Sheldon lag im Bett und dachte nach. Er fühlte das Gewicht von Amys Kopf auf seiner Brust, seine Nase war tief in ihren weichen, duftenden Haaren vergraben und die Finger seiner rechten Hand spielten gedankenverloren mit Amys Schulterblatt. Es war Amys Geburtstag und sie hatten nun das dritte Mal miteinander geschlafen. Er fühlte sich geborgen, glücklich, erschöpft, schläfrig und verschwitzt; das dominanteste Gefühl aber war Nervosität, fast schon Angst. Denn nun musste er eine Entscheidung treffen, die sein Leben, egal wie sie ausfiel, von Grund auf verändern würde.
Sheldon hatte Amy bereits an ihrem Auto auf dem Universitätsparkplatz erwartet. Die Unruhe, die sich seit einigen Wochen, wenn nicht gar Monaten, in ihm breit gemacht hatte, hatte nun einen nicht mehr zu übertreffenden Höhepunkt erreicht. Er stand – metaphorisch gesehen – in Flammen. Endlich, endlich, nach 365 langen Tagen des qualvollen Wartens, würden sie es wieder tun. Endlich durfte er Amy nicht mehr nur mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Verstand lieben, sondern auch dem intensiven körperlichen Verlangen nachgeben, das er für seine Freundin hegte.
Amy hatte ihm einen Begrüßungskuss gegeben, aber anstatt ihn nur wie üblich flüchtig zu erwidern, hatte Sheldon ihr tief in die Augen gesehen und war mit seinem Finger langsam ihr Rückgrat heruntergefahren. Er hatte bemerkt, wie Amy ein wohliger Schauer über den Körper lief, ihre Pupillen sich weiteten und die Härchen auf ihrem Unterarm sich aufstellten. Sie hatte es ebenso wenig erwarten können wie er selbst.
„Ein Mann und eine Frau, die sich in der körperlichen Liebe vereinen, sind in den Augen des Herrn ein Ehepaar," war seine Mutter nie müde geworden, ihm und seinen zwei promiskuitiven Geschwistern in ihrer Jugend einzutrichtern. Da sie aber eine sehr tolerante Person sei und mit der Zeit gehe, sei sie bereit, den einmal vollzogenen Beischlaf nicht als Hochzeit, sondern nur als Verlobung anzusehen. „Versprich mir, Sheldon, niemals mit einer Frau zu schlafen, ohne die ernste Absicht, sie bald darauf zu heiraten!"
Sheldon hatte ihr dieses Versprechen leichtfertig gegeben, denn er hatte es im Traum nie für möglich gehalten, dass er einmal in die entsprechende Situation geraten würde.
Doch dann war Amy in sein Leben getreten und alles hatte sich geändert. Er hatte angefangen, mit dem Gedanken zu spielen, eines Tages mit Amy zu schlafen. Und irgendwann hatte er sich dazu durchgerungen, seine Mutter um den Verlobungsring zu bitten.
Dann kam der schicksalshafte Tag, an dem Amy ihre Beziehung beendet hatte und einige Zeit darauf, als er sich endlich ein Herz gefasst hatte und zu ihrer Wohnung ging, um sie zu bitten, seine Frau zu werden, hatte er sie mit diesem britischen Hühnen Dave gesehen.
Etwas in ihm war daraufhin zerbrochen und er konnte sein festes Vorhaben, Amy zuerst einen Heiratsantrag zu machen, und danach das erste Mal mit ihr zu schlafen, einfach nicht mehr umsetzen. Auf einmal hatte er alles angezweifelt. Nicht nur Amys Unschuld und seine Liebe zu ihr, sondern auch die Sinnhaftigkeit der Aussagen seiner Mutter, seines Versprechens ihr gegenüber und seines ganzen Plans.
Kaum hatten sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen, waren sie auch schon übereinander hergefallen. Sheldon hatte Amys Gesicht gegriffen, sie heftig an sich herangezogen und leidenschaftlich geküsst. Seine und Amys Taschen waren dabei ein erheblicher Störfaktor gewesen, aber er hatte seine Lippen einfach nicht von ihren trennen können, um den störenden Ballast abzustreifen. Erst als sie Luft holen mussten, hatten sie sich ihrer Taschen und der Jacken entledigt und sie ordentlich weggehängt, wenngleich Sheldon in großer Versuchung gewesen war, sie einfach auf den Boden zu schmeißen. Sheldon hatte Amy von hinten umarmt und die Helix ihres rechten Ohrs zwischen seine Lippen genommen. „Sofort ins Schlafzimmer!" hatte er geflüstert, war dann um sie herum gegangen, hatte sie bei den Händen genommen und sie rückwärts gehend ins Schlafzimmer gezogen.
Einige Zeit, nachdem Sheldon Amy mit Dave vor ihrem Wohnhaus gesehen hatte, hatte es wieder eine Wende in ihrer beider Beziehung gegeben.
Er hatte den unsäglichen „Beach Boys"-Ohrwurm gehabt, zum ersten Mal in seinem Leben hatte die Leidenschaft in ihm die Oberhand gewonnen und Amy und er waren wieder ein Paar geworden. Und nun war er bereit gewesen. Bereit, Amy all das zu geben, nach dem sie sich so lange gesehnt hatte. Denn er wusste, wie wichtig es ihr war.
Das Versprechen, das er seiner Mutter gegeben hatte, hatte er beschlossen, einfach außer Acht zu lassen. Schließlich war eines ihrer Lieblingssprichworte immer „einmal ist keinmal" gewesen. Auch wenn er das blödsinnig fand, schließlich würde das bedeuten, dass 0=1 wäre und das war bekanntermaßen Unsinn, auch wenn es gewisse (vermutlich den Hirnwindungen pubertierender Einfaltspinsel entspringende) Rechenwege gab, die das Gegenteil zu beweisen versuchten.*
Dann hatten sie sich geliebt. Auf die Art, wie Mummys und Daddys es tun. Und es war besser gewesen, als er je gedacht hätte. Viel, viel besser. Es war, trotz ihrer Unsicherheit, ihrer Ängste und Unbeholfenheit, eine alles verändernde Erfahrung gewesen. Eine der glücklichsten seines Lebens. Auch wenn er das Amy gegenüber so nicht zugegeben hätte, denn es hatte ihn geängstigt. Deshalb hatte er ihr nur das Versprechen gegeben, dass sie es an ihrem nächsten Geburtstag wieder tun würden. So hatte er noch genügend Aufschub, um sich über seine Gefühle bezüglich der Verlobung klar zu werden.
Im Schlafzimmer angekommen und Amy immer noch an den Händen haltend, hatte Sheldon seine Arme ausgebreitet, womit er Amy automatisch an sich gezogen hatte. Er hatte ihre Hände losgelassen und war mit den seinen ihre Arme hochgefahren, bis zu ihrem Nacken. Er hatte ihr Gesicht in die Hände genommen und sie wieder geküsst, diesmal vorsichtiger. Dann hatte er seine Stirn gegen ihre gelegt und mit geschlossenen Augen geflüstert: „Kannst du dir vorstellen, wie sehr ich dich liebe?"
Er hatte ihre Antwort nicht abgewartet, sondern mit einem schlauen Grinsen hinzugefügt: „Nein, das kannst du nicht, denn ich liebe dich in allen 10 Dimensionen, die die String-Theorie postuliert und 6 dafür sind für den menschlichen Geist gar nicht vorstellbar."
Sheldon hatte Amy (nachdem sie ihm für diese schelmische Bemerkung einen leichten Kniff verpasst hatte) nun wieder geküsst und bald hatten ihren Lippen von selbst einen immer ungestümer werdenden Rhythmus gefunden, ihre Hände hatten begonnen, unter Kleidungsstücke zu wandern und sich nach all den Monaten der Abstinenz wieder zu erinnern an das Gefühl glatter, warmer, weicher Haut unter den Fingern, an Hüftknochen und Lendengrübchen, an jede Wölbung und Einkerbung am Körper des anderen.
Ein Jahr später hatten sie wieder miteinander geschlafen. Wieder war es unfassbar schön gewesen, wieder konnte er sich nicht zur Frage aller Fragen durchringen, wieder hatte er Amy auf das nächste Jahr vertröstet („So musst du dieses schreckliche Brazilian Waxing nur einmal im Jahr über dich ergehen lassen. Mann, waren das damals viele Pflaster, die du mir auf der Rückbank deines Autos gezeigt hast!") und wieder hatte er das Versprechen seiner Mutter gegenüber gebrochen. Aber nun ja, wenn einmal keinmal war, dann waren zweimal einmal immer noch keinmal und dann konnte man auch gleich sagen: aller guten Dinge sind drei (übrigens noch so ein Lieblings-Sprichwort seiner Mutter). Wobei „gut" nun wirklich eine maßlose Untertreibung war: es war einfach fantastisch.
Fast ohne es zu merken hatten sie sich gegenseitig ausgezogen und Amy hatte Sheldon dazu gebracht sich auf das Bett zu legen. Sie hatte sich rittlings über ihn gekniet, sich zu ihm heruntergebeugt und ihr Haar war wie ein Vorhang um ihrer beider Gesichter gefallen und hatte die restliche Welt ausgeblendet, als sie sich küssten. Es hatte keiner Worte und keiner Hilfestellung bedurft, als Amy sich langsam auf ihm herabließ und ihre Körper miteinander vereinte, so als wäre es für sie eine alltägliche Selbstverständlichkeit.
Sie hatte sich leicht aufgerichtet, ihre Finger mit den seinen verschränkt und angefangen, sich langsam zu bewegen, während sie an seinem Hals saugte. Sheldon hatte die Augen geschlossen, den kognitiven Teilen seines Gehirns eine Ruhepause verordnet und sich komplett seinen Empfindungen hingegeben.
Amy hatte sich noch etwas weiter aufgerichtet und ihre Hand von seiner gelöst, um sich eine Haarsträhne hinter das Ohr zu streichen. Sheldon hatte sie wieder ergriffen und ihr Handgelenk und ihre Fingerkuppen geküsst, während er sich in der Betrachtung ihres in seiner sichtbaren Erregung einmalig schönen Gesichtes verlor.
Er hatte nicht mehr verstanden, wie er diesen Akt der Liebe jemals so klinisch als Koitus hatte bezeichnen können. Und wie es Leute geben konnten, die ihn zur reinen Triebbefriedigung komplett ohne jedes Gefühl für den jeweils anderen ausüben konnten. In seinem Inneren waren seine Gedanken und Gefühle in einem einzigen wirbelnden Strudel gefangen gewesen und er hatte es wundervoll gefunden, in dessen Zentrum zu stehen und nicht mehr zu wissen, wo ihm der Kopf stand.
Auch als Sheldons Erregung gewachsen war, hatte Amy die Langsamkeit ihrer Bewegungen beibehalten und Sheldon hatte jede ihrer kleinen kreisenden Hüftbewegungen voll ausgekostet. Es war so schön gewesen, dass ihm die Tränen in die Augen getreten waren und er hatte Amy gegenüber eine so große Dankbarkeit gefühlt, dass sie nie locker gelassen, ihn immer ein Stückchen weiter getrieben, immer ein bisschen mehr Intimität eingefordert hatte, bis er sich schließlich darauf eingelassen hatte, sich ihr auf die intimste aller Arten hinzugeben. Er hatte es nicht eine Sekunde lang bereut.
Amy hatte ihn einfach mitgerissen, als sie am ganzen Leib zitternd ihren Höhepunkt erreichte und als das Oxytocin und all die anderen wunderbaren Hormone seinen Körper fluteten, hatte Sheldon einen kurzen Moment lang das Gefühl, dass sein und Amys Innerstes zu einer Einheit verschmolzen waren und er an einer Art inneren Horizont das Antlitz der Weltformel aufblitzen sehen konnte.
Aller guten Dinge sind drei. Heute war das dritte Mal gewesen. Er konnte seine Mutter nicht weiterhin betrügen. Jetzt galt es, eine überaus wichtige Entscheidung zu treffen. Wollte er für den Rest seines Lebens eine rechtsverbindliche Partnerschaft mit Amy eingehen?
Sein Herz klopfte wild und in seinem Kopf herrschte ein chaotisches Wirrwarr aus Gedanken und Gefühlen, unausgesprochenen Wünschen und Sehnsüchten, Ängsten und Bedenken.
Aller guten Dinge sind drei. Auf einmal durchschoss ihn die Erkenntnis wie ein Pfeil und er fühlte, wie das Adrenalin ihn durchrauschte. Drei Liebesnächste mit Amy hatte er gebraucht, um zu erkennen, dass er nicht nur seine Mutter, sondern auch sich selbst jahrelang betrogen hatte. Er hatte seine Entscheidung schon längst getroffen! An dem Abend, an dem er, den Song der Beach Boys noch im Ohr, an Amys Wohnungstür geklopft hatte und ihr seine Liebe gestanden hatte, hatte er sich bereits für Amy entschieden. Und dafür, den Rest seines Lebens mit ihr verbringen zu wollen. Dass er kurz darauf mit ihr geschlafen hatte, hatte diesen Entschluss nur endgültig besiegelt.
Von seiner Seite aus, das wurde ihm nun schlagartig klar, war er bereits seit zwei Jahren mit Amy verlobt!
Sein Blick fiel auf die Gollum-Figur, die er vor einiger Zeit im Schlafzimmer aufgestellt hatte, auch wenn Amy gemeint hatte, dass diese abscheuliche Kreatur ihr bestimmt Albträume bescheren würde, wenn sie des Nachts einmal aufwachen und in ihr hässliches Gesicht blicken würde.
Sheldon fasste einen Entschluss. Für ihre erste gemeinsame Nacht hatte er auf Star Wars verzichtet, die zweite hatten sie in Harry-Potter-Kostümen verbracht. Heute Nacht würde ein weiterer fantastischer Filmklassiker Pate stehen: Dies würde die Nacht des einen Ringes werden. Er atmete tief durch, dann griff er in die Nachttischschublade und holte ein kleines schwarzes Kästchen hervor.
*Und hier noch der Beweis (oder doch nicht?), dass 0=1 ist:
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