Prolog: Vergesslichkeit kann Vorteile haben

Mit einem lauten Plopp landete Remus Lupin in seinem Vorgarten. Er blieb kurz stehen und lauschte. Dann ging er schnell zu seiner Haustür, öffnete sie, trat ein, und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Erleichtert atmete er auf. "Geschafft." Er hatte soeben zum ersten Mal einen Schutzzauber über ein Muggelhaus gelegt. Mad-Eye hatte zwar gefragt, ob er ihm helfen solle, aber Remus hatte abgelehnt. Den Schutzzauber über das Haus der Grangers zu sprechen, war seine Aufgabe. Bei dem Gedanken an Mad-Eye fiel ihm siedendheiß ein, dass er vergessen hatte, ihm seinen Tarnumhang zurückzubringen. Dann musste er den eben morgen mit zum Grimmauldplatz nehmen. Bei dem Gedanken an die Gardinenpredigt, die er sich von Mad-Eye würde anhören dürfen, verdrehte er unwillkürlich die Augen. Etwas wie: "Vergesslichkeit ist fast so schlimm wie Unachtsamkeit, und Unachtsamkeit kann tödlich enden.", würde sicher kommen. Er kannte das schon. Für ihn, wie für alle anderen im Orden, gehörte Mad-Eyes Neigung, die anderen ständig zu Vorsicht und Wachsamkeit zu mahnen, in die Gattung Berufskrankheit. Daher nahm es ihm niemand übel. Remus legte sich ins Bett, um noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Schließlich war es bereits weit nach Mitternacht.

Er war fast eingeschlafen, als er draußen dreimal kurz hintereinander ein Plopp hörte. Wer zum Teufel könnte um diese Zeit etwas von ihm wollen? Ob etwas passiert war, und der Orden deshalb zusammengerufen wurde? Während er hastig aufstand und sich einen Umhang überwarf, schossen ihm alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Hatten die Todesser das Hauptquartier entdeckt? Hatte Voldemort einen von ihnen erwischt? Als sich gerade Panik in ihm breit zu machen begann, hörte er eine leise Stimme:

"Alles dunkel, vielleicht ist ja keiner zu Hause."

Remus horchte auf. Die Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor. Aber das war niemand vom Orden.

"Das wäre zu schön um wahr zu sein."

Schlagartig breitete sich Erleichterung in Remus' Innerem aus. Die zweite Stimme kannte er genau. Lucius Malfoy, einer der führenden Todesser. Nun war der Besuch von Todessern sicher kein Grund zum Freuen. Aber die Tatsache, dass es niemand vom Orden war, der ihn zu einer Katastrophenbesprechung rufen wollte, beruhigte ihn ungemein. Außerdem hatte er damit gerechnet, dass Voldemorts Anhänger irgendwann hier auftauchen würden. Allerdings fand er es erstaunlich, dass sie bereits jetzt herausgefunden hatten, wo er wohnte. Schließlich war er erst vor knapp einer Woche vom Grimmauldplatz hierher gezogen. Man musste also davon ausgehen, dass es auch in der Abteilung für Wohnungsangelegenheiten im Ministerium jemanden gab, der den Todessern Informationen lieferte. Er begann zu überlegen, was jetzt am besten zu tun war. So wie er Malfoy verstanden hatte, wollten sie nichts von ihm persönlich. Also eine Hausdurchsuchung. Das klügste war demzufolge, sich ruhig ins Bett zu legen und so zu tun, als würde er tief schlafen. Im besten Fall würden sie ihn dann in Ruhe lassen. Im schlimmsten Fall würde er einen Schockzauber abbekommen. Das war zwar nicht angenehm, aber es tat weder besonders weh, noch würde er davon einen bleibenden Schaden zu befürchten haben. Kein Grund zur Panik also. Oder doch? Lucius schien es aus irgendwelchen Gründen zu begrüßen, wenn er nicht hier war. Aber bedeutete das wirklich, dass sie ihn in Ruhe lassen würden? Oder würden sie das Problem mit Hilfe eines Avada Kedavra lösen? Wenn es tatsächlich zum Kampf kam, hatte er trotz seiner Kenntnisse kaum eine Chance gegen die drei Todesser. Plötzlich erinnerte er sich an den Tarnumhang. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. Schnell machte er sein Bett und zog sich etwas Wärmeres an. Er wusste, dass die eingerichteten Schutzzauber die ungebetenen Gäste lange genug aufhalten würden, so dass er keine Angst haben musste überrascht zu werden. Am Schluss warf er sich den Tarnumhang über, legte sich unter sein Bett und wartete. Die nächste halbe Stunde würde sicher sehr interessant werden.

Gerade als er unter dem Bett verschwunden war, hörte er die Haustür quietschen. Die drei schienen sich fürs erste mit dem Licht ihrer Zauberstäbe zu begnügen. Denn zu Remus unter dem Bett drang keine Helligkeit. Viel zu sehen gab es hier nicht. Das Haus bestand aus einem kleinen Flur und einem recht großen Raum. Von dort aus ging eine Tür ins Bad und auf der anderen Seite war eine kleine Küche abgeteilt. Remus hörte, wie sich Schritte seinem Bett näherten.

"Also, hier pennt keiner.", stellte Crabbe nicht gerade leise fest.

Malfoy trat neben ihn und besah sich das scheinbar unberührte Bett. "Tatsächlich" meinte er mit seiner öligen Stimme, "Der Vogel ist ausgeflogen."

Goyle, der unvermeidliche dritte wie Remus dachte, war ebenfalls zum Bett getreten, und gluckste.

"Hast schon mal nen fliegenden Werwolf gesehen, Goyle?", zischte Malfoy wütend. "Das ist nicht lustig. Dieser verdammte Bastard ist kein Werwolf mehr. Genau deshalb sind wir schließlich hier."

"Mensch Lucius, nu mach mal halblang.", brummte jetzt Crabbe, "Ich versteh sowieso nicht, wieso der schwarze Lord sich so für den Typ interessiert. Ich meine, ob Werwolf oder nicht. Er hätte doch sowieso nicht für uns gearbeitet. "

"Deshalb versteh ich ja auch nicht, warum wir den nicht einfach beseitigen sollen.", sprang Goyle seinem besten Freund bei.

Remus wusste, auch ohne dass er es sah, dass Malfoy gerade die Augen zum Himmel verdrehte.

"So was von schwer von Begriff wie euch gibt's auf dieser Welt auch nur zweimal. Ich erklär's euch also noch mal. Vielleicht habt ihr ja wenigstens mitbekommen, dass er als Lehrer in Hogwarts arbeitet und Verteidigung gegen die Dunklen Künste unterrichtet. Zu unserem Leidwesen musste unser Meister erkennen, dass er sich dabei um einiges weniger dämlich anstellt, als viele seiner Vorgänger. Ihr werdet sicher einsehen, dass das unserer Sache auf Dauer schadet. Deshalb war es meine Aufgabe dafür zu sorgen, dass er nicht länger als Lehrer geduldet wird. Solange er ein Werwolf war, war es nicht schwierig, die entsprechenden Leute im Ministerium davon zu überzeugen. Jetzt ist das nicht mehr so einfach."

"Aber wieso sollen wir ihn dann nicht einfach um die Ecke bringen?", fragte Crabbe nach.

"Ganz einfach.", erklärte Malfoy, sichtlich bemüht ruhig zu bleiben. Offenbar war das nicht sein erster Versuch, den beiden klar zu machen, was sie hier zu tun hatten. "Wenn wir ihn umbringen, ist sogar für den Volltrottel Fudge klar, dass der schwarze Lord ihn aus dem Weg haben wollte. Das bedeutet, dass sein Vertrauen in Dumbledore steigt. Weil der den Bastard ja unbedingt als Lehrer behalten wollte. Das muss auf jeden Fall verhindert werden."

"Und was sollen wir dann hier?"

„Auch das erkläre ich euch jetzt zum dritten Mal.", antwortete Malfoy scheinbar immer noch gelassen. Doch Remus konnte den gereizten Unterton in seiner Stimme deutlich hören. "Wir suchen nach Unterlagen, die beweisen, dass diese seltsame Heilung nur mit Hilfe der Dunklen Künste gelingen konnte. Unser Meister ist sich dessen vollkommen sicher. Wenn wir beweisen können, dass Remus Lupin mit den schwarzen Künsten hantiert, kann ihn auch Albus Dumbledore nicht mehr schützen. Und jetzt los. Wir haben schon viel zu viel Zeit verplempert. Ihr nehmt euch den Schreibtisch vor. Ich sehe nach, ob es irgendwelche Geheimverstecke gibt, in denen Unterlagen liegen könnten."

Die Schritte entfernten sich. Er hörte das Geräusch sich öffnender Schranktüren und aufgezogener Schubladen. Erst jetzt wagte er, sich etwas anders hinzulegen. Solange die drei Männer so dicht vor seinem Bett gestanden hatten, hatte er sich kaum getraut zu atmen, geschweige denn sich zu bewegen. Er hoffte, dass seine Ordnungsliebe dazu beitragen würde, dass sie bald fertig sein würden. Er machte sich keine Sorgen, dass ihnen irgend etwas in die Hände fallen könnte, das von Interesse für Voldemort wäre. Einfach deshalb, weil es in diesem Haus keinerlei Unterlagen gab, die ihm nützen konnten. Alles was den Orden betraf, befand sich am Grimmauldplatz. Und über seine Heilung hatte er keine Unterlagen, einfach weil es keine gab. Er überlegte, dass Voldemort mit seiner Vermutung durchaus recht haben konnte. So genau wusste niemand, wie dieser Zauber einzuordnen war. Wahrscheinlich war er bereits zu einer Zeit entdeckt worden, als es eine Einteilung in weiße und schwarze Magie noch nichtgegeben hatte. Etwas verblüfft war er allerdings, dass Lucius glaubte, hier etwas zu finden. Er war schließlich bei der Gerichtsverhandlung dabei gewesen. Er hätte also wissen müssen, dass es über den Avoidationszauber nichts Schriftliches gab. "Seltsam", dachte er. Bei dem Gedanken daran, dass Lucius sein Haus nach Geheimverstecken durchsuchte, musste er grinsen. "Der Mensch geht eben zu 99 Prozent von sich aus."

Als er hörte wie sein Küchenschrank verrückt wurde, seufzte er leise auf. Er bezweifelte, dass die Todesser sich die Mühe machen würden, alles wieder an seinen Platz zu stellen. Seit Voldemort vor über einem Jahr mehr oder weniger offiziell zurückgekehrt war, hatten sie es nicht mehr nötig, ihre Aktivitäten geheim zu halten. Auch wenn die Dinge in diesem speziellen Fall etwas anders lagen, könnte er selbst später nicht beweisen, dass für die Verwüstung tatsächlich Todesser verantwortlich waren. Plötzlich wurde Remus durch Goyles Stimme aus seinen Gedanken aufgeschreckt.

"Warum will der Meister eigentlich ausgerechnet jetzt ganz dringend verhindern, dass Dumbledore und Fudge miteinander können. Wir sind doch sowieso stärker als die Weicheier."

"Mensch, Goyle, hat er doch gesagt. Wegen den Schlammblütern.", rief Crabbe ihm zu.

Sie hatten inzwischen die Durchsuchung seines Schreibtisches beendet und begannen nun, sich den Rest des Hauses ebenfalls vorzunehmen.

"Wie Schlammblüter? Mensch, Goyle," mischte sich jetzt Lucius ein. "Dumbledore will dieses Gesetz durchsetzen. Danach sind Muggelstämmige berechtigt, die Häuser ihrer Familien mit Schutzzaubern zu belegen. Außerdem dürfen sie ihnen von der Zauberei erzählen, um sie vor Angriffen zu warnen."

Remus bezweifelte, dass die beiden verstanden hatten, was das bedeutete. Aber sie trauten sich wohl nicht weiter nachzufragen, um Malfoy nicht zu verärgern.

Plötzlich näherten sich erneut Schritte dem Bett. Remus blieb fast das Herz stehen. Erschrocken versuchte er, sich ganz nah an die Wand zu pressen. Er hörte, wie sich jemand auf den Boden kniete und begann, mit den Händen den Boden abzutasten. Er konnte nicht sehen wer es war, denn er hatte den Tarnumhang über den Kopf gezogen. Die Hände versuchten an den Dielen zu rütteln. Natürlich passierte nichts.

"Lucius! komm mal her! Hier am Schreibtisch ist was Komisches.", war plötzlich Crabbes Stimme zu hören.

Die Hände verschwanden und eine Sekunde später entfernten sich die Schritte wieder. Remus atmete erleichtert aus. Ihm wurde bewusst, dass er die Luft angehalten hatte. Was sollte er jetzt machen? Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass Malfoy zurückkam?

"Zeig her! Was hast du da?", riss ihn dessen Stimme aus seinen Gedanken.

"So'n komisches Bild.", antwortete Crabbe. "Das hing über dem Schreibtisch. Ist 'n komisches Vieh drauf. Wie'n Löwe nur ohne Mähne."

Wieder setzte Remus Herz für einen Schlag aus. Die Zeichnung. Er hatte sie über seinen Schreibtisch gehängt, als eine Art Anerkennung. Normalerweise hätte auch niemand darauf kommen können, dass es sich dabei um mehr handelte, als ein etwas ungewöhnliches Bild. Aber jetzt hatte dieses Bild ausgerechnet Lucius Malfoy in die Hände fallen müssen. Einem der wenigen Menschen, und dem einzigen Todesser, der die wahre Bedeutung erkennen konnte.

"Was soll das?" fragte Malfoy jetzt ungehalten. "Der Typ hat 'ne Vorliebe für moderne Kunst. Na und? Wenn du dem schwarzen Lord damit kommst, kannst du dein Bett im St. Mungos schon vorbestellen."

"Is ja schon gut. Ich dachte ja nur.", brummte Crabbe mürrisch.

"Das musst du gar nicht erst versuchen. Das klappt sowieso nicht.", fauchte Malfoy zurück. "Und jetzt lasst uns hier verschwinden. Irgendwann wollte ich nämlich auch mal ins Bett."

Eine halbe Minute später fiel die Haustür ins Schloss. Noch eine halbe Minute später hörte Remus das vertraute Plopp. Die drei waren disappariert. Das alles war so schnell gegangen, dass Remus erst jetzt dazu kam, sich über das eben Geschehene klar zu werden. Als ihm das gelungen war, klappte ihm vor Verblüffung die Kinnlade herunter. Er war sich absolut sicher, dass Malfoy das Bild wiedererkannt hatte. Und selbst wenn er sich an die Zeichnung von Hermines Kater Krummbein nicht mehr erinnern konnte, hatte er es mit Sicherheit umgedreht. Die winzige, leicht krakelige Schrift hatte er auf alle Fälle wiedererkannt. Aber warum hatte er geschwiegen? Dass er in diesem Moment begriffen hatte, dass eine weitere Durchsuchung nicht nötig sein würde, war klar. Langsam kroch er unter dem Bett hervor. Er setzte sich an den Tisch und nahm das Bild in die Hand, das dort liegengeblieben war. Gedankenversunken starrte er auf die Zeichnung. Vor seinem inneren Auge zogen die Bilder vorbei. Die Gerichtsverhandlung, Hermine, die die Treppe heruntergefallen war, das Quidditchspiel. Bei dem letzten Gedanken musste er lächeln. Er schüttelte den Kopf. Im Nachhinein wirkte die Geschichte tatsächlich fast komisch. Aber damals war es besonders für Hermine keineswegs lustig gewesen.