01 - Der Wert der Überzeugung
Im Alter von erst dreiunddreißig Jahren wurde Harry Potter offiziell vom Dienst in der Aurorenzentrale suspendiert.
Er saß an seinem Eichenschreibtisch und hielt einen Messingbilderrahmen in den Händen, ließ seinen Blick aber durch den Raum schweifen, an den Papierstapeln, um die er sich zu kümmern versprochen hatte, vorbei bis hin zu dem Fenster, das die Illusion eines strahlenden Tages aufrecht erhielt.
Fahrig strichen seine Finger über die warm geriebene Härte des Rahmens und ertasteten auf der Glasscheibe eine getrocknete Verunreinigung. In fernen, glücklicheren Zeiten versunken, begann er, daran herumzuknibbeln, es abzukratzen, doch da fiel ihm etwas ein, das ihn zusammenschrecken ließ. Der Rahmen rutschte aus seinen Händen und kam mit einem spröden Scheppern auf dem Boden zwischen seinen Beinen auf, aber Harry bemerkte es nicht.
Mit kummervoll verzogenem Gesicht betrachtete er die Spur blassen Rosas unter seinem Fingernagel, kaum merklich neben dem deckendem Schwarz der letzten Tage. Sie erinnerte ihn an etwas, das er längst vergessen hatte, etwas, das zwischen den erkalteten Laken seines Ehebetts und den Scherben seiner Lieblingsvase gestorben war. Das Zittern seiner Hände machte ihm klar, dass er noch nicht bereit war, sich nach dem Bilderrahmen zu bücken und mit dem konfrontiert zu werden, was er inzwischen vermisste.
Stattdessen ließ er seine bebenden Hände unter der Tischplatte vorwärts tasten, bis sie an einen hölzernen Widerstand stießen. Das unbehagliche Gluckern in seinem Bauch ignorierend, packte er den metallenen Griff und zog fest daran. Das schrille Quietschen der Scharniere kam ihm in dem leeren Raum so laut vor wie ein unwillkürlich hervorbrechender Alarm, aber er fischte ohne zu Zögern einen silbern schimmernden Flachmann aus der geheimen Schublade hervor.
Sein abwesender Blick weilte auf dem Herbstlaub, das er durch das verzauberte Fenster sehen konnte, das ihm in den Jahren des treuen Dienstes am Ministerium und an England stets wie ein Wunder vorkam. "Egal, ob es nun unecht ist oder nicht, ich freue mich jeden Tag darauf. Es ist so... Als würde ich täglich woandershin verreisen, weißt du?", hallte seine jugendliche Stimme durch seine Erinnerungen. Bitter lächelnd nahm er einen Schluck aus dem Flachmann, der in seiner geschlossenen Faust verschwand. Diesen Tag würde er nie vergessen, denn nur wenig später änderte sich alles.
In dem zaghaften Tanz der bunten Blätter glaubte er, ihre Konturen ausmachen zu können, ihr Körper, der sich im Spiel des Windes bog und das Echo ihrer Stimme, die ihm einen so unkonventionellen Heiratsantrag machte, dass er wieder zu ihr passte, wurde lebendig. "Nein", murmelte er und schüttelte seinen Kopf. "Nein." Er nahm einen weiteren Schluck, um die Erinnerungen zu töten.
Doch wo er auch hinschaute, lauerte die Vergangenheit auf ihn, um ihn hinterrücks in einen Sumpf aus Verzweiflung zu reißen. Dafür war er noch nicht bereit.
Er packte die Tischplatte und drehte mit ihrer Hilfe schwankend seinen Schreibtischstuhl zu dem Aktenschrank in seinem Rücken um. Ohne lange nachzudenken packte er eine der Schubladen, auf deren Etikett "Gesetzeslücken" in der geraden Schrift seines Lehrlings stand und riss sie mit einigem Kraftaufwand hinaus. Er hörte das Plastik splittern, das die Schubladenseite mit dem Aktenschrank verband und biss sich zögernd auf die blutleeren Lippen.
Die schwere Schublade auf dem Schoß, griff er mit der freien Hand hinein und klaubte so viele Karteikärtchen, wie er umfassen konnte, aus der strengen Ordnung heraus. Karten und Papiere warf er mit erstaunlicher Zielsicherheit und Wut in das nun klaffende Loch auf der Vorderseite des Schrankes und lauschte dem befriedigenden Klatschen, das zur Antwort herausdrang. Jede Salve ließ sein Lächeln mehr an Bitterkeit einbüßen.
Kaum war sie geleert, schmiss er sie auf den Tisch, wo sie den Haufen unerledigter Arbeit umstieß, der sich mit markantem Rascheln auf dem Teppichboden vor dem Schreibtisch ausbreitete. Die Aufgaben des Tages wirbelten durcheinander und flatterten davon. Harry, dem die doppelte Bedeutung dieser simplen Tatsache bewusst wurde, schluckte trocken, blinzelte aber entschlossen die Tränen weg, die seine grünen Augen füllen wollten. Diese Schlagzeile würde er ihnen nicht auch noch gönnen.
Auf seiner Wange herumkauend, voller Zaudern begann er damit, sein Leben zusammenzupacken.
Erinnerungen, die an seiner Selbstbeherrschung und seinem Herzen zerrten, sammelte er überall in seinem Büro ein, ohne sie anzusehen. Nur daran, wie die Adern auf seinen Händen hervortraten und wie sich seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammenpressten, konnte man erkennen, was in ihm vorging. Seine Fingerkuppen streiften seine persönlichen Gegenstände, ohne dass er zuließ, dass seine Augen ihnen folgten. Er trug sie bloß unbewegt zu der herausgerissenen Schublade herüber und bettete sie hinein, als seien sie seine einzigen überlebenden Kinder.
Gerade, als er eine Fotografie, die Ginny und Harry lachend vor dem Kolosseum in Rom zeigte, das sich hell erleuchtet von der tiefblauen Nacht abhob, mit einer Trauer in seinem Blick hineinlegte, als würde er es beerdigen, öffnete sich seine Tür und sein Vorgesetzter, Abteilungsleiter Gawain Robards, trat mit seiner üblichen Geschwindigkeit in den Raum. Schuldbewusst zuckte Harry zusammen, als der wachsame Blick aus seinen winzigen Augen über die Schublade auf seinem Schreibtisch glitt, die allen zuzuschreien schien, dass ihr Besitzer seine Suspendierung nicht allzu erwachsen aufnahm.
"Sie sind ja immer noch hier, Potter!", blaffte er mit bebendem Schnauzbart.
Und du wusstest das ganz genau, du hinterlistiges Miststück!, dachte Harry, doch es gelang ihm, auf seine Wangen zu beißen und dem bulligen, unrasierten Mann ohne erkennbare Regung in die trüben Augen zu schauen.
"Ich nehme an, Sie werden unverzüglich verschwinden, wenn sie ihre wertvolle -", er ließ seinen stechenden Blick mit gerümpfter Nase über krakelige Kinderzeichnungen von Weihnachtsmännern und Strichmännchen auf Rennbesen schweifen, die nun ihren angestammten Platz an der Wand verlassen hatten. "- Habe eingesammelt haben, sonst fürchte ich, mir könnte gegenüber der Presse herausrutschen, dass dies hier ihnen gehört."
Mit einer schnellen Bewegung, die Niemand einem Menschen mit seinem Leibesumfang zutrauen würde, nahm er den Flachmann an sich, der vergessen auf dem Stuhl lag.
Unwillkürlich ballte Harry seine Hände zu Fäusten, wobei er das Foto zu einem glänzenden Knäuel aus bunten Farben formte. Das Entsetzen sickerte langsam in seinen umnebelten Verstand. Mit einem diebischen Grinsen, das seine gelben Zähne entblößte, sah Robards ihm dabei zu, wie er mit schwankenden Schritten zum Schreibtisch hinüberging und die Hand über der Schublade des Aktenschrankes öffnete. Mit einem leisen Plitsch landete die zerknüllte Fotografie auf seinem ledernen Notizbuch.
Mit einem starren, abfälligen Blick maß er seinen ehemaligen Vorgesetzten, bevor er die Finger in die Rillen zu beiden Seiten der Schublade steckte und mit ihr unter dem Ellbogen aus dem Raum trat. Die Abwesenheit von Menschen verriet sich durch die dröhnende Stille, die in dem Flur vorherrschte. Unwillkürlich fuhr sich Harry mit der freien Hand an die Ohren, als wollte er sie vor der Einsamkeit schützen.
Sich mit unsicheren Beinen vorwärts tastend, ließ er in einem langsamen Trauermarsch den Rest, der von seinem Leben noch übrig war, immer ein Bisschen weiter zurück. Als seine freie Hand den kühlen zerfurchten Messingtürgriff berührte, der die Aurorenzentrale vom übrigen Ministerium trennte, wandte er sich noch einmal um, aber alles, was er sehen konnte, verschwamm in seinen Tränen.
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Die hereinflutende Abenddämmerung glänzt auf dem Glas eines schwarzen Messingbilderrahmens, der vergessen unter einem Schreibtisch liegt, dessen geschwungene Ornamente das enthaltene Foto auf stilvolle Weise umrahmen. Ein junger Mann mit strubbeligem schwarzen Haar ist darauf zu sehen, der die rothaarige Frau an seiner Seite, die verlegen in die Kamera blickt, fest umklammert hält, als wolle er sie nie wieder loslassen. Zu den Füßen des braunen Sofas, auf dem sie sitzen, spielen zwei fröhliche Kinder, ein Mädchen und ein Junge, miteinander. Etwas abseits, auf einem Sessel, sitzt ein Junge mit einem Buch in der Hand, vollkommen versunken in seiner Traumwelt.
Ein pinkfarbener, fast verblasster Abdruck rahmt den Kopf des Mannes in nahezu perfekter Herzform ein. Ein Lippenbekenntnis, von dem eine Seite fast vollständig weggekratzt ist.
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Er stand bereits seit einer Weile auf der sorgfältig geharkten Einfahrt vor dem Haus der Familie Weasley. Mit einer Hand fuhr er sich unablässig durch sein strähniges Haar, als könnte er die Gedanken auf diese Weise dazu verleiten, schneller durch seinen Kopf zu strömen. Jedesmal rieselten ein paar wenige schwarze Haare wie Schneeflocken auf die oberste Treppenstufe. Die Andere ruhte bewegungslos auf der Klingel, darauf vorbereitet, sich rasch zu senken, sobald ihm klar geworden war, was er erzählen würde.
"Harry, du hier?"
Vollkommen erschrocken zuckte Harry zusammen und sein Finger presste den weißen Knopf in die Vertiefung, woraufhin ein helles Schellen im Haus zu hören war. Er drehte sich mit herabhängenden Mundwinkeln um und sah Ron Weasley, seinen besten Freund, mit einem breiten Grinsen auf ihn zugehen, das aber mit jedem Schritt, den er sich annäherte, verblasste.
Als er an der Haustür angekommen war und der Kies unter seinen Füßen das letzte Mal knirschte, öffnete sich langsam die Tür und Hermine tauchte ihren buschigen Haarschopf in die Nacht. Mit einem besorgten Ausdruck in ihren braunen Augen musterte sie Harrys ungewaschenes Haar und seinen zerknautschten Umhang.
"Du siehst wirklich scheiße aus -"
"Was ist passiert -"
Gleichzeitig begannen Hermine und Ron zu sprechen und unterbrachen sich damit untereinander. Nun, als er in die Gesichter seiner Freunde blickte, die verrieten, dass ihn nichts als ehrliche Anteilnahme erwartete, hätte er am Liebsten seine verfluchte Schublade genommen und wäre abgehauen, wie normalerweise auch immer der Nase nach durch die Straßen Londons gelaufen, um sich in den Menschenmengen seiner Einsamkeit hinzugeben.
Aber Hermine sprang hastig beiseite, einen unlackierten Fingernagel zwischen ihren Vorderzähnen, um sie einzulassen. Er spürte mehr, als dass er es sah, dass Ron seinen Ärmel ergriff und ihn mit erstaunlicher Kraft in das Licht des Flures zog. Sofort glitt ihm der charakteristische Geruch der großen Familie Weasley in die Nase, der auch hier vorherrschte, eine wilde Mischung aus einem plötzlichen Regenschauer an einem langen Sommerabend und dem vagen Duft nach Zimtkaffee, mit dem die alte Mrs. Weasley, seine Schwiegermutter, ihre Potpourris anreicherte. Es fühlte sich an wie damals, als er nach den Flitterwochen mit Ginny endlich wieder nach Hause kam und genau dieser Umstand war es, der die gefangengehaltenen Tränen nach Außen dringen ließ.
Er bekam kaum mit, wie Hermine einen Blick mit Ron tauschte, die Schublade mit Harrys Erinnerungen aufsammelte und sie nach einem kurzen Zögern auf das Telefontischchen stellte.
"Ich denke... ich werde mal nachsehen, ob bei den Kindern alles in Ordnung ist", murmelte sie vor sich hin, berührte Harrys Wange nur eine Sekunde lang und stieg dann die teppichbezogenen Stufen hoch, die zu den Wohnräumen führten.
Harry, in dessen verschleierter Sicht die warmen Farben des Hauses ineinanderflossen, spürte, wie sich Rons schwerer Arm um seine kraftlosen Schultern legte. Er warf einen unsicheren Blick in die Schublade und sprach dann mit rauer Stimme.
"Ich schätze mal, ich weiß, was los ist."
Die Zähne zusammenbeißend, die wegen der Schluchzer aus seiner Brust gegeneinanderschlugen, als würde er frieren, nickte Harry nur. In den folgenden Sekunden, die sich zu Minuten dehnten, war das Zähneklappern das einzig vernehmbare Geräusch.
Ron trat nervös von einem Bein auf das andere. "Wie wäre es, wenn wir uns setzen und du erstmal etwas trinkst?" Als bedürfe es keiner Antwort, schob er ihn mit dem Arm, der noch immer in seinem Nacken ruhte, sanft vorwärts, durch den Flur, in dem mehr Familienfotos hingen als in einem Atelier und zuletzt durch einen altmodischen Torbogen, der statt einer Tür in die Wand eingelassen war in das Wohnzimmer.
Harry ließ es zu, dass er in einen bequemen Sessel gedrückt wurde, ein Glas mit Scotch in die Hand bekam und genauestens gemustert wurde, wobei Ron die Hand an das glattrasierte Kinn legte. Unter dem für seinen Geschmack zu festen Blick wegtauchend, stand Harry wieder auf und ging im Raum umher. Bis auf das Ticken der Standuhr mit dem goldenen Pendel war kein Ton zu hören.
Ron schien zu bemerken, dass er es dem Anderen unmöglich machte, zu sprechen und wandte sich um, lehnte sich mit dem Rücken an eines der zahlreichen gut bestückten Bücherregale. Betont lässig steckte er die Hände in die ausgefransten Seitentaschen seiner grauen Jeans, aber damit konnte er Harry nicht täuschen, denn sein Blick wanderte fahrig im Raum herum, fokussierte ihn aber immer wieder, als wolle er sich vergewissern, dass er noch lebte.
Mit dem unbezähmbaren Wunsch, möglichst viel Raum zwischen sich und Ron zu bringen, wankte Harry zu dem verstaubten Klavier auf der anderen Seite des Raumes hinüber. Beim Gehen klirrten die Eiswürfel, die in seinem mit beiden Händen umklammerten Glas schwammen, wie Schüsse in der Stille.
"Das Allerschlimmste daran ist, dass ich nichts mehr habe." Seine Stimme war spröde und ein Rascheln, als würde er durch das Herbstlaub auf den Gehwegen laufen, begleitete jedes Wort.
Ron ging einen unwillkürlichen Schritt in seine Richtung, aber Harry unterbrach ihn dabei, indem er weitersprach. "Ginny lässt mich die Kinder nicht sehen. Und jetzt... ohne Arbeit, wird es unmöglich sein, mich davon abzulenken, weißt du?" Die Worte in seinem Mund schmeckten bitter.
"Ging es dir denn je gut, seit sie sich von dir scheiden lassen will?" Rons Frage hängt schwer im Raum und hallt in Harrys Kopf nach. Das Grollen seines Bauches lässt beide zusammenschrecken.
"Nie. Ich bin einfach nicht mehr ich selbst. Es ist ein einziger Alptraum."
Ein lautes Räuspern von Ron hallt durch den Raum. "Hast du Ginny denn schon gesagt, dass du arbeitslos bist und... dich entschuldigt? Der Grund deiner Fehler ist jetzt ausgemerzt, also..."
Harry reißt die Augen auf, das Glas fällt ihm aus Hand, als er sich an die Stirn greift. Sein heftig pochendes Herz treibt einen Puls an, den er seit langem nicht mehr gespürt hat. "Ron, du bist ein Genie. Daran habe ich wirklich nicht gedacht, weißt du? Danke!"
Mit wenigen, weit ausholenden Schritten ging er rasch auf den Flur hinaus, auf dem Hermine stand, die ein silbernes Tablett mit Keksen in der Hand hielt. Es zitterte, denn sie hielt es so verkrampft, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Zum ersten Mal seit Tagen riss sein starres Gesicht für ein echtes Lächeln auf. "Ich habe etwas zu erledigen!", verkündete er ihr im Vorbeigehen und war schon aus der Haustür in die eisige Herbstnacht geeilt, als er die Schritte, die ihm hinterherrannten, hörte.
"Harry, bleib' stehen!" Hermines Schrei teilte die dröhnende Stille, aber Harry gab vor, nicht gehört zu haben. "Warte, es gibt da etwas, das du wissen musst!"
Er konnte nicht stehenbleiben. Denn zum ersten Mal fühlte er den Mut, der ihn lange Zeit verlassen hatte, wieder in sich aufwallen und seine Glieder von Innen heraus erwärmen. Er konnte sich nicht stoppen lassen, nicht jetzt, als er wieder ein Ziel hatte.
To be continued.
