Seine
Finger berührten zögernd die kühle, glatte Oberfläche
des Spiegels und obwohl
er wusste, dass er nicht so weit gehen
sollte, sich in seinen Tiefen zu verlieren,
starrte er doch
hinein. Er wagte nicht zu atmen, als er sein fahles Ich betrachtete,
wohl wissend, dass es nicht bei diesem Bild bleiben würde.
Es
dauerte nur einen Wimpernschlag, bis sein eigenes Spiegelbild wie
Nebel in der
frühen Morgensonne verblasste und die schmale
Gestalt einer Frau erschien, so
plötzlich, dass es ihn
überrascht hätte, hätte er nicht gewusst, was der
Spiegel
bewirkte.
Ihr langes, rotes Haar fiel in sanften
Wellen über ihre Schultern und auf ihrem
Gesicht zeichnete
sich ein schwaches Lächeln ab. Sie flüsterte ihm leise,
beruhigende Worte zu und all die Jahre, in denen ihr Gesicht ihn
in seinen Träumen
verfolgt hatte, schrumpften zu Monaten, zu
Tagen, Minuten…
Sie war da. Er brauchte nur die Hand
auszustrecken und er würde ihre weiche Haut
berühren,
ihre Lebendigkeit spüren.
Es war eine Lüge, er
wusste es, alles war eine Lüge, und er war kein Narr. Er hätte
nicht so weit gehen dürfen, das wusste er, und doch trat er
noch einen Schritt näher
an den Spiegel, in der irrationalen
Hoffnung, den Duft ihrer Haare einatmen zu
können.
Ihre
sanften, grünen Augen ruhten noch immer auf seinem Gesicht,
während sie ihn
anlächelte, und er konnte nichts weiter
tun, als sie anzustarren, ihren Anblick in
sich aufzusaugen.
Ein
unsichtbares Gewicht schien seinen Brustkorb zusammenzupressen und
wäre er in
der Lage gewesen, zu sprechen, dann wäre
seine Stimme dünn und brüchig wie ein Stück
Pergament
gewesen.
Lily… unsicher, ob er ihren Namen wirklich gesagt
hatte, oder ob er nur in seinen
wild kreisenden Gedanken gefangen
war, presste er vorsichtig eine Handfläche an die
Stelle, an
der ihr Gesicht gewesen wäre, aber seine Finger fühlten nur
kaltes Glas.
Sie nickte, immer noch lächelnd, und ein
trauriger Ausdruck huschte über ihr schönes
Gesicht.
"Es
ist nicht deine Schuld…", flüsterte sie eindringlich, so
als wüsste sie genau,
wie schwer es ihm fiel, die Bürde
jeden Tages zu tragen und unter der Last jeder
Nacht
weiterzuatmen.
"Vergib dir selbst, Severus. So, wie ich dir vergeben habe… schon vor langer Zeit."
Er wollte
ihr sagen, dass er es nicht konnte, es nie können würde,
aber gleichzeitig
spürte er, wie ihre sanft gesprochenen
Worte und der Ausdruck in ihren Augen ihn
erlösten, die
Schuld von seiner betäubten Seele nahmen.
Er
hätte nicht sagen können, wie lange er vor dem Spiegel
gestanden hatte, als er
eine andere, vertraute Stimme hörte,
die seinen Namen rief.
"Der Spiegel Nerhegeb", hörte
er Dumbledore sagen und spürte gleichzeitig, wie eine
Hand
sich schwer auf seine Schulter legte.
Er wusste, was kommen würde, aber er drehte sich nicht um.
Er würde den
Ausdruck in Dumbledores gütigen Augen nicht ertragen können,
ebenso
wenig wie seine Worte, von denen er wusste, dass sie den
Schmerz in seinem Inneren
wieder auflodern lassen
würden.
"Seltsam, dass wir immer nach einem Weg
suchen, um unsere verzweifeltsten Wünsche
wahr werden zu
lassen, selbst wenn es nur für einen Augenblick
ist."
Dumbledore wartete nicht auf eine Antwort, und
selbst wenn doch, hätte er nicht
gewusst, was er hätte
erwidern sollen.
Die Hand des Schulleiters umklammerte seine
Schulter ein wenig fester, und für einen
Augenblick erschien
es ihm, als wüsste Dumbledore genau, was er im Spiegel gesehen
hatte.
"Eine tröstende Illusion ist manchmal
wie eine Decke, die sich schützend und wärmend
um uns
ausbreitet, uns obwohl wir wissen, dass es nur eine Illusion ist,
legen wir
sie uns nur zu bereitwillig um die Schultern."
Obwohl
etwas in seinem Inneren dagegen ankämpfte, drehte er sich doch
langsam zu
Dumbledore um und begegnete seinem Blick.
Durch
das Fenster spendete der Mond geizig sein silbriges Licht und er
konnte sehen,
dass ein trauriges Lächeln die Lippen des
alten Mannes umspielte, als sie einander
in die Augen
sahen.
"Aber gerade das Bedürfnis nach etwas Wärme
und Liebe ist doch das, was uns
menschlich macht… nicht
wahr?"
Er senkte den Kopf, unfähig, Dumbledores Blick länger standzuhalten.
Es hatte eine Zeit gegeben,
in der Lily etwas in ihm gesehen hatte, was niemand
sonst
vermocht hatte- nicht einmal er selbst. Und er wusste, dass es diese
Menschlichkeit war, über die Dumbledore sprach, die Seite in
ihm, die Lily damals
berührt hatte und die heute nichts
weiter war als ein toter Fleck in seiner Seele.
Für einen
sehr langen Moment war es still, bis er den anderen Mann leise sagen
hörte:
"Gute Nacht, Severus."
Und
während er durch die dunklen Gänge des Schlosses ging,
lautlos wie ein Schatten,
spürte er wieder das vertraute
Gefühl der Leere, die sich allmählich in ihm
ausbreitete.
Er ahnte nicht, dass er nicht der einzige war, der sich in dieser
Nacht
verzweifelt an seinen sehnlichsten Herzenswunsch geklammert
hatte, und er ahnte erst
recht nicht, dass Harry Potter, der
alles, was er, Severus, gleichzeitig hasste und
liebte, in sich
vereinte, das gleiche Bild sah, wenn er in den Spiegel
schaute.
Lily.
In seinem Bett starrte er noch lange
blicklos an die Decke, sich wünschend, dass er
nicht so weit
gegangen wäre, der Versuchung des Spiegels zu erliegen. Für
einen
kurzen Moment hatte er sich selbst erlaubt, an Vergebung
für die größte seiner
Sünden zu glauben, den
Verrat an Lily… aber er wusste, dass es keine Vergebung für
ihn gab, und sein Herz fühlte sich wieder schwer und nutzlos
in seiner Brust an.
ENDE
