Der letzte Todesser
von Chalebh
Disclaimer: Das Übliche. – Und ich bin Joanne Rowling für ihren Zaubertränkemeister dankbar. Ich kann verstehen, dass sie gerne über ihn schreibt. g
A/N: Diese Geschichte entstand als Beitrag für den 3. Fan-Fiction-Wettbewerb auf Rickman-Snape.de. Das Thema war das letzte Kapitel des siebten und letzten Harry-Potter-Bandes.
Harry öffnete die schwere Eichenholztür, die in die Große Halle führte. Der Lärm der feiernden Schüler schlug wie eine riesige Welle über ihm zusammen. Das Lachen und die glücklichen Gesichter waren wie ein Magnet, der ihn magisch anzog. Doch als Harry in den Saal trat, wusste er, dass es ein Fehler gewesen war hierher zu kommen. Für ihn war es noch nicht Zeit zu feiern, denn vorher musste das letzte Teil aus dem Puzzle seines Lebens, das er nun seit fast sieben Jahren zusammensetzte, an seinen Platz. Erst musste das letzte Zeichen von Voldemort aus dieser Welt beseitigt werden.
Und je eher er dies hinter sich brachte, desto besser war es für alle Beteiligten. Gerade als Harry sich wieder dem Ausgang zuwenden wollte, entdeckte ihn Ron.
„Harry!", rief Ron und rannte zu ihm. „Harry, wo willst Du hin?"
„Auf die Krankenstation", antwortete er und drehte sich zur Tür.
„Geht es Dir nicht gut?" In Rons Stimme schwang Besorgnis mit.
„Warum sollte es mir nicht gut gehen?" Harry blickte verwundert zu seinem Freund und ließ die Türklinke los. „Bitte nicht!", dachte er. „Nur dieses eine Mal, versuch mich nicht zurückzuhalten."
Doch Ron zeigte sich unbeeindruckt von Harrys Gedanken. „Was willst Du denn sonst auf der Krankenstation?" Seine Besorgnis verwandelte sich in Ungeduld. „Los, komm! Die Hauselfen haben sich mit dem Festbüfett selbst übertroffen."
Jetzt erst bemerkte Harry, dass Ron den Rest eines belegten Brötchens in der Hand hielt. Er spähte an seinem Freund vorbei in die Halle. Die Haustische standen am Rand des Raumes und bogen sich unter den vielen kalten und warmen Speisen, Salaten und Desserts.
Zu jeder anderen Zeit hätte Harry sich wie ein hungriger Wolf auf die Köstlichkeiten gestürzt, denn er hatte seit mehr als zwei Tagen nichts mehr gegessen. Aber im Augenblick verspürte er keinen Hunger mehr, vielmehr würde ihm jeder Bissen im Hals stecken bleiben. – Harry fragte sich, ob er jemals wieder Hunger haben würde.
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Als er vor wenigen Stunden den tödlichen Zauberspruch gegen Voldemort gerichtet hatte, hatte sich ihm der Magen umgedreht. Er hatte vorher noch nie jemanden getötet und auch die Tatsache, dass er damit die gesamte magische Welt vor weiteren Qualen und schrecklichen Verlusten bewahrte, änderte nichts an seinen Gefühlen – und seiner Reaktion auf diese Tat. Und wenn er daran dachte, was er nun noch tun wollte, widersetzte sich sein leerer Magen erneut der Schwerkraft. Er musste seine gesamte Selbstbeherrschung aufbringen, um sich nicht wieder zu übergeben.
Hilflos blickte Harry sich um, in der Hoffnung es käme ihm jemand zur Hilfe und würde ihn von seinem Freund, der im Moment eher eine rothaarige Nervensäge war, befreien, damit er das heute Begonnene zu Ende bringen konnte.
„Nun steh hier nicht 'rum, als wärst Du festgewachsen." Ron zerrte seinen Freund am Ärmel des Umhangs in Richtung Büfett. Harry verdrehte innerlich die Augen. Ron bewies im Moment wieder das Feingefühl einer Dampfwalze.
Anscheinend hatte Hermine seine flehenden Blicke bemerkt, denn sie beendete ihre Unterhaltung mit einer Gruppe von Hufflepuffs und kam mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht zu ihnen herüber.
„Habt Ihr schon die Decke gesehen", meinte sie und deutete nach oben.
Unwillkürlich blickte Harry hinauf. Die Decke schien aus einem einzigen, riesigen Feuerwerk zu bestehen. Funken in allen Farben des Regenbogens zerstobten und teilten sich in Myriaden von weiteren Funken, die sich wie glitzernde Kaskaden über den dunklen Nachthimmel ergossen.
Abgelenkt durch diesen Anblick vergaß er einen Augenblick seinen Widerstand gegenüber Ron, der immer noch an seiner Robe zog. Harry stolperte nach vorne und nur Hermines schnellen Reflexen war es zu verdanken, dass er nicht unsanft auf dem Steinfußboden landete.
„Was soll das, Ron?", zischte Hermine wütend. „Willst Du, dass Harry auf der Krankenstation landet? Was Voldemort nicht geschafft hat, vollbringt Ronald Weasley, oder was?"
Gekränkt durch ihre heftige Reaktion antwortete Ron wütend: „Da will er sowieso hin, also, wozu regst Du Dich so auf?"
Fragend blickte Hermine von Ron zu Harry. Harry fühlte sich unwohl unter dem Blick ihrer braunen Augen. Ein verstehender Ausdruck glitt über ihr Gesicht und sie sagte mit leiser, fester Stimme: „Ich glaube, dann solltest Du besser gehen, Harry. Wenn die anderen erstmal mitbekommen haben, dass Du hier bist, kommst Du so schnell nicht wieder weg."
Harry nickte und wandte sich wieder der Tür zu. Mit einer größeren Entschlossenheit, als er fühlte, verließ er die Halle. Bevor die dicke Holztür die Geräusche aus dem Saal verschluckte, hörte er noch Rons empörte Stimme: „Das war wieder Mal ganz klasse, Hermine."
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Langsam lief Harry zum Trakt des Schlosses, in dem die Krankenstation untergebracht war. Mehrmals blieb er unterwegs stehen und zögerte, sein Magen fuhr Achterbahn. Es wurde immer schwieriger für ihn, den Würgereiz zu unterdrücken. Nicht dass er sich vor diesem Besuch fürchtete, – „Lügner!", schrie die Stimme in seinem Kopf – immerhin hatte er heute Voldemort besiegt. Aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Was ihn ängstigte, war die Wahrheit. Das, was blieb, wenn er alles zu einem Ende gebracht hatte.
Völlig mit diesen Überlegungen beschäftigt, bemerkte Harry erst sehr spät, dass er bereits vor der Tür der Krankenstation stand. Genauer gesagt bemerkte er es erst, als er mit einer Schuhspitze gegen die dicken Eichenbretter der Tür stieß. Verwirrt blickte er auf und sah, dass er früher als befürchtet an seinem Ziel angekommen war. Wieder zögerte er. – Nein, er konnte es nicht.
Er machte kehrt, um in die Große Halle zurückzulaufen. Nachdenklich betrachtete er den dunklen, nur von Fackeln beleuchteten Gang, der sich vor ihm erstreckte. In unregelmäßigen Abständen wurde der Flur, wenn ein besonders großer Funkenregen den Himmel erleuchtete, in farbiges Licht getaucht. Blau. – Dunkelheit. – Rot. – Dunkelheit. – Weiß. Grün. – Abermals Dunkelheit.
Harry rang erneut mit sich selbst. War es ein Fehler hierherzukommen? Jetzt. Heute Abend. Wäre es nicht besser, er würde wieder zurück in die Große Halle gehen und mit den anderen den Sieg über die dunkle Seite feiern?
Er fasste einen Entschluss. Wenn als Nächstes ein grüner Funkenregen durch das Fenster zu sehen war, würde er die Krankenstation betreten. Es war albern, sein Vorhaben an so etwas Profanem festzumachen. Aber es erleichterte die Angelegenheit. Die unweigerlich folgenden Ereignisse waren nun von einem durch ihn nicht zu kontrollierenden Geschehen abhängig.
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„Harry!"
Er wandte sich ruckartig um. Dumbledore war durch die Tür der Krankenstation in den Gang getreten.
„Professor", sagte Harry ein wenig zerstreut, denn er konzertierte sich auf das Gangfenster, um die Farbe des nächsten Funkenregens zu sehen.
„Komm rein. Es ist nicht notwendig, dass Du den Rest der Nacht hier im Flur verbringst."
Harry wandte sich wieder dem Eingang der Krankenstation zu und trat einen Schritt näher.
Dumbledore redete bereits weiter: „Poppy wird es zwar nicht gefallen, aber ich denke, in Anbetracht der Umstände dürfte sie gegen Deinen Besuch nichts einzuwenden haben."
Die Augen des Schulleiters hatten ihren alten, belustigten Glanz wieder gefunden. In ihnen war nichts mehr von der Müdigkeit und der Besorgnis zu erkennen, die Harry noch vor wenigen Stunden dort gesehen hatte. Doch unter dem Blick dieser Augen fühlte er sich auf einmal unendlich alt.
Und in einer Geschwindigkeit, die diesem Gefühl entsprach, ging er auf Dumbledore zu. Harrys Zögern wurde durch einen Funkenregen begleitet, der den Gang in ein grünes Licht tauchte. Dann wurde es im Flur wieder dunkel.
Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Dumbledore von seinem Entschluss gewusst hatte.
„Danke, Sir." Harry ging langsam am Schulleiter vorbei und trat in die Krankenstation. Er war sich nicht sicher, ob er sich eben für die Farbe des Funkenregens bedankt hatte oder für die Besuchserlaubnis.
Der Schlafsaal der Krankenstation war ebenfalls nur schwach beleuchtet. Die Vorhänge vor den hohen Fenstern hielten die Lichter des Feuerwerks am Nachthimmel ab. Harrys Augen brauchten eine Weile bis sie in dem Dunkel die Umrisse der Betten ausmachen konnten. Nach und nach erkannte er auch weitere Einzelheiten. Trotz der heftigen Kämpfe der beiden vergangenen Tage waren die Betten auf der Station überraschenderweise leer – bis auf eines auf der rechten Seite des Raums.
„Gott sei Dank", dachte Harry. Es war schon schwer genug gewesen, überhaupt hierher zu kommen, und für das, was er tun wollte, konnte er weiteres Publikum nicht gebrauchen.
Unter dem weißen Laken des belegten Bettes zeichnete sich scharf der Umriss einer langen, hageren Gestalt ab – der letzte Todesser.
Severus Snape lag mit geschlossenen Augen unter dem Betttuch, die nackten Arme lagen an beiden Seiten des Körpers ausgestreckt auf der Decke. Sein Gesicht war noch blasser als sonst; er musste sehr viel Blut verloren haben. Lediglich die schwarzen Haare, die in wirren Strähnen auf dem Kopfkissen lagen, trennten das bleiche Gesicht vom Weiß des Bettbezuges. Doch seine Atmung war jetzt kräftiger und regelmäßiger als das letzte Mal, als Harry ihn gesehen hatte – an der Seite Voldemorts.
Vor Snapes Bett stand ein Holzstuhl mit hoher Rückenlehne. Dumbledore musste wohl bis eben dort gesessen haben und hatte Krankenwache gehalten. Er blickte sich nach dem Schulleiter um, doch der hatte die Krankenstation verlassen.
Harry war alleine – mit Snape.
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Langsam näherte er sich dem Bett, in dem sein Zaubertränkelehrer lag. Er schlief, das machte es leichter. Leichter, die Gegenwart des Mannes zu ertragen, den Harry die letzten sieben Jahre mehr als jeden anderen gehasst hatte. – Und nun sollte dies alles vorbei sein. Voldemort war besiegt und mit dem, was Harry während dieses letzten Kampfes erfahren hatte, schien nun auch der Hass gegen diesen Mann besiegt – oder zumindest dachte Harry es.
Bilder erschienen in seinen Gedanken. Sie zeigten Blut, Tod und Zerstörung. Schreie, die sein Gehirn gespeichert hatte, begannen die Szenen, die er sah, zu untermalen. Krampfhaft hielt Harry sich mit beiden Händen die Ohren zu, so als könnte er dadurch die Flut der Geräusche und Bilder stoppen. Irgendwann wichen diese Halluzinationen der Stille und Dunkelheit der Krankenstation. Harry atmete erleichtert aus. Er bemerkte erst jetzt, wie sehr er sich um die Gesundheit seines Zaubertränkelehrers gesorgt hatte.
Leise zog er den Stuhl an das Krankenbett heran und setzte sich. Nachdenklich blickte er in das Gesicht seines Lehrers. Von nahem wirkte Snape durch die eingefallenen Wangen beinahe zerbrechlich. Seine Zähne erschienen noch größer und gelber, als sie es ohnehin schon waren.
„Nein, er ist kein schöner Mann, weder äußerlich noch im Innern", dachte Harry.
„Stopp", wies er sich in Gedanken zurecht. „Das hier hat nichts mit seinem Aussehen zu tun. Oder damit, wie er mich in den letzten Jahren behandelt hat." – Es hatte einzig und allein mit der Wahrheit zu tun, und damit, dass er sie vollständig erfahren wollte.
„Was wollen Sie, Potter?"
Harry wurde durch die Worte aus seinen Überlegungen gerissen. Snapes Stimme mochte zwar schwach und leise sein, aber sie hatte nichts von ihrer Härte und Schärfe verloren. Als er hochsah, blickte er in die dunklen, strengen Augen seines Lehrers. Stille breitete sich aus, als Harry überlegte, wie er das sagen und fragen sollte, was ihm seit einigen Stunden auf der Seele brannte.
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TBC …
