, dann verschwanden er und sein Komplize. Ich war allein. Den ganzen Tag. Der Boden und das Gras waren erst angenehm kühl, aber die Sonne brannte unbarmherzig auf mich hinab. Es war heiss, und ein Sonnenbrand konnte nicht verhindert werden. Ich hatte Durst. Den ganzen Tag lang liess Gin sich nicht blicken. Die Haut an meinem Rücken war inzwischen verbrannt, und als Gin am Abend plötzlich vor mir stand, wusste ich, dass die Folter erst jetzt richtig losging.
Mein ganzer Körper tat weh, besonders der gebrochene Fuss, als sie mich von den Pfählen befreiten und hochrissen. Ich wusste, sie würden es sich nicht nehmen lassen, meinem bereits malträtierten Rücken noch weitere Verletzungen zuzufügen.
Erst stiessen sie mich noch ins Verlies, wo Heiji auf mich wartete. Er fasste mich nicht an, weil er wahrscheinlich genau wusste, dass es schmerzhaft für mich sein würde.
Die Kälte des Raumes tat mir gut, und unter Schmerzen und Anstrengung schaffte ich es, mich an die raue, aber kühle Wand zu lehnen. Ich schloss die Augen. Das tat gut!
"Kudo?"
Heijis Stimme drang an mein Ohr, doch meine Augenlider fühlten sich plötzlich schwer an.
"Hey, Kudo! Shinichi!"
Ich nahm alles nur noch verschwommen wahr...
Plötzlich hörte ich, wie ein Körper unsanft auf dem Boden landete, dann wurde ich wieder geschlagen. Ich öffnete erschrocken die Augen. Gin. Er stand wieder vor mir, doch ich hielt den Kopf gesenkt.
Gin entging nicht, dass mir die kühle Wand Linderung verschaffte, also riss er mich auf die Füsse und presste mich an ebenjene Wand. Es schmerzte höllisch, da er mich entlang der Wand hochgeschleift hatte.
"Du hältst dich wohl für ganz klug, was?", fragte Gin mich und versenkte sein Knie in meinem Magen. Ich schnappte nach Luft, konnte und wollte jedoch keine Antwort geben.
"Na gut, wie du willst..." Ich musste mehrere Schläge gegen mein Gesicht und mehrere Tritte in meinen Bauch einstecken, bevor mich Gin wegschleppte. Er hatte keine Mühe damit, da ich nicht mehr allzuviel auf die Waage brachte. Heiji liess er alleine zurück.
Als ich wieder genau realisieren konnte, was um mich herum geschah, lag ich schon bäuchlings auf einem rauen Holztisch. Ich war an Händen und Füssen an ihn gefesselt.
Die Folter, die mein Körper urplötzlich erdulden musste, hielt ich nicht aus. Ich schrie mir fast die Seele aus dem Leib, und ich wünschte mir bei jedem Hieb den sofortigen Tod herbei.
Dem Gefühl nach zu urteilen folterte Gin mich mit... einer Peitsche, einer so genannten "neunschwänzigen Katze", die an den Enden mit kleinen, spitzen Nägeln bestückt war. Ich konnte mir vorstellen, wie mein Rücken nachher ausgesehen haben musste...
Meine Schreie schmerzten in meinen eigenen Ohren, der Knebel, der Gin mir kurz darauf verpasste, tat etwas seine Wirkung. Gin hatte richtige Freude daran, meine erstickten Schreie zu hören und meine Qual zu sehen.
Ich konnte nicht mehr. Ich wollte nicht mehr! Ich wollte nur noch sterben, keine Schmerzen mehr verspüren, nichts mehr sehen und auch nichts mehr hören. Ich wurde fast wahnsinnig. Ich wollte Erlösung!
Als Gin mich einmal besonders hart schlug, bäumte ich mich auf und zog und zerrte an meinen Fesseln. Sofort hielt er mir ein Messer an den Hals, und ich erstarrte. Ich wollte, dass er mir den Hals aufschlitzte, dann wäre ich endlich erlöst! Trotzdem wagte ich nicht, mich zu bewegen.
"Hast du irgendwas gesagt?", fragte Gin mich stattdessen und drückte das Messer fester an meinen Hals. Ich sank erschöpft auf die Platte zurück. Für eine Antwort war ich zu schwach, dafür keuchte ich und begann zu zittern.
"Antworte!", schrie Gin und schlug wieder mit der Peitsche zu. Erneut bäumte ich mich auf, sank dann aber sofort wieder zurück. Ich hatte keine Kraft mehr und wünschte, Gin würde endlich kurzen Prozess mit mir machen und mich von meinen Schmerzen befreien. Aber das tat er nicht. Er liess mich leiden, nur um sich zu amüsieren.
Mein Rücken brannte und blutete, ich hielt keine weitere Berührung mehr aus. Gin holte weiterhin mit der Peitsche aus, bis er plötzlich innehielt. Ich hielt krampfhaft die Augen geschlossen und versuchte nicht daran zu denken, was jetzt noch passieren könnte. Doch meine Angst war unbegründet. Gin befreite mich von den Hand- und Fussfesseln und brachte mich unsanft zurück zum Kerker.
Er warf mich zu Boden, wo ich regungslos liegenblieb. Kaum war er wieder weg, kroch Heiji auf mich zu. Er hatte meinen mit hässlichen Wunden übersäten Rücken natürlich genau sehen können. Obwohl ich bei Bewusstsein war und Heiji das auch wusste, brachte ich kein Wort heraus. Heiji sprach mich mehrmals an, doch nach dem vierten Mal gab er auf. Ich konnte ihm aber ansehen, dass er meine Schreie trotz der Entfernung gehört hatte...
Mit einem lauten Keuchen klappte Reika das Buch zu und zog die Hand so schnell zurück, als hätte sie sich daran verbrannt. Sie hatte Tränen in den Augen.
"Oh mein Gott", murmelte sie immer wieder und registrierte nicht, dass sie mit dem Schließen des Buches die Hand ihres Bruders zwischen den Seiten eingeklemmt hatte. Ein lang gezogenes, ironisches "Autsch" erklang. Shinichi Jr. sah seine Schwester finster an.
"Ich will meine Hand später gerne noch benutzen können."
"Tut mir Leid", schniefte Reika. "Es ist nur alles so..."
"Grausam?", fragte Shinichi Jr. nach. Seine Wut über seine Schwester war bereits wieder verraucht. Reika nickte. "Ich weiss", murmelte Shinichi Jr. dann und sah das Buch nachdenklich an. Er musste daran denken, was sein Vater darin geschrieben hatte.
Die Schmerzen hielten mich wach.
Der nächste Tag war genauso schlimm. Wieder befand ich mich gefesselt draussen an der Sonne, die noch heisser schien als am Vortag. Als ich abends wieder in den kühlen Raum gestossen wurde, wusste Heiji, was zu tun war. Ehe ich mich versah, lehnte ich auch schon wieder an der kühlen, wohltuenden Wand. An jenem Tag hatte ich Glück, Gin tauchte nicht auf. Dafür liessen mich meine Kopfschmerzen, die von einem Sonnenstich herrührten, nicht zur Ruhe kommen. Dazu kam noch ein Hitzekrampf, der äusserst schmerzhaft gewesen war und, wie es mir schien, die ganze Nacht andauerte...
In dieser Nacht schliefen die Zwillinge sehr schlecht. Sie hatten Alpträume. Reika konnte nach dem ersten Alptraum überhaupt nicht mehr schlafen. Ihr Bruder schaffte es zwar, wieder einzuschlafen, aber er wünschte sich das Gegenteil herbei. Immer und immer wieder hatte er und auch seine Schwester die Qualen ihres Vaters vor Augen. Sie konnten direkt hören, wie Shinichi vor Schmerzen schrie...
Als die Zwillinge am nächsten Morgen in die Küche kamen, sahen sie Shinichi Zeitung lesend am Tisch sitzen, während Ran das Brot schnitt.
"Guten Morgen ihr zwei!", begrüsste Ran sie. Die Zwillinge gähnten zurück. Rans Lächeln verblasste. "Nicht gut geschlafen?"
"Um ehrlich zu sein, nein", gab Shinichi Jr. zu und fixierte seinen Vater.
An Schlaf war nicht mehr zu denken, Gin hatte gründlich dafür gesorgt, dass es nicht mehr so weit kam. Für ihn gab es nur eins: Kudo schlagen, Kudo quälen, Kudo foltern. Was kam danach? Kudo töten. So in etwa musste Gin sich das vorgestellt haben...
Plötzlich legte Shinichi die Zeitung beiseite und musterte seine Sprösslinge. Sie sahen schrecklich müde aus, und er wusste genau, woran das lag. Er seufzte.
"Ich hätte euch das Buch nicht geben sollen. Das war ein Fehler. Es tut mir Leid."
Shinichi Jr. warf einen kurzen Blick auf seine Schwester, ehe er wieder seinen nicht weniger schrecklich aussehenden Vater ansah.
"Dich trifft keine Schuld. Wir wollten es ja lesen. Ich verzeihe dir."
"Ich auch", bemerkte Reika und widerstand dem Drang, ihren Vater zu umarmen. "Wann musst du wieder gehen?", fragte sie stattdessen und setzte sich neben Shinichi an den Frühstückstisch.
"Ich gehe heute nicht", gab Shinichi als Antwort zurück und griff sich eines der bereits geschmierten Brote.
"Was?", fragte Ran erstaunt und drehte sich zu ihm um. "Du gehst nicht? Und wenn Megure plötzlich auftaucht und dich wieder mitnehmen will?"
"Solange er mir nicht eine Pistole an den Kopf setzt und droht, abzudrücken, gehe ich nirgendwohin", sagte Shinichi. "So etwas wie gestern will ich kein zweites Mal erleben."
"Meinst du jetzt den Polizisten-Haufen?", fragte Shinichi Jr. und lächelte.
"Den auch", antwortete sein Vater. Auch ihm gelang ein Lächeln.
Zwei Stunden später sass Shinichi auf dem Stuhl in der Bibliothek und hatte seine Beine auf den Schreibtisch gelegt. Shinichi Jr., der ein schwarz-blaues Buch in der Hand hielt, betrat den Raum und beobachtete kurz seinen Vater, der den Blick immer wieder gedankenverloren über die Bücher wandern liess.
"Uns verbietest du immer, die Füsse hochzulegen...", bemerkte Shinichi Jr. dann. Sofort nahm Shinichi die Füsse vom Tisch und setzte sich auf. "... das heisst aber nicht, dass du es auch nicht..."
"Ich will keine Sonderbehandlung, nur weil ich..." Shinichi verstummte. Sein Sohn sah zu Boden und versuchte mit aller Kraft, die Fassung zu bewahren. Er wusste nicht, was plötzlich mit ihm los war. Er fühlte sich niedergeschlagen und traurig. Plötzlich kam ihm die ganze Sache richtig brutal und grausam vor. Ein Kloss bildete sich in seinem Hals, sein Vater sah das sofort.
"Ach, Shinichi", sagte er, stand auf und ging auf ihn zu. Dann stand er vor seinem Sohn, der mit traurigen Augen zu ihm hochblickte. Die hellen, kreisförmigen Flecken, die Shinichis Hals zierten, sprangen dem Junior plötzlich ins Auge. Warum sah er sie erst jetzt? Normalerweise hätte er gefragt, woher diese Flecken kämen, doch in diesem Falle wusste er es schon.
Zigaretten. Ich mochte sie nicht. Ich hasste sie sogar. Jedesmal, wenn ich eine sah, wurde mir schlecht. Und jedesmal, wenn Gin eine im Mundwinkel hatte, geschah das Gleiche. Es verging fast kein Tag, ohne dass Gin eine Zigarette rauchte.
Wodka hielt mich fest. Als ob das noch nötig gewesen wäre. Er hielt mir den Mund zu und drückte mein Kinn hoch, so dass mein Hals freilag. Es war meistens der Hals. Allerdings hatte Gin auch schon andere Stellen an meinem Körper ausgesucht. Hände, Handgelenke, Brust, Bauch... Sogar die frischesten Wunden, die noch bluteten. Der Hals war Gins Lieblingsstelle, um Zigaretten auf mir auszudrücken.
Gin nahm einen letzten Zug der Zigarette und grinste mich hinterhältig an. Ich stellte mich schon auf den Schmerz ein, der mit jedem Mal heftiger wurde, und schloss die Augen.
Es brannte grauenhaft.
Gin lachte laut und zündete sich dann eine weitere Zigarette an, während Wodka seine Hand wegnahm. Den Rauch blies Gin mir immer wieder ins Gesicht, ich hustete und konnte kaum noch atmen. Kurze Zeit später war es wieder so weit.
"Wo soll ich jetzt? Hast du einen Vorschlag, Kudo?" Gin grinste mich wieder an.
'Nirgends', hätte ich am liebsten gesagt, doch kein Wort verliess meine Lippen.
"Nun gut, ich werde schon was finden. Ich hab sogar schon was", sagte er dann, holte seine Pistole aus der Manteltasche und setzte sie mir an den Bauch. Ich starrte ihn an.
Es war ein glatter Durchschuss. Ich krümmte mich so sehr zusammen, wie es Wodka zuliess. Meinen Schrei hatte er schon erstickt.
"Weisst du, was ich jetzt vorhabe?" Gins Worte richteten sich wieder an mich, und ich hoffte sehr, dass ich mich irrte.
Ich irrte mich nicht.
Gin drückte die Zigarette in der frischen Schusswunde aus.
Das war der Beginn einer Blutvergiftung.
"Es tut mir Leid, was dir widerfahren ist", sagte Shinichi Jr. mit erstickter Stimme. Shinichi lächelte ihm aufmunternd zu, dann nahm er ihn in den Arm. Shinichi Jr. drückte sich fest an ihn und verbarg sein Gesicht in Shinichis Hemd. Shinichi wusste, dass sein Sohn gerade einen seiner seltenen, schwachen Momente hatte.
"Weisst du, die Zeit danach, als ich nach dem Krankenhausaufenthalt wieder zu Hause war... Die war fast genauso schlimm wie jene zwei Wochen", begann er plötzlich zu erzählen. "Meine Verletzungen waren schon fast wieder verheilt, und meinen Fuss konnte ich auch wieder belasten. Körperlich ging's mir einigermassen gut. Aber seelisch..." Shinichi verstummte kurz und sortierte seine Gedanken. "An einem Abend war meine Mutter nicht da, Ran und Heiji auch nicht. Nur mein Vater, der in jener Zeit immer ein wachsames Auge auf warf. Du weisst nicht, wie ich mich da fühlte. Ich fühlte... mich allein. Einsam. Von der ganzen Welt verlassen. Von allen Stich gelassen. Ich brauchte dringend jemanden, mit dem ich reden konnte. Also ging ich zu meinem Vater, der damals hier in der Bibliothek arbeitete. Er sah natürlich sofort hoch, als er mich hörte. Er sah mich an, und ich sah einfach nur zurück.
Ich begann zu zittern, mir kamen all die Erinnerungen wieder hoch, alle Gefühle, und auch die Schmerzen. Es war furchtbar. Und dann nahm er mich in die Arme. Genau hier, wo wir jetzt stehen. Ich musste erbärmlich ausgesehen haben, als er mich ohne ein Wort in die Arme schloss. Aber es war ein befreiendes Gefühl..."
Die Verbundenheit, die momentan zwischen den beiden Shinichis bestand, fühlte sich für beide gut an. Beide hatten Verständnis für das Verhalten des jeweils anderen, und beide genossen die Wärme, die von ihnen ausging. Shinichi Jr. wusste, dass er von Glück reden konnte, dass sein Vater noch am Leben war. Nach allem, was passiert war.
Erst nach mehreren Minuten löste sich Shinichi Jr. wieder von seinem Vater und hob das Buch vom Boden auf, das ihm vorhin aus der Hand gerutscht war.
"Hier. Du kannst es wieder haben."
Shinichi warf ihm einen fragenden Blick zu, nahm dann aber doch das Buch entgegen.
"Wir haben es fertig gelesen", antwortete Shinichi Jr. und bestätigte somit Shinichis Vermutung. Dann zog er ein Buch mit dem "Baron der Nacht" aus dem Regal und drehte sich noch mal zu Shinichi um.
"Ich gehe in mein Zimmer und lese. Falls du mich brauchst..." Bevor er den Raum endgültig verliess, hielt er noch mal inne und sah seinem Vater in die Augen.
"Danke. Danke für alles."
"Gern geschehen", sagte Shinichi mit einem Lächeln und wandte seine Aufmerksamkeit dann dem Buch in seiner Hand zu.
Es landete schliesslich mit voller Wucht am Bücherregal und fiel zu Boden.
Jeder der vier Kudos hatte eine eigene Art, den Tag zu verbringen, doch Langeweile kam nie auf. Als die Familie dann beim Abendessen sass, klingelte es an der Haustür. Sofort sahen Shinichi Jr. und Reika entsetzt zu ihrem Vater, aber diesmal blieb er ruhig.
"Es ist nur Inspektor Megure. Er hat vorher angerufen und gesagt, er komme", fügte Shinichi auf die fragenden Gesichter der Zwillinge hinzu.
"Möchte wissen, was er wieder hat", sagte Shinichi Jr. und dachte an den Vortag.
Wie es sich herausstellte, musste Shinichi noch mal ins Präsidium kommen. Ein Polizist, der mit seinem Fall betraut war, hatte einen grossen Fehler gemacht, und so musste er, Shinichi, die Sache wieder ausbügeln. Shinichi sah den Inspektor finster an.
"Je schneller der Fehler behoben ist, desto sicherer wird es für diese bedrohte Familie", meinte Megure. Diesem Argument konnte Shinichi nichts entgegensetzen, obwohl er im Unterbewusstsein nicht wirklich einverstanden war, dass er das Haus noch mal verliess.
Die Zeit verging und draussen wurde es schon dunkel.
Inspektor Megure stoppte den Polizeiwagen einige Meter vor dem Eisentor der Villa Kudo und stellte den Motor ab. Er schwieg, und auch Shinichi, der neben ihm auf dem Beifahrersitz sass und die Arme verschränkt hatte, blieb stumm. Er hatte den Blick gesenkt und versuchte, keinen Blickkontakt mit dem Inspektor herstellen zu lassen. Shinichi nahm ihm übel, dass er sich geweigert hatte, ihn gleich nach der Fehlerbehebung wieder nach Hause zu bringen.
Shinichi hob endlich den Blick, seufzte und sah dann in Gedanken versunken zur Villa, die still und dunkel dastand. Still und dunkel? Moment mal! Shinichis Augen weiteten sich. Oh nein! Bitte nicht!
"Inspektor Megure, fragen Sie sofort die Wachposten, ob alles in Ordnung ist", fuhr er seinen Sitznachbarn an.
"Was?" Megure fragte sich, was denn plötzlich mit Shinichi los war, kam dann aber doch der Bitte nach. Er zog sein Walkie-Talkie aus der Manteltasche und schaltete es ein.
"WP eins, bitte kommen!"
Aus der Leitung erklang nur ein Rauschen.
"WP eins, bitte kommen!", wiederholte er, doch das Ergebnis war dasselbe. Megure versuchte es weiter.
"WP zwei, kommen!"
Diese Leitung blieb stumm.
"Verdammt! WP 3? Bitte kommen!"
Stille. Megure versuchte es bei den anderen Wachposten, doch bei allen erhielt er ein Rauschen oder gar nichts. Ihm rutschte das Gerät aus der Hand. Das konnte nur eins bedeuten.
Sie hatten angegriffen.
"Verdammt!", schrie Shinichi und verliess fluchtartig den Polizeiwagen. Inspektor Megure versuchte ihn noch aufzuhalten, doch er kriegte den Detektiv nicht mehr zu fassen.
"Warte!"
Megure verhedderte sich im Sicherheitsgurt und fiel aus dem Auto, als er die Fahrertür aufriss und Shinichi nachlaufen wollte.
Shinichi rannte zum Eisentor seiner Villa, und dabei war es ihm egal, dass er sich gerade auf offener Strasse ohne jegliche Schutzmöglichkeit befand. Er musste sofort in die Villa. Er musste sofort zu seiner Familie.
Shinichi warf sich mit voller Kraft gegen das Eisentor und stürzte fast, als es ohne ein Quietschen aufging. Das Tor war nicht abgeschlossen. Kein gutes Zeichen. Shinichi stürmte zur Haustür und bemerkte sofort, dass diese nur angelehnt war. Ein noch schlechteres Zeichen. Verdammt! Shinichi betrat die Villa, ohne das Licht anzumachen.
"Ran?"
Keine Antwort.
"Shinichi? Reika? Ich bin's, euer Vater!"
Wieder nichts. Seine Vermutung wurde zur Tatsache. Gin und Wodka waren hier gewesen, in seiner Villa. Hielten sie sich noch immer hier auf und warteten auf ihn? Shinichi schnupperte und glaubte, den Geruch des Todes zu bemerken.
"Gott, nein!"
Shinichi stieg langsam die Treppe hoch, nachdem er einen Blick in die Bibliothek, die Küche und das Wohnzimmer geworfen hatte. Dann nahm er einen Raum nach dem anderen vor, bis er schliesslich an Reikas Zimmer ankam. Shinichi graute es davor, die Tür zu öffnen, doch er hatte keine Wahl, wenn er Gewissheit haben wollte. Shinichi fluchte stumm. Warum nur verliess er Idiot das Haus noch mal? Was hatte er sich dabei gedacht? Er hätte doch wissen müssen, dass es eine Falle von Gin und Wodka war! Und er fiel darauf rein. Dann wusste er den Grund wieder, und den konnte ihm niemand verübeln. Er wollte doch nur, dass seine Familie in Sicherheit war...
Shinichi atmete tief durch und fand sich schliesslich damit ab. Er konnte die Zeit nicht mehr zurückdrehen, so sehr er es auch wollte. Es ging nun mal nicht, also brachte es auch nichts, sich darüber aufzuregen.
Langsam öffnete er Reikas Tür. Im Zimmer hielt sich niemand auf, und auch das Zimmer seines Sohnes war leer. Blieb nur noch das Elternschlafzimmer übrig. Was würde ihn darin erwarten? Seine Phantasie machte sich selbstständig und projizierte die schrecklichsten Bilder in sein Hirn. Shinichi hielt kurz inne und versuchte krampfhaft, die Bilder aus seinem Kopf zu verbannen. Ein unmögliches Unterfangen, wie es sich herausstellte.
Trotzdem musste er wissen, was sich im Raum verbarg. Also drückte er die Klinke hinunter, gab der Tür einen kleinen Schubs und ging in Deckung. Er hatte erwartet, dass er gleich von einer Kugel tödlich getroffen zu Boden sinken würde, aber er vernahm nichts. Weder ein Laden einer Pistole noch einen Schuss. Shinichi wartete noch einige Augenblicke und lauschte angestrengt in die Dunkelheit hinein. Er hörte ein leises Atmen, das von einer einzigen Person stammte.
Es half alles nichts. Shinichi ging aufs Ganze und knipste das Licht an. Er fühlte sich sofort einerseits erleichtert aber andererseits auch sehr besorgt.
Die einzige Person, die sich im Zimmer befand, war Ran. Und sie atmete. Gin und Wodka waren nicht da. Die Zwillinge aber auch nicht.
Er kniete sich neben die bewusstlose Ran auf den Boden und hob sie auf seinen Schoss.
"Ran? Ran! Wach auf! Bitte! Ran!"
Sie regte sich leicht und schlug schlussendlich die Augen auf. Ihr verwirrter Blick wanderte durch das Zimmer, bevor er an Shinichis Gesicht hängen blieb.
"Shinichi..."
Er brachte ein kurzes Lächeln zustande, ehe Ran in Tränen ausbrach und sich fest an ihn klammerte. Sie war geschockt, und ihre Erinnerungen an das Geschehene kehrten nur langsam zurück. Doch jetzt wusste sie sehr genau, was passiert war. Ran hatte keine Chance, ihre Tränen zurückzuhalten.
"Was ist passiert? Wo sind die Kleinen?"
Bei der Frage nach ihren Kindern musste Ran noch lauter weinen. Sie brauchte mehrere Minuten, ehe sie sich etwas beruhigte und in der Lage war zu sprechen.
"Gin und Wodka", brach es endlich aus Ran heraus. Shinichis Herz setzte einen Moment lang aus. Er sah sie angsterfüllt an.
"Da", sagte sie und zeigte auf ein Stück Papier, das unweit vor ihnen am Boden lag. Ran schaffte es, sich auf das Ehebett zu setzen, und Shinichi griff nach dem Papier. Er setzte sich ebenfalls neben Ran aufs Bett und begann zu lesen.
Wenn du deine Kinder wieder lebend sehen willst, komm morgen um 20 Uhr in die dritte Lagerhalle auf dem verlassenen Industriegelände. Wenn du die Polizei einschaltest oder an fiese Tricks denkst, bringen wir sie um. Komm allein, sonst blüht den Gören das gleiche Schicksal wie dir während dieser zwei Wochen.
Shinichi starrte das Blatt ungläubig an. Das war klar und deutlich. Kalter Schweiss sammelte sich auf seiner Stirn, und die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen kamen in ihm die Erinnerungen hoch, er spürte alle Schmerzen, alle Verletzungen - und die Verzweiflung. Er begann zu zittern und musste sich beherrschen, um nicht laut loszuschreien.
"Das ist ein Alptraum", schluchzte Ran und drückte sich fest an ihren Mann. "Das ist ein Alptraum! Bitte weck mich auf!"
"Ich kann nicht", flüsterte Shinichi. "Ich würde es gerne, aber ich kann es nicht."
Shinichi liess das Blatt zu Boden gleiten, zog Ran erneut auf seinen Schoss und umarmte sie. Er wartete, bis sie sich wieder etwas beruhigt hatte, dann sah er ihr ernst in die Augen.
"Ich werde die beiden unversehrt zu dir zurückbringen. Ich werde sie nach Hause bringen. Das verspreche ich dir."
Ran nickte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
"Versprich mir auch, dass du ebenfalls unversehrt zu mir zurückkommst."
Shinichi stockte der Atem. Was Ran gerade von ihm verlangte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Das musste ihr doch klar sein. Wenn man auf Gin traf, gab es meistens Tote. Und Schwerverletzte. Aber noch nie kam jemand unverletzt davon. Shinichi Jr. und Reika sollten die erste Ausnahme werden. Mussten die erste Ausnahme werden.
"Ran, ich...", begann Shinichi, doch er wurde von seiner Frau unterbrochen.
"Schon gut, Shinichi." Sie sah ihm in die Augen. "Versprich nie etwas, was du nicht halten kannst."
Ran war jetzt klar, dass sie Unmögliches von Shinichi verlangt hatte. Sie wusste, dass Shinichi nicht unverletzt bleiben würde. Sie wusste es einfach. Und doch hoffte sie immer auf das Gegenteil.
"Shinichi?"
Plötzlich drang eine männliche Stimme an Shinichi Ohr, und er horchte auf. Er wartete.
"Shinichi? Ran? Hallo?"
Es war Inspektor Megure, der nach ihnen rief. Beide rührten sich erst gar nicht, doch als Megure zum dritten Mal rief, seufzte Shinichi und befreite sich aus der Umarmung seiner Frau.
"Ich muss runter."
Als er jedoch aufstehen wollte, klammerte sich Ran sofort wieder an ihn.
"Ich lass dich nicht alleine gehen." Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.
"Dann komm mit."
"Gott sei Dank, euch geht's gut!", rief Megure erleichtert, als er das Ehepaar auf sich zukommen sah. "Alles in Ordnung mit euch?"
"Mit uns schon", gab Shinichi leise zurück. Megure stutzte.
"Was ist passiert?"
"Gin und Wodka haben unsere Zwillinge entführt, das ist passiert!", raunzte Shinichi aufgebracht den Inspektor an. "Wenn ich hier geblieben wäre, wäre das nicht passiert!"
"Wenn du hier gewesen wärst, wärst du jetzt wahrscheinlich tot!", gab Megure laut zurück und stellte so die andere Sichtweise dar.
"Da könnte er Recht haben", mischte sich Ran in das Streitgespräch. "Vielleicht musste es so kommen."
"Aber... Shinichi und Reika in den Händen von... Nein, das ist... Ich werd wahnsinnig!"
Shinichi sah tatsächlich so aus, als ob er gleich den Verstand verlieren würde. Die Angst um seine Kinder übermannte ihn, liess ihn nicht mehr klar denken, er begann zu schwitzen und zu zittern.
Sein Alptraum wurde Wirklichkeit.
"Jetzt reiss dich zusammen!", schrie Megure ihn an und schlug Shinichi ins Gesicht. Der Schlag verfehlte seine Wirkung nicht, denn Shinichi beruhigte sich wieder und sah ihn dann mit klaren Augen an.
"Danke", murmelte er und setzte sich aufs Sofa im Wohnzimmer.
"Tut mir Leid, aber es musste sein."
"Ich mach uns einen Tee", sagte Ran und verschwand in der Küche, während Inspektor Megure Shinichi gegenüber Platz nahm.
"Was hast du jetzt vor? Gibt es eine Nachricht von den beiden?"
Shinichi streckte ihm wortlos den von Gin geschriebenen Zettel hin und sah zu Boden.
"Oh mein Gott", murmelte Megure dann und fixierte sein Gegenüber. "Und jetzt?"
"Ich weiss es nicht", gab Shinichi zurück. "Aber sicher ist, dass Sie sich da raushalten müssen."
"Aber dann wirst du sterben!"
"Wenn ich so meine Kinder retten kann, dann... dann muss es wohl so sein..."
Ran erschien wieder mit einem Tablett und stellte jeweils eine dampfende Tasse Tee vor den Inspektor und ihren Mann. Dann nahm sie sich selber die dritte Tasse und setzte sich neben Shinichi.
Während sich Shinichi mit dem Inspektor unterhielt, war Ran ganz in Gedanken versunken. Sie wusste, dass Shinichi absolut nichts unversucht lassen würde, um das Leben seiner - ihrer - beiden Kinder zu retten. Und wenn es ihn letztlich den eigenen Kopf kosten würde. Aber genau das stellte Ran vor eine mögliche Wahl: Entweder sie konnte ihren Mann Shinichi haben, oder sie konnte ihre beiden Kinder haben. Aber nicht beides zusammen. Oder vielleicht doch?
Ran merkte, wie sie vor Angst um ihre Lieblinge fast wahnsinnig wurde. Aber Shinichi würde sie da schon wieder rausholen, da war sie sich sicher. Sie hoffte es zumindest. Aber für welchen Preis? Auch Shinichi war das klar, doch er konnte sich nicht konzentrieren, um sich einen Plan zu machen. Immerzu musste er an die Zwillinge denken, die ihm schon oft mit glänzenden Augen Blicke zugeworfen hatten. Ihre damaligen Worte gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf.
"Wir vertrauen dir, Dad. Wir vertrauen dir."
Vertrauen... Shinichi hoffte inständig, dass sie es jetzt auch noch taten.
Nachdem Megure mit dem Versprechen, dass sie diese Nacht sicher waren, gegangen war, sassen Shinichi und Ran noch eine Weile da, eng umschlungen und in Gedanken. Shinichi wusste zum ersten Mal im Leben nicht, was er machen sollte. Seine Kinder verliessen sich auf ihn, er durfte sie nicht enttäuschen. Es gab nur eins: Sie gesund und unverletzt aus den Fängen von Gin und Wodka rauszuholen.
Der nächste Tag brach an, und es versprach, sonnig und warm zu werden. Doch diese Tatsache konnte zwei bestimmte Menschen ganz und gar nicht aufmuntern.
Ran und Shinichi befanden sich noch immer im Wohnzimmer, und während Shinichi die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte, schlief Ran noch in seinen Armen.
Gegen Abend fragte Shinichi sich, wie sie beide den Tag verbringen konnten, ohne über das zu sprechen, was am Abend geschehen mag. Um 19 Uhr wurde Shinichi nervös, und Rans Sorge wuchs beinahe ins Unendliche. Sie hatte Angst. Angst um ihren Mann, und Angst um ihre Kinder. Sie teilte das ihrem Mann mit, der mit jeder Minute, die verstrich, nervöser wurde. Ran hatte Shinichi noch nie so nervös gesehen, da er normalerweise die Ruhe in Person war. Gut, nach dem Ereignis von vor 18 Jahren war es um seine Ruhe geschehen, aber seit der Geburt der kleinen Racker hatte sich das wieder geändert.
Der Zeiger der Uhr wanderte unaufhaltsam weiter, der Zeitpunkt des Treffens rückte immer näher. Um viertel vor acht machte Shinichi sich zu Fuss auf den Weg, da er so schneller auf dem Industriegelände ankam als wenn er mit dem Auto all die Einbahnstrassen und Sackgassen umfahren müsste. Ran unterdessen traf sämtliche Sicherheitsmassnahmen. Für den Notfall...
Kurz vor 20 Uhr stand Shinichi keuchend vor der genannten Lagerhalle und hielt kurz inne, um zu verschnaufen.
'Shinichi. Reika. Gleich ist es vorbei', dachte Shinichi und betrat endlich die Lagerhalle. Seine Uhr zeigte Punkt 20 Uhr an.
Kaum befand sich Shinichi tiefer im Innern der Halle, drangen erstickte Stimmen an sein Ohr. Er wusste sofort, dass es seine Kinder waren, und als er losrannte, tauchten sie endlich sie in seinem Blickwinkel auf. Beide sassen jeweils gefesselt und geknebelt an einer Metallstrebe nahe einer Wand. Sofort war Shinichi bei ihnen.
"Shinichi! Reika! Seid ihr in Ordnung?", fragte er und befreite Reika von ihrem Knebel.
"Uns geht's gut! Aber sieh zu, dass du von hier verschwindest! Bitte! Geh!"
"Niemals! Nicht ohne euch!"
"Na so was, so was. Wen haben wir denn da?", erklang plötzlich eine eiskalte Stimme und Shinichi zuckte sichtbar zusammen. Er erstarrte bis ins Mark.
Ich konnte mich nicht mehr bewegen, mein Körper gehorchte mir nicht. So schwach und schutzlos hab ich mich noch nie gefühlt. Ich war mir sicher, dass mein inzwischen jämmerliches Dasein mit Gins nächstem Auftauchen beendet sein würde...
Fortsetzung bei "Schatten der Vergangenheit 2"
