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Warum Sara ihm gefolgt war, konnte sie sich selbst nicht richtig erklären. Immerhin hatte er ihr ein Killerkommando auf den Hals gehetzt. Oder war es gar nicht er gewesen? Irgendwie hatte Sara im Gefühl, dass auch Kenneth Irons seine Finger im Spiel hatte. Verflucht, Sara, scholt sie sich selbst: Du hast Irons mit deinen eigenen Händen getötet! Wie sollte er da wohl ein Killerkommando auf Dich ansetzen?
Bei dem Gedanken an Irons stieg in Sara immer noch Zorn auf. Die Witchblade an ihrem Handgelenk begann zu pulsieren, während sie Gas gab und ihr Motorrad nach vorne schoss.
Die Witchblade… seit sie die Witchblade gefunden hatte, oder besser gesagt, die Witchblade sie, war ihr Leben nicht mehr das gleiche gewesen. Sara lachte unter dem runtergeklappten Visier rau auf. Nicht, dass ihr Leben vorher ein Spaziergang gewesen wäre.
Sara Pezzini war Polizistin in der New Yorker Mordkommission. Gewalt, Verbrechen und Leid waren Alltag für sie. Aber seit sie dieses Ding da an ihrem Handgelenkt trug waren Mythen, Dämonen, Schicksal und Übernatürliches dazugekommen. Eine Last an der die harte, nüchterne Sara beinahe gescheitert wäre.
Warum dann nicht also auch ein Kenneth Irons, den der Tod nicht davon abhielt, weiter seine Intrigen zu spinnen…
Als Ian Nottingham, Irons ehemaliger Diener und Killer, vor wenigen Augenblicken zu ihr gekommen war, um sie um Verzeihung zu bitten, war Sara perplex gewesen. Er kniete vor ihr, hielt ihre Hand, faselte etwas davon, dass er es nicht gewollt habe, dass er sie hätte beschützen wollen, dass der Wahnsinn und die Liebe, die er für sie empfand zu dieser schlimmen Tat verleitet habe und dass sie ihm wenn schon nicht verzeihen könne, vielleicht Verständnis entgegenbringen könne. Verständnis? Dafür, dass er sie töten lassen wollte? Dieser Nottingham war tatsächlich wahnsinnig.
Aber sie erinnerte sich an zu viele Situationen, in denen sie eben genau das gleiche getan hatte. Getötet, in Notwehr, in Verteidigung, aber bei vielen hatte sie es bereut, nachträglich im Geist nach anderen Auswegen gesucht und sie zu oft gefunden, um ihr Gewissen rein zu halten. „Ja" hatte sie ihm einfach geantwortet und hatte gesehen, wie sich sein Blick nur für wenige Augenblicke aufhellte, als hätte sie ihm die Absolution erteilt. Aber sie hatte noch etwas anderes in seinen Augen gesehen. Abschied, ein Abschied, der keine Rückkehr erlaubte.
Und jetzt raste sie auf ihrem Motorrad durch die New Yorker Straßen und folgte ihm. Nein, Nottingham, so einfach wirst du es nicht haben, du hast mir noch einige Fragen zu beantworten!
Sie ahnte wohin er verschwunden war, nachdem sie sich nur kurz von ihm abgewendet hatte. Verschwunden, wie immer, spurlos…
Ihr fielen nur wenige Killer ein, die Nottingham hätte beauftragen können, Killer die noch besser waren als er: Die Black Dragons.
Eine militärische Einheit, gezüchtet unter der perversen Aufsicht von Vorschlag Industries. Auch Nottingham war ein ehemaliges Mitglied dieser Gruppe. Sie hatte die Akte gelesen… Es waren Wahnsinnige, übermenschlich intelligente Killer, die keine Gnade kannten. Nottingham war ein Schoßhündchen dagegen…
Na, das konnte ja heiter werden.
Sie hatte einen Tipp bekommen, wo die Dragons sich aufhielten, in einer alten Lagerhalle am anderen Ende der Stadt. Sara kam dem Stahlbau näher und drosselte die Geschwindigkeit. Sie rollte mit ihrem Motorrad bis an das offen stehende Hallentor.
Ein absurder Blick bot sich ihr. Moebius, Anführer der Dragons und ein einziges schwarzes Muskelpaket, hiefte einen schweren Stein vom Boden. So groß und schwer, dass vor Anstrengung jeder Muskel einzeln erkennbar war und die Augen aus dem Gesicht grell hervortraten. Und dann sah sie Ian Nottingham.
Er lag auf dem Boden, die Augen geschlossen, Blut troff aus einer Wunde auf der linken Schläfe. Sie konnte nicht sehen ob er noch atmete. Verdammte Scheiße, Nottingham!
Hatte er versucht Moebius zu töten, um ihr Leben zu retten? Der Versuch musste scheitern, selbst für einen Profikiller wie Ian Nottingham. Moebius war zu wahnsinnig, um ihn besiegen zu können. Und jetzt erst begriff Sara, was Moebius mit dem riesigen Stein vorhatte. Er wollte ihn auf den am Boden liegenden Nottingham…
Sara gab Vollgas ohne nachzudenken. Das Vorderrad ihrer Maschine stieg in die Luft und sie raste auf Moebius zu. Sie sah echte Überraschung in seinem Gesicht, als sie ihn umfuhr und er rückwärts kippte und der schwere Stein auf ihn fiel und alle Knochen seines Oberkörpers brach.
Sara hielt an und riss sich den Helm vom Kopf und in genau diesem Moment erwachte die Witchblade zum Leben. Sie fühlte wie sich Handschuh und Schwert wie eine Panzerung um ihren Unterarm schlossen, ihre Sinne gewannen schlagartig das hundertfache an Schärfe.
Blitzschnell sah sie einen weiteren Dragon hervorspringen und auf sie schießen. Sie hielt die Witchblade vor sich und die Geschosse prallten wirkungslos von ihr ab. Sara rannte in seine Richtung, zog ihre Pistole und schoss. Die Kugel traf den Killer zwischen die Augen.
Sie wollte sich gerade umdrehen und nach dem letzten verbleibenden Black Dragon Ausschau halten, als sie ein leises Stöhnen vor ihr auf dem Boden wahrnahm: Nottingham. Er lebte also noch.
Dieser kurze Augenblick der Unaufmerksamkeit hatte ausgereicht, dass der verbleibende Black Dragon die Armbrust gespannt und den Bolzen auf Sara abgeschossen hatte. Der Angriff kam so unerwartet, dass auch Sara ihn mit der Witchblade wohl kaum hätte abfangen können, wenn nicht in eben diesem Moment Ian Nottingham versucht hätte, sich aufzurichten. Der Bolzen traf ihn noch auf den Knien mitten durch das Herz.
Sara schoss.
Der Dragon starb wie sein Vorgänger durch eine Kugel in die Stirn. Sie fuhr herum und konnte gerade noch den leise in sich zusammensackenden Nottingham auffangen. Sie legte seinen Oberkörper vorsichtig auf den Boden. Mit rasender Geschwindigkeit breitete sich unter ihm eine große Blutlache aus. Sara handelte fieberhaft.
Es war wie eine Eingebung, als sie den Pfeil mit der Faust umschloss. Die Witchblade veränderte sich. Sie wurde organisch und schlang sich um Saras Hand, den Bolzen und langte wie Tentakeln zu der Stelle, wo der Bolzen in Nottinghams Herz eingedrungen war. Sara riss den Bolzen heraus. Nottinghams Körper bäumte sich kurz dabei auf; wie ein leises Seufzen, sog er die Luft ein. Er atmete wieder.
Sara beugte sich prüfend über ihn, als er den Kopf wendete und schwach die Augen öffnete. „Sara" keuchte er leise und wurde wieder ohnmächtig.
Sara fühlte seinen Puls, das Herz schlug. Schwach aber regelmäßig. Sie riss die Stellen seines Shirts auf, in der das Loch noch von dem Bolzen zeugte. Die Wunde darunter hatte sich geschlossen. Aber die große Blutlache sagte ihr, wie viel Blut er verloren hatte.
Erschöpft ließ sich Sara neben Nottinghams bewusstlosem Körper nieder und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie wählte die Nummer ihres Partners. „Danny? Ich bin´s Sara. Du musst mir einen Gefallen tun."
