Ironie des Schicksals

Ironie des Schicksals

„Mama, Mama! Ich will! Ich will!", bettelte ein zweijähriger Junge mit tiefschwarzen Locken. „Bitte", flehte er und riss dazu seine schokobraunen Augen auf, weil er wusste, dass er so unwiderstehlich aussah. Genau wie sein Vater, dachte die dazugehörige Mutter wehmütig. „Na gut… das heißt, Vani, wärst du heute nicht dran?" – „Ich bin schon vier. Ich habe das schon so oft gemacht. Lass das den Zwerg machen", winkte das ebenfalls dunkel gelockte Mädchen altklug ab. „Mama", krähte der Junge wieder. „Na komm her, Jonas", forderte die Mutter das Kind auf. Sie beugte sich zu ihm herunter und hob ihn an. „Mensch, du wirst ja auch jeden Tag schwerer", seufzte sie. „So, dieser Briefkasten ist unserer, siehst du? Es steht Elisabeth, Sylvana und Jonas Seidel drauf." – „Ja, Mami", nickte Jonas eifrig. „Schlüssel reinstecken und umdrehen", gab er sich selbst eine Anleitung. „Puh, lass es keine Rechnungen sein", scherzte Lisa, als sie sah, wie viele Briefe ihr Sohn aus dem Briefkasten herausholte. „Ist bestimmt nur Werbung", mischte Vani sich ein. „Vermutlich", bestätigte Lisa, wobei sie ihren Sohn wieder auf den Boden stellte. Dieser übergab ihr die Post mit einer feierlich anmutenden Geste.

Wortlos folgte Lisa ihren Kindern die Treppe hinauf in ihre Wohnung. Den Weg kannte sie blind. Daher blätterte sie langsam durch die Post. GEZ… Die Abrechnung vom Bausparvertrag… etwas von der Versicherung… Werbung… eine Postkarte von Sabrina… ein Brief von Hannah und Bruno… Deutsche Stiftung Organtransplantation. „Mama!", forderte Vani ihre Mutter auf. „Willst du auf der Treppe Wurzeln schlagen? Ich muss mal Pipi." Lisa riss sich sofort aus ihrer Starre und wollte die letzten Stufen besonders schnell gehen, wobei sie – wie typisch für sie – ins Straucheln geriet.

„Vani, zieh doch erst die Schuhe aus", rief Lisa ihrer Tochter noch hinterher. Doch diese war schon im Bad verschwunden. „Jonas, komm, ich helfe dir beim Ausziehen." Bereitwillig ließ der Junge sich aus seinen kleinen Schuhen und seiner warmen Jacke helfen. „Darf ich mit den Autos spielen?", wollte er von seiner Mutter wissen. „Auf dem Teppich mit den Straßen drauf?" Seine Augen leuchteten begeistert. „Na klar", lächelte Lisa ihn an. „Aber du musst sie hinterher wieder in die Kiste räumen, ja?" – „Ja", nickte Jonas euphorisch. „Dann lauf", ermutigte Lisa ihn. Mehr musste der Junge nicht hören – er flitzte sofort ins Kinderzimmer.

Seufzend ließ Lisa sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen. Deutsche Stiftung Organtransplantation – was die wohl von ihr wollten? Die hatten doch alle Organe von David bekommen! Die würden doch nicht zweieinhalb Jahre danach noch irgendwelche Forderungen haben?! Lisa drehte den Umschlag wieder und wieder in den Händen. Er war dick. Nicht prall, aber dicker als ein Brief, in dem sich nur ein Blatt befand. Lisas Finger fuhren über die Klebenaht. Du musst ihn öffnen, ermutigte sie sich selbst. Nur so erfährst du, was die von dir wollen.

Ein kurzes Anschreiben. Die Erklärung, dass ihr ein Empfänger von Davids Organen etwas mitteilen wollte. Der Verweis darauf, dass sie diesem Prozedere zugestimmt hatte. Im Schock. Sie hatte unter Schock gestanden, als sie dem allem zugestimmt hatte. Lisa betrachtete den Umschlag, der dem Brief der Stiftung beigelegt war. In feinsäuberlicher Handschrift stand „An die Familie des Spenders" darauf. Wollte sie das? Wollte sie wirklich erfahren, was passiert war, nachdem sie ihr Einverständnis zur Transplantation gegeben hatte? Es würde nur unnötig Wunden aufreißen. Oder welche heilen… Es half vielleicht über den Verlust hinwegzukommen, wenn sie wusste, dass jemand mit Davids Organen weiterleben durfte. Wieder fuhr Lisas Finger über eine Klebenaht. Diesmal über den des zweiten Briefes. Es ist völlig anonym, sprach Lisa sich gut zu. Sie würde den Brief lesen, aber nicht antworten. Ja, das war ein guter Plan.

Liebe Spenderfamilie!

Ich habe lange überlegt, ob ich Ihnen überhaupt schreiben soll – schließlich darf ich nur wegen Ihres Verlustes weiterleben. Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Schritt wirklich wagen soll. Das letzte, was ich möchte, ist, Ihnen unnötig wehzutun. Nach reichlicher Überlegung bin ich aber zu dem Schluss gekommen, dass ich, wäre ich an Ihrer Stelle, wissen wollen würde, wie es dem Empfänger der Lunge meines Angehörigen geht. Ich schreibe Ihnen einfach, was ich lesen wollen würde, wenn ich an Ihrer Stelle wäre:

Ich heiße Arlette. Nun, eigentlich heiße ich nicht Arlette, sondern Bettina, aber es gab da mal ein Missverständnis zwischen mir und meinem Mann, als wir uns kennen gelernt haben und seither nennt er mich Arlette. Ich bin gerade 30 geworden, lebe in Berlin, habe keine Geschwister, dafür aber gerade einen entzückenden kleinen Jungen adoptiert – gemeinsam mit meinem Mann natürlich. Eduardo, das ist mein Sohn, ist neun Monate alt. Wir konnten ihn aus Paraguay adoptieren. Es hat uns viele Nerven und Geduld gekostet, bis die Adoption bewilligt war, aber wenn ich ihn mir so ansehe, dann hat sich das alles gelohnt.

Wie gesagt, ich habe die Lungen Ihres Angehörigen bekommen. Ich bin kein Kettenraucher oder habe meine Lungenkrankheit irgendwie anders selbst verschuldet. Ich hatte Mukoviszidose. An dem Abend, als die erlösende Nachricht kam, dass man ein Spenderorgan gefunden hätte, war mein Zustand bereits so schlimm, dass ich künstlich beatmet werden musste. Doch ich, feige wie ich bin, hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Ich hatte mich dazu entschieden, mich extubieren zu lassen. Das wäre mein Ende gewesen, das wusste ich, aber ich konnte einfach nicht mehr. Selbst mein Mann konnte mir keine Kraft mehr geben und er hatte so viel davon. Mein Mann ist so ein Kämpfer, so viel stärker als ich. Zu dem Zeitpunkt war er ja noch gar nicht mein Mann. Da war er erstmal nur mein Lebensgefährte. Er hat schon irre Ideen! Ich war noch im Krankenhaus, als er einfach mit einem Standesbeamten in mein Zimmer marschiert kam. Wir hatten diese kleine, unglaublich liebevolle Zeremonie in diesem kalten, weißen Krankenzimmer… Ich war glücklich. Dafür brauchte ich kein langes Kleid mit Schleppe – ich hatte ja dieses Krankenhausnachthemd, Sie wissen schon, die, die hinten offen sind und diese sexy Kompressionsstrümpfe. Mein Mann trug seinen Lieblingsanzug. Der ist lila und darunter sein Lieblingshemd. Das ist schwarz mit bunten Stickereien drauf. Meine Schwiegermutter nennt es das Cowboy-Hemd.

Mittlerweile führe ich ein fast normales Leben – fast normal, weil es eben eine Umstellung ist, plötzlich ein Kleinkind im Haus zu haben, weil alles aufregend und neu ist, weil ich immer noch viele Medikamente nehmen muss. Nichtsdestotrotz wäre das alles ohne Ihre mutige Entscheidung nicht möglich gewesen und dafür möchte ich Ihnen von ganzem Herzen Danke sagen!

Ihre Arlette Kowalski

P.S.: Ich habe Ihnen ein Foto von mir und meiner Familie beigelegt, damit Sie sich selbst ein Bild machen können, wie es mir heute geht.

Kowalski. Bereits bei dem Namen hatte es bei Lisa geklingelt. Wieder sah sie den Mann vor sich, den sie vor über vier Jahren beinahe geheiratet hatte. Das war sicher nur Zufall. Kowalski, das war ja direkt nach Meier, Müller, Schultze und Schmidt, der häufigste Nachname in Berlin, oder? Lisa zog das Foto hervor. Ihr Blick fiel sofort auf den kleinen Jungen im Vordergrund. Der würde sicher mal ein Latinlover werden, schmunzelte sie in sich hinein. Diese Arlette hielt ihn am Bauch fest, so dass er stehen konnte. Sein Blick war allerdings nicht in die Kamera gerichtet, sondern folgte seinem eigenen linken Zeigefinger. Diese Arlette machte einen sympathischen Eindruck. Sie lächelte glücklich und direkt in die Kamera hinein – es kam Lisa so vor, als würde Arlette sie ansehen. Sie trug einen Haarreifen, der ihr hellbraunes, langes Haar zurückhielt, dazu ein langes, kariertes Flatterkleid. Sie wirkte einfach nur glücklich. Lisa seufzte – solche Bilder gab es von ihr, David und Sylvana auch. Dann fiel ihr Blick auf die dritte Person, die das Foto zeigte. Rokko!, schoss es ihr sofort durch den Kopf. Das war tatsächlich Rokko! Er wirkte genauso glücklich wie seine Frau. Beschützend hielt er seine Hand so, dass Eduardo dagegen fallen würde, wenn er das Gleichgewicht verlor. Sein zweiter Arm verschwand irgendwo auf Arlettes Rücken. Lisa schluchzte laut auf. Das war… das konnte… von allen Organ-Empfängern war Davids Lunge ausgerechnet an Rokkos Frau gegangen?! Und diese Frau nahm jetzt auch noch Kontakt zu ihr auf?! Er hatte so kurz davor gestanden, sie zu verlieren und dann… Lisa zuckte zusammen – er hätte fast zum zweiten Mal die Frau verloren, die er liebte und ausgerechnet Davids rasanter Fahrstil hatte das verhindert? Nein, nicht sein Fahrstil – ihre Entscheidung. „Mama?", fragte eine Kinderstimme. „Denkst du gerade an Papa?" Sylvana Seidel ging auf ihre Mutter zu und legte ihre Kinderarme um sie. „Ja, irgendwie schon. Was gibt es denn, Kleines?", wollte Lisa sich die Tränen aus dem Gesicht wischend wissen. „Jonas und ich haben gespielt, aber jetzt haben wir Hunger. Können wir ein paar Kekse haben?" Lisa begann schwach zu lächeln. „Ja, könnt ihr, aber nicht zu viele, sonst habt ihr nachher keinen Hunger mehr für's Abendessen. Geh schon mal in die Küche. Ich komme gleich nach und gieße euch Milch ein." – „Wir wollen aber keine Milch", wiegelte Sylvana ab. „Aber Milch gehört nun einmal zu Keksen dazu", entschied Lisa. „Na gut", zuckte Sylvana mit den Schultern und wollte Lisas Arbeitszimmer schon wieder verlassen. Im Türrahmen angekommen, drehte sie sich noch einmal um. „Sei wegen Papa nicht immer so traurig. Er ist doch jetzt ein Stern. Wenn es nachher dunkel ist, dann sehen wir ihn wieder."