„Luigi?"
Die Stimme der Mailänderin erhellte die Dunkelheit des Raums für ihn wie tausend Sonnen – denn sie war es, seine Sonne. O sole mio. Nur für sie sang er andere Lieder als die Parolen des Anarchismus.
Langsam öffnete der junge Mann die Augen und sah zur Decke hinauf. Sie hatte keine andere Farbe als seine Vergangenheit. Schwarz.
„Ich muss weg." Die Stimme neben ihn klang ängstlich.
„Das sieht dir ähnlich.", sagte er verletzt. „Jedes Mal wenn wir uns näher kommen flüchtest du zu deinem Zuhälter."
Die Mailänderin schnappte nach Luft und stand auf. „Denkst du nicht, das wir und schon etwas zu nahe gekommen sind?", zischte sie wütend. Sie suchte ihr Kleid.
„Freu dich doch darüber. Vielleicht widmet man dir ja ein Kapitel in einer meiner Biografien?" Er lächelte in die Richtung, in der er sie vermutete.
„Du willst, das die Welt weiß, das du mit einer Hure schläfst?" „Genau so soll es in den Geschichtsbüchern stehen."
Er spürte, wie sie sich an seine Seite auf die Bettkante setzte und richtete sich auf. „Der Anarchist Luigi Lucheni schläft mit einer Hure und besitzt obendrein noch die Dreistheit, sie nicht zu bezahlen." Er suchte nach ihrer Hand und ergriff sie. „Wie die großen Könige."
Sie fuhr mit ihren Fingern über seine Bartstoppeln. „Wir beide wissen, dass du nicht den Mut dazu hast.", wisperte sie.
„Noch nicht. Aber er wächst mit jedem Tag, an dem ich die Menschen hungern sehe." „Pass auf, das er dir nicht das Hirn vernebelt". Ihre Stimme wurde plötzlich ernst, als sie aufstand und die Tür suchte. Stille kehrte in den kleinen Raum ein, bis die Mailänderin sie öffnete. „Du bist dumm, Luigi."
„Aber du liest die Bücher doch trotzdem, oder?"
„Ich werde dafür lesen lernen." Mit diesem Versprechen ließ ihn zurück im Schwarz der Zukunft.
Luigi Lucheni ermordet am 10. September 1898 die österreichische Kaiserin Elisabeth und fordert zunächst die Todesstrafe. Er wird zu lebenslanger Haft verurteilt, seinen Wunsch zu sterben erfüllt er sich am 19. Oktober 1910, als er sich in seiner Gefängniszelle erhängt.
