Fandom: Supernatural
Autorin: Jess O'Neal
Disclaimer: Ich habe keinerlei Rechte an „Supernatural" und verdiene kein Geld damit.
Wichtige Charaktere: Dean Winchester, Sam Winchester, Francis Poncherello, Jon Baker
A/N: Diese Supernatural-Story habe ich bereits vor einigen Jahren geschrieben, und bin nun dabei, sie zu überarbeiten, zumal sich mein Stil doch um einiges gewandelt hat.
Ich wünsche euch viel Spaß, Spannung und Mitleiden und würde mich natürlich sehr über euer Feedback freuen.
Viele Grüße, Jess
SUPERNATURAL
Irrlichter
1
Dean schaute zu seinem Bruder hinüber und musste grinsen. So verrenkt, wie Sam auf dem Beifahrersitz lag und schlief, würden ihm am nächsten Tag garantiert alle Knochen wehtun. Doch Dean spürte, wie auch ihm so langsam aber sicher die Müdigkeit zu schaffen machte. Seit ihrer kurzen Nachmittagspause fuhr er nun bereits seit über vier Stunden ohne Unterbrechung weiter in Richtung Westen. Schon lange war die Sonne untergegangen, und ein fahler Vollmond ließ die blank geputzte Motorhaube des Impalas leicht schimmern.
Dean lächelte. Er liebte es, wenn sein Wagen so aussah. Wenn er den Anblick des schwarz schimmernden Lacks vor sich hatte und das zufriedene Blubbern des V8-Motors hörte, dann schien die Welt in Ordnung zu sein. Leider schien es nur so. Und daran wurde er öfter erinnert, als es ihm lieb war.
Sie befanden auf dem Weg nach Belmont, einer Geisterstadt mitten in Nevada. Eigentlich fand Dean es ja lächerlich, in einer Geisterstadt nach Geistern zu suchen. In solchen Orten wimmelte es bestimmt nur so vor Touristen, und wahrscheinlich gab es dort überhaupt nichts für die Winchesters zu tun. Der Saloongeist würde sich als Schauspieler entpuppen, und die Grabsteine auf dem Friedhof leuchteten garantiert auch nicht von allein. Bestimmt hatte sich da ein kluger Geschäftsmann ein paar nette Gruseleien einfallen lassen, damit die Kasse wieder klingelte.
Aber Sam hatte darauf bestanden, dass sie dort nach dem Rechten sehen sollten. In der Zeitung stand etwas von merkwürdigen Feuern oder Lichtern auf dem Friedhof und rund um die Geisterstadt herum. Außerdem wurde ein Grab geschändet, in dem zwei Skelette begraben lagen - beiden fehlte jetzt jeweils die rechte Hand. Dean vermutete, dass hier ein paar Gruselhungrige am Werk waren und dass das Aufschaufeln des Grabes eine Art Mutprobe war.
Na ja, bald werden wir es ja wissen, sagte er sich.
Aber jetzt brauchten sie erst einmal ein schönes, warmes Bett. Es war zwar erst Ende September, aber hier auf der Hochebene herrschten schon recht kühle Temperaturen. Vor allem nachts.
Vor einigen Kilometern hatte Dean ein Motel-Hinweisschild gesehen, nur auf die Entfernung hatte er nicht geachtet.
Bestimmt taucht es gleich auf, vermutete er. Oder wenigstens ein weiteres Schild.
Plötzlich glaubte Dean seinen Sinnen nicht trauen zu können. War das, was da als kleine weiße Flocken im Lichtstrahl der Scheinwerfer tanzte tatsächlich Schnee? Ungläubig rieb er sich über die Augen, bevor er wieder nach draußen starrte.
„Das kann doch nicht sein", murmelte er vor sich hin.
Wie, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen, begann es auf einmal wie verrückt zu schneien. Dicke Flocken nahmen dem Winchester mehr und mehr die Sicht.
Oh Mann, das hat uns gerade noch gefehlt!
Und das Motel war immer noch nicht in Sicht. Missgelaunt nahm Dean den Fuß vom Gas und verlangsamte seine Fahrt. Das dunkle Asphaltband vor ihm verwandelte sich nach und nach in ein weißes glitzerndes Schneeband, und wenn es nicht so verdammt rutschig wäre, hätte Dean den Anblick vielleicht sogar genießen können. Und wenn er nicht so verdammt müde wäre, dann hätte er sich über diese Möglichkeit eine kleine Drifteinlage hinzulegen sogar gefreut. Aber so …
Schon beinahe verkrampft, um die Lider am Zufallen zu hindern, blinzelte Dean in die weiße Pracht. Die Schneeflocken, die die ganze Zeit auf ihn zuflogen, ließen seine Augen immer mehr brennen.
Doch was war das? Blinkte da vorn nicht etwas Orangefarbenes? Dean näherte sich noch ein bisschen langsamer, als er ohnehin schon gefahren war, dem orangen Licht. Es entpuppte sich als ein Verkehrsschild: WEITERFAHRT NUR MIT SCHNEEKETTEN ERLAUBT!
Na toll, dachte er. Und wo soll ich jetzt Schneeketten herbekommen?
Im Schneckentempo, genau so nannte Dean die Geschwindigkeit, mit der er sich gerade fortbewegte, ging es weiter. Die Schneedecke auf der Straße wurde zunehmend dicker, und immer wieder rutschte der Impala mit dem Heck weg. Unglücklicherweise überquerten sie gerade einen Pass, und an beiden Seiten ging es bergab, wie steil und wie tief wusste Dean nicht. Und genaugenommen wollte er es auch nicht wissen.
Hin und wieder säumten größere Felsen – die Grenze zum Abgrund - den Straßenrand, und auch wenn sie ein eventuelles Abstürzen würden verhindern können, so würden sie doch dem Impala gehörigen Schaden zufügen, sollte der zu sehr schlingern und dagegen krachen. Deans Nervosität stieg.
Und Sam schlummerte friedlich vor sich hin und bekam von all dem nichts mit.
Hinter ihnen kam auf einmal mit hoher Geschwindigkeit ein Schneeräumfahrzeug angerast – bei Deans derzeitigem Tempo wirkte alles über Wandergeschwindigkeit als Rasen - und hupte wie verrückt. Dean war kurz vor dem Explodieren. Der dämliche Job, der unvorhersehbare Wintereinbruch, die Müdigkeit, die schon seit längerem an seinen Nerven zehrte, und dann hupte dieser Idiot in seinem Mega-Fahrzeug auch noch. Wo sollte Dean denn hin? Sich vielleicht in ein Schneeflöckchen auflösen? Aber vielleicht wollte der Typ da hinter ihm auch einen um einen Felsblock gewickelten Impala sehen, der dann innerhalb von Sekunden im Schnee verschwand, wenn der Truck seine Schneeladung zur Seite schob.
Das Räumfahrzeug fuhr nun direkt hinter den Brüdern, seine Scheinwerfer füllten den Rückspiegel komplett aus. Und es hupte noch immer.
Ganz ruhig bleiben, sagte sich Dean. Lass dich nicht nötigen, dieser Idiot da kommt noch früh genug vorbei.
Er warf einen Blick zur Seite: Sam schlief unbeirrt weiter. Dean seufzte. So einen festen Schlaf konnte man wohl nur haben, wenn man sich in der Obhut eines großen Bruders wusste.
Endlich machte er vor sich etwas aus, das einer Parkbucht ähnelte - wahrscheinlich handelte es sich um einen dieser Landschafts-Aussichtspunkte, bei dem Schneetreiben war das nicht so genau zu erkennen. Vorsichtig steuerte Dean seinen Wagen ein wenig nach rechts, wo der Schnee zu allem Überfluss auch noch tiefer war, sodass der Impala augenblicklich wegrutschte. Geschickt lenkte Dean gegen, und gerade noch rechtzeitig, kurz vor einigen Felsen, kamen sie zum Stehen.
Das Schneeräumfahrzeug rauschte hupend und blinkend vorbei, seine Schneeladung spritzte im hohen Bogen zur Seite – mitten auf die Motorhaube des Impalas. Deans Hände umklammerten das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten, doch er sagte nichts. Starrte nur fassungslos dem Schneemonster nach, bis das orangefarbene Flackern vollkommen verschwunden war.
„Verfluchter Scheißkerl!" murmelte Dean mit einem bedrohlichen Unterton in der Stimme. Er atmete einmal tief durch, dann gab er behutsam Gas und versuchte den Impala wieder aus dem Schnee zu befreien. Doch das Durchdrehen der Räder bestätigte ihm seine Vermutung, die er ohnehin schon gehabt hatte: Sie saßen fest.
Mit einem Ruck drehte Dean den Zündschlüssel herum und das zufriedene Blubbern des Motors erstarb.
Jetzt konnte er sich nicht mehr beherrschen und brüllte laut: „Scheißkerl!" Die Wut brodelte geradezu in ihm. Wenn er nicht so bedrängt worden wäre, wären sie garantiert unversehrt beim nächsten Motel angekommen.
Neben ihm raschelte Stoff, Sam schob sich im Beifahrersitz nach oben und räkelte sich etwas.
„Was'n los?", fragte der Jüngere verschlafen. „Wo sind wir? Und was ist das? - Schnee?"
„Herzlich willkommen im ‚Snow-Car-Motel'", sagte Dean, und seine Stimme troff geradezu vor Ironie.
„Das ist nicht dein Ernst!" Sam starrte ungläubig auf die Riesenladung Schnee, die die Haube des Impalas unter sich versteckte.
„Hast du vielleicht eine bessere Idee? Wir kommen hier im Moment nicht weiter!"
„Ja, aber…"
„Was aber?"
Eigentlich hatte Sam nachfragen wollen, was überhaupt passiert sei, doch bei dem hohen Aggressionslevel, auf dem sein Bruder sich zweifellos gerade befand, zog er es vor, sich zurückzuhalten.
„Ich muss erst mal!", murmelte er stattdessen.
„Auf deiner Seite geht die Tür bestimmt noch auf", grinste Dean halbherzig.
Als Sam wieder in den Impala stieg, hatte er die Tasche mit den Klamotten aus dem Kofferraum dabei.
„Dann wollen wir es uns mal bequem machen", sagte er. „Ich denke, wir sollten uns einfach mehrere Lagen anziehen. Und da wir keine Decken haben, müssen wir uns wohl gegenseitig wärmen, falls es zu kalt wird."
„Was? Du glaubst doch nicht, dass ich mich mit dir zusammenkuschele, nur weil wir hier gerade einschneien. Da muss schon was Schlimmeres kommen!", sagte Dean.
„Und was nennst du schlimmer als Erfrieren?"
Dean machte den Mund auf, als wollte er etwas sagen, aber dann überlegte er es sich und schloss ihn wieder.
Ohne weiteren Kommentar zog sich Sam mehrere seiner Pullis, Jacken und auch Hosen übereinander an. Dann kletterte er nach hinten und machte es sich auf der Rücksitzbank so bequem, wie es bei seiner Größe möglich war.
„Gute Nacht, Dean", sagte er.
Dean starrte ihn an. Der hat ja die Ruhe weg …Aber da ihm nichts Besseres einfiel, machte er es seinem Bruder nach und legte sich dann im vorderen Teil seines Wagens hin.
Dean wachte immer wieder auf. Ständig kamen die Schneepflüge vorbeigerauscht und tauchten das Innere des Impalas in Motorenlärm und orangefarbenes Blinken, und eine Schneeladung nach der anderen prasselte gegen die Seite seines Wagens. Ihm war tierisch kalt, trotz der vielen Klamotten, die er übereinander trug. Hinten hörte er Sam leise schnarchen. Sie hätten doch die Vordersitze zurückklappen und sich dort nebeneinander hinlegen sollen, dachte Dean. Ihm war verdammt kalt geworden; das hatte er nicht erwartet. Der Winchester versuchte sich warme Gedanken zu machen, doch dieser dämliche Spruch half nicht wirklich. Er stellte sich vor, dass er am Strand in der Südsee liegen würde. Die Sonne schien auf ihn und erwärmte jede Faser seines Körpers. Die Wellen platschten leise auf den Sand und in weiter Ferne hörte er etwas Reggaemusik. Metallica wäre ihm zwar lieber gewesen, aber auch so fühlte er sich nach und nach immer entspannter. Vorsichtig blinzelte er mit den Augen und sah kleine, weiße Wölkchen über den azurblauen Himmel ziehen. Plötzlich kam ein großer weißer Riese mit dem Arm voller Mäntel und wollte diese Mäntel an die Strandbesucher verkaufen. Probeweise legte er einen über Dean. Der Mantel war eiskalt. Dean begann zu frösteln und zu zittern.
„Nein, lass mich in Ruhe!", nuschelte er, doch sein Bruder hatte ihn trotzdem verstanden und legte noch eine seiner Jacken über Dean, der zitternd auf der Vorderbank lag und sich zu wehren versuchte. Aber Sam hielt die Jacke über ihm fest bis der Ältere wieder ruhig weiterschlief.
Es dämmerte bereits, als die Schnee-Sintflut sich zurückzog. Sam wischte die beschlagene Seitenscheibe frei und spähte nach draußen. Von den Schneeräumfahrzeugen war nichts mehr zu sehen, und die Straße sah relativ frei aus. Das Dumme war nur, dass ihr Wagen durch einen riesigen Schneewall von der Straße getrennt und zu allem Überfluss auch noch halb zugeschüttet worden war. Wie gut, dass sie immer zwei Schaufeln dabeihatten - im Notfall konnte man sie sogar zum Schnee schippen benutzen …
Als Dean aufwachte hatte sein Bruder schon eine Art Ausfahrt im Schneewall freigeschaufelt. Sogar die Fahrerseite des Impalas war wieder fast schneefrei.
Sam klopfte an die Seitenscheibe, als er bemerkte, dass sein Bruder wach war.
„Guten Morgen! Gut geschlafen?", rief er grinsend.
Dean kurbelte das Fenster halb herunter und grummelte: „Hör bloß auf!" Ihm war noch immer kalt. „Und wo gibt's hier Kaffee für einen guten Morgen?"
Sam verdrehte die Augen, schippte noch ein paar Ladungen Schnee zur Seite und verstaute anschließend die Schaufeln wieder im Kofferraum.
Während er die Fahrertür öffnete, sagte er: „Rutsch rüber. Ich fahre. Bei deinem Gezitter landen wir doch nur wieder in einer Schneewehe."
Dean schob sich auf die Beifahrerseite und drückte die Cassette in den Player. Er verschränkte seine Arme vor der Brust, schloss die Augen und ignorierte Sams fragenden Blick.
Der Jüngere zuckte leicht mit den Schultern, startete den Wagen und fuhr ganz langsam los. Er war froh, dass seine Arbeit ausgereicht hatte, der Chevy setzte sich gehorsam in Bewegung. Als Sam ihn wieder auf die Straße lenkte, gab er auch schon Gas. Augenblicklich rutschte der Impala mit dem Heck herum und Sam jauchzte laut auf. Dean klammerte sich an der Haltegriff und sah seinen Bruder vorwurfsvoll an.
„Fahr langsamer!" befahl er energisch. Es lag immer noch ein Menge Schneematsch auf der Fahrbahn, und auch wenn er wusste, dass sein Bruder gut Autofahren konnte, so fühlte er sich auf der Beifahrerseite doch alles andere als wohl.
„Was hast du denn? Denkst du, ich kann bei Schnee nicht fahren?" Diesmal grinste Sam so unverschämt, wie es Dean sonst immer tat.
„Aber mein Baby!", schrie Dean und setzte schon an, seinem Bruder ins Lenkrad zu greifen, damit er wieder rechts ranfuhr und sie die Plätze tauschen konnten. Aber dann überlegte er es sich. Er war einfach zu müde und ihm war kalt. Notfalls müsste er seinen Wagen halt wieder reparieren, damit hatte er ja inzwischen Übung. Müde fuhr er sich mit der rechten Hand über die Augen und ließ seine Hand dann dort ruhen, damit er Sams Fahr-Experimente nicht auch noch mit ansehen musste.
Sam kam unfallfrei beim nächsten Motel an. Deans erste Handlung war, nach dem Parken mit einem prüfenden Blick um sein Baby herumzulaufen, auch wenn er wusste, dass es nichts zu entdecken gab. Kopfschüttelnd verschwand Sam in Richtung Rezeption und kam wenige Minuten später bereits mit einem Zimmerschlüssel zurück.
Während Dean sofort im Bad verschwand und sich erst einmal zum Aufwärmen in die Badewanne legte, checkte Sam die Nachrichten. Zu seinem Bedauern fand er nichts Neues, was ihren Fall betreffen könnte.
„Wenn du nichts dagegen hast, lege ich mich noch `ne Runde aufs Ohr!", sagte Dean, als er seine Körpertemperatur wieder auf wohlige 37 Grad gebracht hatte.
Sam nickte nur und verschwand dann ebenfalls im Bad.
2
Am Nachmittag hatten die beiden ausgeschlafen, packten ihre Sachen und machten sich wieder auf den Weg nach Belmont. Mit jeder Meile, die der Impala hinter sich ließ, verringerten sich auch die Schneemassen rechts und links der geräumten Fahrbahn. Genaugenommen bedauerte Dean es, dass die Straßen wieder frei waren, denn jetzt, im ausgeschlafenen Zustand, wäre er zu gerne ein wenig gedriftet. Für eine Millisekunde überlegte er sogar, einfach in die andere Richtung, wieder über den Pass, zu fahren. Doch bei seinem Glück, das er gerade hatte, waren bestimmt auch dort keine schneebedeckten Fahrbahnen mehr zu finden. Also auf nach Westen!
Gegen Abend checkten die Brüder in einem Motel in Carvers ein. Als sie ihr Zimmer betraten, staunten sie nicht schlecht. Es sah trotz angedeutetem Westernstil richtig gemütlich aus, und sauber war es obendrein. So etwas bekamen sie nicht alle Tage, vor allem nicht zu so einem günstigen Preis.
„Wir sollten eine Weile hier bleiben. Bis Belmont sind es nur noch rund dreißig Meilen, und ich denke im Geistersaloon werden wir nicht so ein gutes Zimmer finden", sagte Sam.
Dean nickte. „Was hast du denn über Belmont so herausgefunden? Leben da überhaupt noch Menschen?"
„Leben wohl eher nicht. Aber im Saloon gibt es so einen Souvenir-Shop und einen Imbiss. Angeblich soll dort nachts eine Frau herumspuken. Sie sitzt an der Bar und wartete darauf, zum Tanz aufgefordert zu werden, heißt es", erklärte Sam mit einem leichten Schmunzeln.
„Und? Wollen wir heute Abend noch ein Tänzchen mit ihr wagen?", fragte Dean, und seine Augen blitzen voller Abenteuerlust. Nicht weil er damit rechnete, in Belmont einem Geist oder anderem übernatürlichen Wesen zu begegnen, sondern vielmehr, weil er sich schon ausmalte, wie er seinen kleinen Bruder dort mal wieder so richtig schön ärgern könnte. Er konnte ja nicht ahnen, dass er dazu keine Gelegenheit bekommen würde.
Sam erwiderte: „Warum nicht? Ich bin noch hellwach."
Und so machten sich Dean und Sam, zwei erfahrene Monsterjäger, noch am selben Abend auf den Weg in eine Touristen-Geisterstadt. Unterwegs brachte Sam seinen Bruder auf den aktuellen Stand seiner Recherchen über Belmonts historische Vergangenheit:
Ende des 19. Jahrhunderts wurde in den nahe gelegenen Bergen eine Menge Silber gefunden. Deshalb entstand mit Belmont schnell eine richtige Kleinstadt, selbst ein eigenes Gerichtsgebäude wurde gebaut. Damals lebten so um die viertausend Menschen dort, und für die Zugereisten gab es mehrere Hotels, Restaurants und Saloons. Doch als die Minen nicht mehr genug Silber abwarfen ging es mit der Blüte der Stadt schnell zu Ende. Nur zwanzig Jahre nach der Gründung wohnte keine Menschenseele mehr dort.
„Und was gab es damals an besonderen Vorkommnissen? Morde, Selbstmorde, Verschwinden von Menschen, merkwürdige Erscheinungen?", fragte Dean.
„Eigentlich nichts … Erwähnt wird nur, dass zwei Fremde, Charlie McIntyre und Jack Walter, in die Stadt kamen und mit einem Einwohner namens Sutherland Streit angefangen haben. Es gab einen Revolverkampf, bei dem sie Sutherland verwundeten. Die zwei Fremden wurden daraufhin eingesperrt, sind aber in der Nacht gleich wieder geflohen. Zwei Tage später hat man sie aufgegriffen. Und als sie in die Stadt gebracht wurden, gab es einen Aufstand in der Bevölkerung. Dabei wurden sie im Erdgeschoss des Gerichtsgebäudes gelyncht. Man hat sie dann gemeinsam in einem Grab am Straßenrand in der Nähe des eigentlichen Friedhofs begraben."
„Das Grab, das jetzt freigelegt wurde?"
Mit einem Schulterzucken erklärte Sam: „Wahrscheinlich. In der Zeitung standen keine Namen, aber wenn zwei Skelette in einem Grab liegen … Ich glaube nicht, dass so was dort öfter vorgekommen ist. - Da hätten wir eben links rein gemusst."
Dean wendete den Wagen und bog dann rechts auf eine unbefestigte Straße ab, obwohl das Wort Straße für diese Piste mehr als übertrieben war. Es handelte sich eigentlich nur um einen Sand- und Steinweg, gesäumt von Felsblöcken und niedrigen Dornbüschen. Der noch immer fast volle Mond verbesserte die Sicht zwar ein wenig, doch wirklich erkennen konnte man trotzdem nichts. Im Hintergrund setzte sich eine bergige Silhouette leicht gegen den Nachthimmel ab - wahrscheinlich befanden sich dort die alten Silberminen.
Schon bald tauchten die ersten Gebäudereste im Scheinwerferlicht auf und warfen dunkle, über den Boden huschende Schatten. Auf einmal fuhren die Brüder durch eine Unzahl von kleinen Holzhütten, die meisten davon waren bereits zusammengebrochen.
„Hier haben bestimmt die Minenarbeiter gewohnt", vermutete Dean. „Und was ist das da hinten?"
Auf einer Anhöhe, in einiger Entfernung, war ein großes Gebäude mit einem Turm und mehreren Schornsteinen deutlich zu erkennen. Der Mond stand, aus der Perspektive der Winchesters betrachtet, genau darüber und sorgte so für eine wunderbare Horrorfilmkulisse. Doch das beeindruckte die Jäger nicht besonders.
„Ob da das Gefängnis drin war?", überlegte Sam.
Dean zuckte mit den Schultern und fuhr langsam weiter durch die Geisterstadt.
„Hey, sieh mal, den Wagen dort!", rief Dean plötzlich und zeigte nach rechts. Unweit des Weges stand das Wrack von einem alten Ford Modell A. Dean hielt an, stieg aus und schnappte sich seine Taschenlampe.
„Dean, du willst dir doch jetzt nicht etwa das Auto ansehen?", fragte Sam leicht genervt.
„Warum nicht? Mann, der wurde gegen Ende der Zwanziger gebaut. So ein Auto sieht man nicht alle Tage, Sammy."
Resignierend, denn gegen Oldtimer war Sam bei seinem Bruder noch nie angekommen, stieg er ebenfalls aus und ging zu Dean hinüber. Als er die Wagenfarbe sah, die noch zwischen dem ganzen Rost hindurch schimmerte, musste er breit grinsen. „Und erst recht nicht in Babyrosa!"
„Der war bestimmt mal Rot." Dean ließ sich seine Begeisterung nicht verderben und schaute sich den verrosteten Motor an. „Wow, das war ein L-Kopf-4-Zylinder. Sam, der fuhr fast 80 Meilen pro Stunde! Das war der Renner damals!"
Die Wrackbesichtigung reizte Sam nicht besonders, und so wandte er sich ab, um nachzusehen, was es auf der anderen Straßenseite zu entdecken gab.
„Da hinten ist der Saloon!", rief er zu Dean. „Komm jetzt, wir wollen hier keine Oldtimer besichtigen!"
Bei dem Saloon handelte es sich um ein Holzbauwerk, auf dessen riesigem, über dem Verandadach befestigten, halbkreisförmigen Schild zu lesen war: „DIRTY DICK´S BELMONT SALOON". Direkt darunter, umrahmt von zwei Türen, lud eine alte Bank zum Verweilen ein.
Die Brüder stiegen die unter ihrem Gewicht ächzenden Holzstufen hoch und musterten im Licht ihrer Taschenlampen die Fassade. An der ersten Tür hing ein Geschlossen-Schild, das eindeutig nicht aus der guten alten Zeit stammte. Neugierig leuchtete Dean durch das riesige, metallene Gitterfenster ins Innere und erblickte dort Regale und Tresen mit allerlei Krimskrams.
„Das muss der Souvenir-Shop sein", sagte Dean.
Sam untersuchte indessen durch das nächste Fenster den zweiten Raum und konnte dort einige Tische und Stühle erkennen.
„Und hier ist der alte Saloon."
Vorsichtig drückte er den Griff der zweiten Tür herunter, und sie schwang mit einem leisen Knarren auf. Im nächsten Moment schlug ihnen kühle und muffige Luft entgegen, die die Brüder die Nasen rümpfen ließ.
Nach einem kurzen Blickwechsel nickten sie sich zu und betraten langsam den alten Saloon. Auch wenn keiner von ihnen damit rechnete Jemanden oder Etwas hier zu treffen, so konnte es nie schaden, Vorsicht walten zu lassen. Doch schon nach kurzer Zeit entspannten sie sich und betrachteten den Raum genauer.
Es gab einige Tische mit Stühlen und gleich rechts eine lange Bar, die ziemlich neu aussah. Dahinter summte ein moderner Kühlschrank, aber eine uralte Registrierkasse stand nahe dem Tresen. Wahrscheinlich wurde hier noch an Touristen ausgeschenkt. Sam entdeckte einen Lichtschalter und betätigte ihn. Sofort flammten über den Tischen und der Bar einige altertümliche, schmuddelige Lampen auf, die den Raum in ein dämmeriges Licht tauchten. Die Hörner, Geweihe und Tierköpfe an den Wänden glotzten jetzt drohend auf die Besucher herab, und selbst die lächelnden, vollbusigen Damen, die die Gemälde zierten, wirkten zwielichtig.
„Also richtig wohlfühlen würde ich mich hier nicht", raunte Dean seinem Bruder zu, der ihm nickend zustimmte.
Schweigend überprüfte Dean alles mit dem EMF-Messgerät - es zeigte nicht die geringste elektromagnetische Störung an.
„Hier ist überhaupt nichts! Und auf keinen Fall ein nicht lebender Saloongeist", sagte er schließlich.
„Okay. Lass uns noch das Gefängnis prüfen, und dann suchen das Grab von McIntyre und Walter."
Sie fuhren mit dem Impala zu dem zweistöckigen Backsteingebäude mit den vielen Schornsteinen hoch. Der Weg führte zwischen zwei Gruppen von gigantischen Bäumen hindurch, und direkt danach tauchte vor den Brüdern das alte Gerichtsgebäude auf, dessen unterer Teil im Scheinwerferlicht nur teilweise zu erkennen war, während der obere Teil sich gespenstisch vom Nachthimmel abhob. So betrachtet machte es einen beunruhigenden Eindruck, ein Monument einer schicksalhaften Vergangenheit.
Dean parkte direkt vor dem Eingang, um diese Zeit musste er sich garantiert keine Sorgen wegen Nichteinhaltung des Halteverbots machen. Hier, und vor allem um diese Uhrzeit, würde sich Niemand darum scheren, wo er sein Auto abstellte.
Kurz darauf näherten sie sich zu Fuß einem Schild, das verkündete, dass das Gebäude renoviert werden sollte und dass das Betreten verboten sei.
Die Eingangstür war neu und … verschlossen. Doch das war für die Brüder kein Hindernis. Geschickt öffnete Dean sie mit seinem Dietrich und schon Sekunden später schlüpften die beiden in das Gebäude. Sie fanden sich in einem langen Gang wieder, von dem mehrere Türen abzweigten. Rechts führte eine Treppe in den zweiten Stock, direkt darunter führte eine in den Keller.
„Okay", sagte Sam leise. „Wir sollten lieber zusammen bleiben."
„Warum flüsterst du?" fragte Dean. „Hier ist doch sowieso niemand."
„Warum bist du dir da so sicher?"
„Weil hier alles für die Touristen schön gemacht wird. Und wenn die hier renovieren, treibt sich hier doch niemand herum! Aber wenn es dir lieber ist, können wir ja zusammen bleiben."
Dean marschierte zielstrebig in Richtung Kellertreppe, ein leichtes Grinsen umspielte seine Lippen, als sein Bruder ihm folgte.
Im Schein ihrer Taschenlampen konnten sie immer nur Teilbereiche richtig erkennen, und auch wenn sei bei nächtlichen Durchsuchungen Routine hatten, so mussten sie sich doch jedes Mal aufs Äußerste konzentrieren, um sich vor unliebsamen Überraschungen zu schützen. Langsam gingen sie die Treppe hinunter und betraten einen weiteren großen Gang von dem beidseitig mehrere Türen abgingen, dieses Mal allerdings welche, die mit Gittern versehen waren.
„Das waren die Gefängnisse", raunte Dean seinem Bruder zu.
„Und wieso flüsterst du jetzt?", fragte Sam grinsend.
Statt einer Antwort boxte der Ältere seinen Bruder gegen den Arm, bevor er sich an die Durchsuchung der ersten Zelle machte.
Insgesamt gab es sechs Räume, in denen sie in jeden Winkel leuchteten und alles ganz genau unter die Lupe nahmen. Als Sam den Raum direkt am Treppenabsatz untersuchte, fiel ihm auf dem Fußboden eine dunkle Spur auf. Er strich mit seinem Zeigefinger darüber und fühlte eine klebrige Flüssigkeit. Als er daran roch verzog er das Gesicht.
„Hey, Dean!", rief er.
„Was hast du?", kam aus dem Nebenraum die Antwort.
„Blut. Und nicht sehr alt."
Sofort ging Dean zu seinem Bruder und sah sich den Boden genauer an. „Hier liegen noch ein paar blonde lange Haare … könnten auch grau sein."
„Und hier ist ein abgebrochener Fingernagel, pink lackiert … Na toll." Gar nicht glücklich über seinen Fund, der ganz eindeutig besagte, dass hier erst vor kurzem eine Frau zu Schaden gekommen sein musste, sah Sam seinen Bruder an. „Verdammt, was ist hier passiert?"
„Hoffentlich nichts Schlimmes", erwiderte Dean, doch er ahnte bereits, dass seine Hoffnung hier fehl am Platze war. Noch nie war etwas Harmloses die Ursache für die Spuren gewesen, die sie gefunden hatten. Und auch dieses Mal würde das nicht der Fall sein, das wusste Dean nur zu gut.
Sam bat: „Gib mir mal das EMF."
Nachdem Dean es ihm übergeben hatte, untersuchte Sam die Gefängniszellen auf Anzeichen von übernatürlicher Aktivität. Hin und wieder leuchtete es kurz auf, doch die Ausschläge waren zu gering, um etwas zu bedeuten.
Währenddessen fuhr Dean mit der Musterung der Räume fort. In der dritten Zelle entdeckte er etwas und rief sofort nach seinem Bruder.
„Sam? Hier gibt es eine Art Loch in der Wand. Und da drinnen schimmert es verdächtig bleich."
Schnell kam der Jüngere zu ihm und sah ebenfalls in das Loch hinein. „Volltreffer!"
„Yep. Die abgetrennten Hände! Wieso hat die Polizei die nicht gefunden?"
„Die waren hier scheinbar gar nicht drin. Vielleicht sollten wir ihnen einen anonymen Tipp geben", sagte Sam. „Was auch immer hier geschehen ist, ich finde, es sieht nach einem ganz normalen Verbrechen aus."
„Möglich. Aber erst will ich hundertprozentig sicher sind, dass es hier nicht spukt. Okay?"
„Schon gut! Aber hier ist nichts. Also lass uns zum Friedhof fahren. Mal sehen, was wir dort finden."
Dean nickte zustimmend und drehte sich um in Richtung Zellentür. Sie wollten gerade den Gang wieder betreten, als sie plötzlich einen huschenden, etwa menschengroßen Schatten sahen und ein leises Scharren hörten. Schnell hatten beide ihre Pistolen gezogen. Mit der Waffe in der einen und der Taschenlampe in der anderen Hand arbeiteten sie sich langsam weiter vor, ohne dabei etwas Lebendes zu entdecken. Dean deutete nach rechts in Richtung einer Gefängniszelle und Sam nickte einmal kurz. Sie stellten sich beidseitig der Tür auf, den Rücken an die Mauer gepresst. Der Ältere nickte, und als Sam die Tür aufstieß, sprang Dean schussbereit nach rechts in den Raum. Sam wollte gerade dasselbe zur linken Seite machen, als ihn etwas hart an der Schläfe traf. Mit einem kurzen Stöhnen sank er zu Boden und blieb dort bewusstlos liegen.
Dean hörte, wie sein Bruder stürzte, wirbelte schnell zurück, um nachzusehen was los war. Für einen Sekundenbruchteil erkannte er noch, wie Sams Taschenlampe über den Boden kullerte und der Lichtstrahl an der Wand ein wildes Lichtspiel hinterließ. Dann explodierte der Schmerz in ihm. Erst in seinem vorgestreckten Arm, dann in seinem Kopf. Die Waffe fiel ihm aus der Hand, dann wurde ihm schwarz vor Augen. Er spürte nicht mehr, wie er hart auf dem Boden aufschlug.
Dean spürte kalten und harten Steinboden unter sich. Sein rechter Arm schmerzte höllisch und in seinem Kopf hämmerte es wie wild. Leicht flatternd öffneten sich seine Lider, doch alles, was er sah war tiefste Schwärze. Nicht das geringste Bisschen an Helligkeit schien zu ihm vorzudringen. Oder war etwa blind?
Langsam setzte der Winchester sich auf, durch seinen rechten Arm zuckte heißer Schmerz und sein Kopf dankte ihm die Bewegung mit einem leichten Schwindel, der sich glücklicherweise schnell wieder auflöste. Leider nahm er das Hämmern nicht mit sich.
Den schmerzenden Arm an seinen Körper gepresst, tastete Dean blindlings nach seiner Taschenlampe und drehte sie sofort an, nachdem er sie gefunden hatte.
Ein erleichtertes Seufzen entwich seiner Kehle. Er konnte noch sehen.
Schnell erkannte er, dass er sich in einer der Gefängniszellen befand. Und dass er allein war. Wo zur Hölle war sein Bruder?
Ächzend richtete Dean sich auf und ging zur Tür. Er wollte sie aufstoßen, doch sie war verschlossen.
Verdammt, dachte Dean. Alles hier fällt fast zusammen, aber die Tür funktioniert noch.
„Sam?", rief er fragend durch das kleine mit Gitterstäben versehene Fenster der Tür. „Sammy?"
Wie durch Watte vernahm Sam seinen Namen. Jemand rief nach ihm, Dean rief nach ihm. Aber warum? Sein Verstand arbeitete schneller als sein Körper. Erst jetzt öffnete er langsam seine Augen und registrierte, dass er auf dem Boden lag, und er hatte furchtbare Kopfschmerzen.
„Sammy?" Schon wieder rief sein Bruder. Konnte der nicht leiser sein? Sam stöhnte unterdrückt, als er sich aufrichtete und nach seiner Taschenlampe suchte, die er nicht fand.
„Dean?"
„Ja. Ich bin hier."
Das klang nicht so, als wäre sein Bruder in einem Raum mit ihm. „Wo bist du?" Mit einem Stirnrunzeln tastete sich Sam bis zu einer Wand vor.
„Hier. Geht's dir gut, Sam?", hörte er seinen Bruder in einiger Entfernung sagen.
Sam sah absolut nichts. Warum musste es auch so verdammt finster sein, fluchte er in Gedanken, während er an der gemauerten Wand entlang ging, bis er die Tür unter seinen Fingern spürte.
„Sam!"
Durch das eingelassene Gitterfenster sah der Jüngere jetzt einen tanzenden Lichtschimmer hinter der gegenüberliegenden Zellentür. Er versuchte seine Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen.
„Oh Mann!", sagte Sam. „Da haben wir ganz schön eins über die Rübe gekriegt."
„Das kann mal wohl sagen", stöhnte Dean. „Wie geht es dir?"
„Bis auf die Kopfschmerzen bin ich okay. Und du?"
„Jaaa, geht schon!", antwortete Dean. „Nur mein Arm tut verdammt weh!"
„Was ist mit deinem Arm?"
„Nichts weiter. Der große Unbekannte hat mir nur eins drauf gegeben", beteuerte Dean.
Doch Sam ließ nicht locker. „Ist er gebrochen?"
„Nein, das würde ich ja wohl merken."
„Okay. Soviel zu Hier ist doch sowieso keiner...", sagte Sam und musste trotz ihrer misslichen Lage grinsen.
„Hör bloß auf, du Mistkerl!"
Auch wenn Sam es nicht sehen konnte, so hörte er genau, wie sein Bruder dabei grinste, und er konterte: „Idiot!"
Dean fragte: „Wer war das bloß und warum hat er uns eingesperrt? Und wieso ist er verschwunden?"
„Keine Ahnung", sagte Sam leise und begann nachzusehen, was er noch so an nützlichen Dingen bei sich hatte.
Plötzlich hörten sie leise das Aufheulen des Impala-Motors.
„Was zum Teufel …! Wenn die meinem Wagen was antun, dann …", brüllte Dean los.
„Dean! Hör auf! Sieh lieber nach, was du noch an Waffen hast! Ich habe nur noch mein Messer."
Auch Dean hatte noch sein kleines Messer, das er immer am Bein trug. Was war das denn für ein stümperhafter Typ, der sie einsperrte, ihnen aber nicht alle Waffen abnahm? Dean überlegte gerade, wie er am besten aus der Zelle herauskommen könnte, als er Schritte auf der Treppe hörte. Schnell legte er sich wieder auf den Boden – dass sein Arm dabei neue Schmerzwellen durch seinen Körper jagte, versuchte er, so gut es ging, zu ignorieren. Er spielte den Bewusstlosen und wartete ab. Vielleicht kam der Gangster herein, um nach ihm zu sehen, dann könnte er ihn im richtigen Moment überwältigen.
Sam blieb neben der Tür stehen und schaute durch die Gitterstäbe in Richtung Treppe. Zwei junge Männer, in Jeans und Lederjacken, kamen mit Taschenlampen in den Händen die Treppe herunter. Da hatte Sam die gleiche Idee wie sein Bruder und legte sich ebenfalls schnell und leise auf den Boden.
Eine nuschelnde Stimme sagte: „Lass uns ma nach den beidn Schnüfflern sehn."
„Warum? Vergiss die doch! Die können uns jetzt nicht mehr stören", antwortete der Zweite. „Wir machen unsere Arbeit weiter. Die Nacht ist immer viel zu schnell vorbei. Und tagsüber können wir hier ja wohl kaum rumbuddeln."
„Okay, okay!" kam die Antwort.
Dann hörte man wie eine Tür leicht knarrend geöffnet wurde. Kurze Zeit später entfernten sich die Schritte wieder nach oben, bis sie nicht mehr zu hören waren.
„Hey, Dean!" rief Sam nach einer Weile.
„Hey, wir sollten zusehen, dass wir hier rauskommen. Ich habe aber auch nur noch mein Messer."
„Damit kommen wir nicht weit. Und die Tür lässt sich nicht eintreten. Die ist bombenfest, als hätte sie erst kürzlich jemand neu eingebaut."
„Vielleicht gibt es hier alte Geheimgänge", sagte Dean.
„Du siehst eindeutig zu viel fern!" erwiderte Sam, begann aber trotzdem, jedes Fleckchen in seinem Gefängnisraum peinlich genau abzutasten. Erkennen konnte er nicht viel dabei.
Dean leuchtete zuerst den Fußboden Zentimeter für Zentimeter ab. Aber seine Hoffnung, einen Fluchtweg zu finden, war nicht gerade groß. Der Fußboden war gegossen und hatte einige Risse bekommen, und in den gemauerten Wänden fand sich kein einziger loser Stein. Sam erging es nicht anders.
Nach einer ihm ewig erscheinenden Zeit gab Dean genervt auf.
„Sam!" rief er durch seine Tür. „Das ist doch aussichtslos!"
„Ja, ich finde hier auch nichts. Wir müssen uns was anderes einfallen lassen. Vielleicht sollten wir die Kerle zu uns reinlocken."
Sam begann laut zu rufen. Vergeblich. Niemand kam. Ihm kamen Zweifel, ob er draußen überhaupt zu hören war, schließlich befanden sie sich ja im Keller.
Der ältere Winchester setzte sich währenddessen entmutigt in eine Ecke. Die Schmerzen in seinem Arm hatten zugenommen, aber vielleicht empfand er das jetzt auch nur so, wo er ein wenig zur Ruhe kam. Obwohl er ihn nicht bewegte, fühlte es sich an, als wäre der gesamte Unterarm eine riesige Wunde. Vorsichtig schob Dean den Jackenärmel etwas nach oben und richtete den Strahl seiner Taschenlampe darauf. Sein Unterarm war stark angeschwollen und begann bereits sich zu verfärben, und schon die kleinste Berührung verursachte Schmerzen; den Daumen konnte er fast gar nicht bewegen. Mit einem wortlosen Fluchen schaltete er die Taschenlampe wieder aus und starrte vor sich hin, hinein in die Schwärze.
Im Moment fühlte er sich irgendwie gar nicht gut. Sam war noch immer am Rufen, aber keine Schritte oder Stimmen waren zu hören. Wenn sie Glück hatten, würden Morgen vielleicht Touristen vorbeikommen und sie finden. Aber eigentlich war auch das sehr unwahrscheinlich. Schließlich stand ja ein „Betreten verboten"-Schild vor dem Haus. Also würden sie hier so langsam aber sicher verdursten …
Sam war schon ganz heiser vom vielen Rufen. Müde setzte er sich neben die Tür und lehnte sich an die Wand. Er dachte an McIntyre und Walter, die vor über hundert Jahren in diesem Gebäude gelyncht worden waren. Wie waren sie damals aus dem Gefängnis geflohen, bevor sie sich in den Minenschächten versteckt hatten? Aber Sam wollte keine Lösung einfallen.
Die beiden Gauner waren damals nach zwei Tagen entdeckt und wieder ins Gerichtsgebäude zurückgebracht worden. Sam wusste nichts über die beiden, er wusste nicht warum sie damals den Streit, der in einer Schießerei endete, angefangen hatten, und er wusste nicht, was sie hier in Belmont gewollt hatten. Auf jeden Fall wurden sie dann von den aufgebrachten Leuten ein Stockwerk über ihm umgebracht, aufgehängt, hatte Sam gelesen. Aber er glaubte nicht, dass die beiden hier herumgeisterten.
Seine Gedanken schweiften ab zu der Frau, von der sie hier unten Spuren gefunden hatten. Was war mit ihr geschehen?
Mit der Zeit wurde Sam immer schläfriger, seine Augen fielen immer öfter zu und er war kurz davor ins Traumland abzudriften, als er wieder Schritte auf der Treppe, und kurz danach wieder die beiden Stimmen hörte.
„Meinste wirklich wir findn noch was?", fragte die nuschelnde Stimme.
„Klar! Irgendwo im Norden des Friedhofs ist der Schatz vergraben. Bestimmt finden wir dort massenhaft Silber aus den Minen. Die Lichter sind auf jeden Fall bis dorthin geschwebt, also muss auch der Schatz dort vergraben sein."
„Aba woher weißte denn, dass die beidn da wirklich nen Schatz begrabn haben?"
„Mann, denk doch mal nach. Die haben sich doch in den Minen versteckt. Bestimmt waren die da auch schon vorher drin und haben einiges an Silber herausgeschleppt und versteckt. Dummerweise hatte die dann Zoff mit diesem einen Typen und wurden geschnappt."
„Ja, aba warum leuchtn se uns jetz den Weg zum Schatz?"
„Damit andere arme Seelen, wie wir, auch mal Glück haben. Ist doch klar! Und jetzt hör auf so blöd zu fragen! – Wir suchen Morgen weiter!"
Dean war aufgesprungen und zur Tür gelaufen.
„Hey, ihr da draußen!", rief er. „Warum sperrt ihr uns hier ein? Lasst uns sofort raus!"
„Wir waren doch nur neugierig und wollten uns diese Geisterstadt mal näher ansehen. Wir haben euch gar nichts getan!", sagte Sam.
Aber die beiden Lederjacken-Typen antworteten nicht.
„Verdammt! Ihr macht euch strafbar, wenn ihr uns hier nicht sofort raus lasst!"
Keine Antwort. Die Schritte entfernten sich bereits auf der Treppe nach oben, als eine der Stimmen zu hören war: „Schreit ruhig soviel ihr wollt. Draußen hört euch keine Sau!"
Kurze Zeit später waren die Schritte verklungen und Dean und Sam blieben allein in ihren Gefängnissen zurück.
Resigniert setzte sich Dean wieder in eine Ecke seines Gefängnisses und stellte Überlegungen an, wie sie hier sterben würden. Kein Dämon, keine Hexe, kein Geist, nichts Übernatürliches würde sie zur Hölle schicken. Sie würden schlicht und einfach nur …
Was ist das?, dachte Dean. Plötzlich glaubte er vor sich ein zartes Schimmern zu sehen. Er blinzelte, doch anstatt zu verschwinden schwebte das Schimmern langsam auf ihn zu und wurde immer heller.
Er konnte es nicht glauben, aber das silbrige Etwas vor seinen Augen nahm langsam Gestalt an. Langsam schob Dean sich an der Wand hoch und presste sich mit dem Rücken dagegen. Seine Nerven waren aufs Äußerste gespannt. Er war sich noch immer nicht sicher, ob ihm seine Sinne einen Streich spielten – immerhin hatte er vorhin einen gehörigen Schlag auf den Kopf bekommen, und die ganze Zeit über hockte er hier in der Finsternis. Konnte es sein, dass er sich das Alles bloß einbildete? Zweifelnd blinzelte er ein paarmal, doch das immer heller werdende Schimmern verschwand nicht. Im Gegenteil, vor seinen Augen, etwa in der Mitte des kleinen Raumes, formte sich der Körper einer Frau. Einer Frau mit langen Haaren. Sie war komplett farblos, eine leicht milchige, weißliche Erscheinung. Irgendwie erinnerte sie Dean an eine riesige Maikäferlarve. Eine mit Armen und Beinen. Sie streckte beide Hände nach ihm aus.
Bis jetzt hatte Dean keinen Laut über die Lippen gebracht. Mann, dachte er. Ich bin doch sonst immer auf alles bestens vorbereitet. Reiß dich zusammen, Alter!
Dann rief er: „Saaaaam!"
Sam zuckte zusammen, als er seinen Bruder hörte und sprang auf.
„Was ist los, Dean", rief er zurück. Er bekam keine Antwort. „Dean?"
„Sam! Hier ist ein Geist oder so was. Sie kommt auf mich zu."
„Dean, das Salz!"
Der Ältere griff in seine Jackentasche, und tatsächlich, die kleine Salztüte war noch da.
Er griff danach, zögerte aber, als er sah, dass die Geisterfrau den Kopf schüttelte und stehen blieb. Schweben blieb, traf es besser. Dean stand an der Wand und beobachtete die milchige Gestalt. Schemenhaft war so etwas wie Kleidung zu erkennen: ein kurzer Rock und ein enges Shirt darüber. In dem Shirt waren viele dunkle Schlitze zu sehen.
„Dean! Bist du okay?", hörte er seinen Bruder fragen, doch er reagierte nicht darauf. Gebannt betrachtete er die Erscheinung vor sich.
Unter ihren Augen waren auch dunkle Schlitze. Sie lächelte Dean an und schwebte dann zurück an die Außenwand des Raumes. Dort drehte sie sich wieder um und zeigte auf eine Stelle. Dann wurde sie immer blasser und verschwand schließlich.
„Dean!", schrie Sam, und in seiner Stimme schwang schon beinahe Panik mit. Er hatte keine Ahnung, was in der Zelle seines Bruders vor sich ging. Kein einziges Geräusch war zu hören. Und so langsam aber sicher wurde er mehr als unruhig. Was war mit Dean geschehen? Ging es ihm gut?
„Sam", hörte er dann endlich Deans leise Stimme. Der Jüngere atmete erleichtert aus, doch im nächsten Moment grub sich die Sorge wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins. Sein Bruder klang nicht wie sonst. Er wirkte schwach und willenlos, wie unter Drogen. Was hatte der Geist mit ihm gemacht?
„Dean, was ist los?"
„Ich bin okay, Sammy. Es ist nichts passiert."
„Warum hast du nicht geantwortet?"
Dean überging die Frage einfach und erklärte: „Es war vermutlich der Geist von der Frau, die hier umgebracht wurde. Sie hatte lange Haare, und es war ein junger, moderner Geist, würde ich sagen. Sie muss traumhafte Beine gehabt haben … und das erst, was sich unter dem engen Top …"
„Dean, bist du sicher, dass es dir gut geht?"
Wahrscheinlich schon, wenn er sie so beschreibt, ging es Sam kurz durch den Kopf. Dean antwortete nicht. Stattdessen hörte Sam ein merkwürdig schabendes Geräusch aus dem gegenüberliegenden Raum.
Dean untersuchte die Stelle näher, auf die der Geist gezeigt hatte. Er kratzte mit seinem Messer in den Fugen herum und konnte auf diese Weise einiges an Mörtel herausschaben.
„Dean, was machst du da?"
Sam klang schon leicht genervt, doch das störte Dean nicht im Geringsten. Als der Stein endlich locker war, hebelte er ihn nach und nach heraus. Da spürte er einen leichten Windzug durch die kleine Öffnung kommen. Hastig machte sich Dean am nächsten Stein zu schaffen.
„Dean! Würdest du bitte mal mit mir reden?", hört er die wütende Stimme seines kleinen Bruders.
Dean kratzte und hebelte einen Stein nach dem anderen aus der Wand und legte so nach und nach ein Loch frei. Als es groß genug für ihn war, leuchtete und tastete er die Wände ab. Seine Vermutung, die er nach dem ersten gespürten Luftzug hatte, bestätigte sich: Es handelte sich tatsächlich um eine Art Kriechtunnel. Den hatte wahrscheinlich vor wer weiß wie vielen Jahren mal Jemand gegraben. Dean grinste und dachte an den Grafen von Monte Christo, der sich ebenfalls einen Tunnel aus seiner Gefängniszelle gegraben hatte. Zum Schluss hatte der aber dann eine andere günstige Gelegenheit zur Flucht genutzt: er ließ sich in einem Leichensack ins Meer werfen.
„Dean, verdammt!" So redete Sam wirklich nicht oft. Endlich ging Dean zur Tür und leuchtete zu seinem Bruder hinüber, der ziemlich verärgert wirkte.
„Hey, Mann! Blende mich nicht!"
„Sam! Ich habe einen Gang entdeckt, einen alten Fluchttunnel. Der Geist hat ihn mir gezeigt. Ich krieche da jetzt durch und hole dich dann da raus!"
„Was? Dean, sei bloß vorsichtig! Der könnte zusammenbrechen. Der muss ja mindestens hundert Jahre alt sein!"
„Ich passe schon auf. Oder weißt du eine bessere Lösung?"
Sam schüttelte den Kopf. Aber so ganz geheuer war ihm die Sache trotzdem nicht.
Entschlossen ging Dean zu dem Loch in der Wand und atmete ein paarmal tief durch. Die Schmerzen in seinem Arm waren schlimmer geworden, was ihn nicht wirklich verwunderte, hatte er doch bei seiner mauerzerstörenden Arbeit keinerlei Rücksicht auf sich genommen. Doch auch jetzt war dafür keine Zeit, also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zusammenzureißen.
Als er erneut in den Gang hinein leuchtete, vertrieb die Skepsis einen Teil seiner Entschlossenheit, denn besonders einladend sah es dort nicht aus: Wurzeln hatten sich ihre Wege durch den Hohlraum gesucht, und überall krabbelten und wimmelten irgendwelche kleinen Viecher umher und versuchten sich panisch vor dem Lichtstrahl zu verstecken. Bei ihrem Anblick meinte Dean sie schon auf seiner Haut zu spüren, und musste sich prompt schütteln. Doch dann gab er sich einen Ruck und beschloss nicht länger darüber nachzudenken, was ihm in diesem Fluchttunnel alles geschehen könnte.
Mit der Taschenlampe in der Linken begann er in den Gang zu kriechen, was sich als umständlicher erwies als erwartet, und der Versuch, seinen verletzten Arm so wenig wie möglich zu benutzen, endete schon auf dem ersten Meter. Dean biss die Zähne im wahrsten Sinne des Wortes zusammen und wollte sich mit schönen Erinnerungen von den Schmerzen ablenken. Doch auch das war leichter gesagt als getan. Je weiter er sich vorrobbte, desto mehr verselbstständigten sich seine Gedanken und landeten immer wieder bei Krankheiten verbreitendem Ungetier. Hoffentlich kamen ihm nicht noch Ratten entgegen. Es wäre viel zu eng, um denen aus dem Weg zu gehen, und wenn Ratten sich in die Enge getrieben fühlten …
„Hier gibt es keine Ratten", sagte Dean bestimmt, doch ganz so leicht ließ sich sein Gehirn nicht manipulieren.
Nach einem kurzen geradlinigen Stück verlief der Gang leicht schräg nach oben, und so keimte in dem Jäger die Hoffnung auf, dass seine Kriechaktion schon bald ein Ende haben könnte. Doch im Dunkeln verliert man schnell die Orientierung. Und wer wusste schon, ob der damalige Tunnelbauer sich auf dem kürzesten Weg an die Oberfläche gegraben hatte?
Immer wieder musste Dean sich durch halb zusammengefallene Stellen quälen. Er kam sich schon wie ein Maulwurf vor. Von vorne schaufelte er den Sand und die Erde nach hinten - und das alles mit nur einer Hand.
Die dickeren Wurzeln, die ihm den Weg versperrten, durchtrennte er mit seinem Messer, während er die dünneren einfach zerriss. So kam der Winchester langsam und stetig vorwärts, allerdings nahmen die Pausen, die er einlegen musste, mit der Zeit zu. Die Schmerzen in seinem verletzten Arm wurden immer schlimmer, und auch die stickiger werdende Luft setzte ihm zu.
Sam wanderte unruhig in seinem Gefängnis hin und her. Die Zeit schien überhaupt nicht vergehen zu wollen. Immer wieder schaute er zur Uhr, und jedes Mal war der Zeiger nur ein oder zwei Minuten weiter gerückt. Hoffentlich geschah seinem Bruder nichts! Er machte sich wirklich Sorgen um ihn, so ein uralter Gang war lebensgefährlich. Allein durch Tiere und Pflanzen musste der im Verlauf der letzten hundert Jahre zu einer richtigen Fallgrube geworden sein.
Doch Dean war ja unverbesserlich. Sobald er irgendwo ein Fünkchen Hoffnung sah, verfolgte er seine verrückten Ideen. Und streng genommen musste Sam ja zugeben, dass das Glück seinen Bruder bisher nur selten verlassen hatte. Irgendwie waren sie aus jedem Schlamassel wieder heraus gekommen, wenn auch nicht immer unversehrt. Trotz all dieser Erfahrungen konnte Sam sein ungutes Gefühl nicht abschütteln. Es ließ sich nicht näher definieren, geschweige denn packen, doch es verhieß nichts Gutes.
Wütend schlug er mit der Faust gegen die Tür. Er wollte seinem Bruder helfen, aber er zum Abwarten verdammt, eingesperrt in einer historischen Gefängniszelle.
Der Gang wurde enger, fortwährend verhinderten Erde und Wurzeln das Durchkommen. Es konnte doch nicht mehr weit sein, sagte sich Dean. Die Wurzeln häuften sich, und das war ein sicheres Zeichen dafür, dass er sich kurz unter der Erdoberfläche befinden musste.
Plötzlich gab, zu allem Überfluss, die Taschenlampe ohne jegliche Vorwarnung ihren Geist auf. Dean schüttelte sie, aber kein Lichtschimmer erschien mehr. Na toll, auch das noch, dachte der Jäger und wollte sein Feuerzeug aus der Jackentasche holen, doch es war nicht an seinem gewohnten Platz. Wortlos fluchend – er musste es nach dem letzten Auffüllen in seine andere Jacke gesteckt haben - tastete er sich im Stockfinstern weiter. Alles, was ihm im Wege war, zerschnitt er blindlings oder schob es zur Seite, und so kam er Stück für Stück voran.
Mit der Zeit wurde die Luft zunehmend schlechter, und auf einmal roch er es. Dean schloss die Augen und wagte kaum noch zu atmen. Ein süßlicher und zugleich auch säuerlicher Geruch erfüllte die Luft, und es gab nur eine Sache, die so etwas ausströmte …
Voller Abscheu stellte Dean sich vor, wie er eine verwesende Ratte anfassen und über seinen Rücken nach hinten bugsieren musste. Der Gang war zwar ein wenig höher geworden, aber zum Kriechen auf allen Vieren reichte es noch immer nicht. Also musste er sich auch weiterhin über den Boden schieben; doch jetzt tastete er mit der linken Hand die undurchdringliche Finsternis vor sich noch gewissenhafter ab, bevor er sich mit den Füßen abstieß.
Der Winchester kam nur langsam voran und als der Verwesungsgeruch auch noch zunahm, wagte er es kaum noch zu atmen. Jeden Moment rechnete er damit, in etwas Matschiges, Weiches und Pelziges zu fassen, doch plötzlich versperrte ihm etwas ganz anderes den Weg. Fest und glatt fühlte es sich an, doch eine Baumwurzel war es nicht, da war sich Dean ganz sicher. Stirnrunzelnd tastete er das Objekt vor sich ab, strich mit den Fingern eine glatte, gewölbte Fläche entlang und ertastete dann etwas Stockartiges. Und auch einmal war ihm klar, auf was er gestoßen war: einen Damenschuh. Hastig zog er seine Hand zurück. Seine Gedanken überschlugen sich plötzlich: Sein Gehirn vermischte die Information, die seine Finger erfasst hatten, mit den Empfindungen seiner Geruchsnerven und der Erinnerung an den pinkfarbenen Fingernagel sowie die Gestalt des Geistes, und malte ihm die tollsten Bilder aus.
Ihm wurde schlecht.
Aber er musste weiter.
Um sich zumindest ein wenig zu schützen, zog Dean sein T-Shirt über Mund und Nase, doch wirklich viel brachte das nicht. Immerhin beruhigte es ihn bezüglich der Bakterien ein kleines Bisschen. An das krabbelnde Getier, das sich da auf der Leiche vor ihm befinden könnte, wollte er gar nicht erst denken.
Zögernd streckte Dean seine Hand abermals aus, er wollte sich davon überzeugen, wie viel Leiche er da vor sich hatte. Vielleicht handelte es sich ja nur um einen Fuß – nicht dass er das als angenehm empfinden würde, aber der Gedanke, sich nur an einem Fuß vorbei zu quetschen, war doch erheblich leichter zu ertragen, als das Wissen, sich in diesem engen Gang über einen kompletten menschlichen - und vor allem verwesenden – Körper fortbewegen zu müssen.
Als seine Finger über das Leder gestrichen waren und plötzlich auf eiskalte Haut trafen, ging ein Schaudern durch Deans Körper. Trotz allen Ekels beherrschte er sich und ließ seine Hand weiterfahren. Über noch mehr tote Haut, teilweise weich und schlaff, teilweise aufgerissen und zerfetzt. Als er die unebene Struktur zerstörten Fleisches spürte, reichte es ihm. Ruckartig zog er seine Hand zurück.
Am liebsten wäre er jetzt umgekehrt, aber das würde sie nicht aus dem verdammten Kerker bringen. Nein, er musste weitermachen. Er würde es schon überleben.
Vielleicht wäre es eine Option, sich nach oben durchzugraben?, überlegte er. Doch als er die Erde über sich abzukratzen versuchte, löste sich kaum etwas. Der Boden war fest wie Stein, zumindest für Jemanden ohne geeignetes Werkzeug.
Ihm blieb also keine Alternative. Zögernd bewegte er sich wieder vorwärts, kroch über die leblosen Beine und dachte ganz angestrengt darüber nach, was die beiden Kerle im alten Gefängnis zu schaffen hatten und was vor allem die Hände der Skelette dort sollten. Und warum nur hatten sie der Frau, auf der er gerade mehr oder weniger lag, das hier angetan?
Seine Ablenkungsstrategie wollte nicht funktionieren, keinen einzigen klaren Gedanken konnte er zu ihrem Fall fassen. Das Einzige, was ihm immer wieder durch den Kopf ging, während er die steifen, kalten Beine unter sich spürte, war, wie weit fortgeschritten die Verwesung der Leiche bereits sein könnte. Das Blut, das sie gefunden hatten, war relativ frisch gewesen. Allerdings musste es nicht bedeuten, dass es auch zu ihr gehörte. Vielleicht hatte einer der Idioten sich geschnitten?
Dean kroch weiter; mit der Linken ertastete er den Rock und anschließend den Bauch der Toten. Er hoffte nur, dass er dieses Erlebnis so schnell wie möglich hinter sich bringen und danach am besten noch schneller wieder vergessen würde, sonst konnte er seine Rendezvous die nächste Zeit erst einmal ad acta legen.
Krampfhaft lenkte er seine Gedanken wieder zu den Fakten. Wie lange konnte die Frau bereits tot sein? Sam und er hatten schon einige Stunden im Keller gewartet, und das Blut hatte bei ihrem Eintreffen noch eine leicht zähe Konsistenz aufgewiesen - wenn man das alles zusammenrechnete und den Gestank, durch den er sich gerade arbeiten musste, dazu nahm, dann war die Fäulnis bestimmt schon in vollem Gange. Zwei Stunden nach dem Tod begann sie bei den meisten Leichen. Allerdings war es seit Stunden kühle Nacht, und Kälte konnte den Vorgang verlangsamen.
Dean atmete viel zu hektisch, und das, wo er doch am liebsten gar nichts von dieser Luft in seine Lungen bekommen wollte. Dean wollte es nur noch hinter sich bringen. So schnell es ging robbte er sich über den leicht aufgedunsenen Korpus der Leiche. Seine Augen presste er fest zu, auch wenn das nicht das Geringste half, denn sehen konnte er ohnehin nichts. Auf einmal stieß er mit dem Kopf gegen die Tunneldecke. Gezwungenermaßen senkte Dean seinen Oberkörper etwas und spürte die Haare und die kalte Haut des Gesichts der Toten direkt an seiner Wange. Plötzlich kam ein rülpsendes Geräusch aus dem Körper unter ihm, eine Wolke mit einem unbeschreiblichen Gestank erreichte seine Nase.
Dean war kurz davor sich zu übergeben, so übel war ihm. Er konnte nur noch daran denken, dass er hier raus musste, dass er das keine Sekunde länger mehr aushalten würde. Noch nie hatte er sich so sehr nach frischer Luft gesehnt.
Rücksichtslos stieß er sich mit den Füßen ab und quetschte sich an der Leiche vorbei. Er hörte das Knacken von Knochen, aber darüber dachte er nicht mehr nach. Seine Reflexe übernahmen die Kontrolle über seinen Körper und ließen ihn sich weiter nach vorn schieben. Und zwar so schnell es ging.
Und dann roch er plötzlich frische Luft. Nicht viel, aber es war eindeutig frische Luft. Er grub und schob sich fieberhaft weiter, und als sein Kopf im Freien war, stemmte Dean sich aus dem Loch heraus, als wäre er kurz vor dem Ertrinken. Hastig krabbelte er einige Meter weit weg, bis er das Gefühl hatte, zwischen sich und die Leiche genug Distanz gebracht zu haben. Gierig sog er die frische Nachtluft ein. Dann musste er sich übergeben.
Als er sich ein wenig besser fühlte, stand Dean auf. Für einen Moment verschwamm die Gegend vor seinen Augen, doch sein Kreislauf normalisiert sich recht schnell. Im Schatten eines kleinen Baumes verharrend, suchte er die Umgebung nach Lebenszeichen ab – er wollte jetzt auf keinen Fall den beiden Idioten von Gangstern in die Hände fallen. Obwohl er glaubte, dass die längst verschwunden waren, aber man konnte ja nie wissen. Einen Kampf mit denen hätte er in seinem Zustand bestimmt nicht gewonnen.
Schräg vor sich sah er das Gerichtsgebäude und direkt dahinter stand sein Baby. Sie hatten seinen Wagen also nur hinter das Haus gefahren, damit ihn keiner so schnell entdeckte. Leicht geduckt, immer die Deckung von Bäumen und Sträuchern ausnutzend, lief Dean zu seinem Impala. Schnell hatte er den Kofferraum geöffnet und rüstete sich mit einigen Waffen, der anderen Taschenlampe und seinem Einbruchwerkzeug aus, bevor er in das Gerichtsgebäude schlich.
Sam wartete an der Tür seiner Zelle, als er wieder Schritte auf den Stufen hörte. Ohne einen Laut von sich zu geben beobachtete er den Treppenabsatz. Er glaubte den Rhythmus der Schritte zu kennen und hoffte inständig, dass es wirklich sein Bruder war.
Der Lichtstrahl einer Taschenlampe durchschnitt auf einmal die Dunkelheit und ließ den jüngeren Winchester die Augen leicht zusammenkneifen.
„Sammy?"
„Dean!", rief Sam erleichtert aus. Er hatte das Gefühl, als würden tausend Zentner Last von ihm genommen werden.
Nicht einmal eine Minute später hatte Dean schon das Türschloss von Sams Zelle geknackt.
„Alter, ich habe mir schon Sorgen gemacht", sagte Jüngere.
Sein Bruder wollte gerade etwas erwidern, da hörten sie schon wieder die Stimmen der beiden Kerle.
„Schnell, komm rein!", flüsterte Sam.
Nachdem sein Bruder durch den Türspalt gehuscht war, schloss Sam die Tür und presste sich wieder seitlich gegen die Wand. Auf der anderen Seite stand Dean, die Taschenlampe hatte er schon ausgeschaltet. Bisher hatten die Kerle sich nicht um sie gekümmert, also warum sollten sie es jetzt tun? Es war definitiv besser, sich zurückzuhalten und nicht noch die Aufmerksamkeit auf sich zu richten.
Für ein paar Minuten hörten die Brüder noch das Stimmengemurmel, das glücklicherweise nicht näher kam, dann entfernten sich die Schritte und kurze Zeit später fiel die Eingangstür ins Schloss. Es herrschte wieder Totenstille.
Die Brüder warteten noch eine Weile ab, und als sich nichts mehr rührte, sagte Sam: „Lass uns jetzt abhauen!"
Er bekam keine Antwort. „Dean?"
Was war mit seinem Bruder los? Schnell tastete sich Sam zur anderen Türseite und stolperte dabei beinahe über das am Boden liegende Gewehr.
„Hey, langsam Alter. Du fällst ja noch über deine eigenen Füße", murmelte Dean.
„Mach mal Licht", bat der Jüngere.
Als Dean die Taschenlampe angeschaltet hatte, nahm sein Bruder sie ihm sofort aus der Hand und leuchtete ihm damit ins Gesicht. Geblendet schloss Dean die Augen.
Voller Entsetzen musterte Sam seinen großen Bruder, der mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden saß und sich den rechten Arm hielt. Dean war völlig beschmiert mit Erde und Blut. Sofort hockte sich Sam zu ihm.
„Dean, was ist mit deinem Arm? Lass mich mal sehen", sagte er und schob vorsichtig den Ärmel hoch. Dean verzog das Gesicht und biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien.
„Das sieht nicht gut aus." Der Jüngere drückte leicht auf den angeschwollenen Unterarm und sein Bruder stöhnte unterdrückt auf. „Wir müssen das kühlen, damit die Schwellung zurückgeht. Woher kommt das ganze Blut?"
„Die tote Frau!"
„Du hast sie gefunden?", fragte Sam erstaunt.
Dean nickte und berichtete dann tonlos: „Sie war in dem Gang. Ich musste über sie 'rüber."
Sam schluckte bei der Vorstellung. Deshalb sah sein Bruder so fertig aus. Und die Verletzung am Arm setzte ihm bestimmt auch ganz schön zu. Hoffentlich war er wirklich nicht gebrochen.
„Wir fahren sofort ins Motel zurück", sagte Sam, während er seinen Bruder besorgt beobachtete. „Ich rufe nachher die Polizei an. Sonst werden wir noch verdächtigt, sie umgebracht zu haben. – Dean, war sie der Geist?"
„Keine Ahnung. Meine Lampe funktionierte nicht mehr. Ich konnte nichts erkennen – nur fühlen … und riechen."
Sam versuchte sich vorzustellen, was sein Bruder gerade durchgemacht haben musste. Dean war hart im Nehmen, das wusste keiner besser als er, aber im Stockfinstern über eine Leiche zu kriechen …? So was steckte auch der Härteste nicht so einfach weg.
Aber es würde nichts bringen, mit Dean darüber reden zu wollen, deshalb beschloss Sam, das, was nötig war, so schnell wie möglich zu erledigen, damit sie noch vor dem Morgen wieder in ihrem Motel sein konnten, wo sein Bruder sich erst einmal erholen konnte.
„Ich sehe mal nach, wie sie aussieht. Wir müssen wissen, wer die Leiche ist."
„Sam, die steckt zu tief drin. Da kannst du nichts erkennen. Lass uns lieber den Friedhof noch unter die Lupe nehmen", meinte Dean. „Es wird schon bald hell, da können wir mehr erkennen."
Sam warf seinem Bruder einen langen Blick zu und gab dann mit einem Nicken nach. Dean würde sowieso keine Ruhe geben.
Auf dem Weg zum Impala sagte der Ältere: „Wieso tut eine Prellung so scheiß weh?"
„Bist du sicher, dass er nicht gebrochen ist?"
„Ja", brummte Dean. „Das hätte sich beim Kriechen anders angefühlt."
Als sie den Wagen erreichten, hielt Dean seinem Bruder wortlos die Autoschlüssel hin. Mit dem Anflug eines Grinsens öffnete Sam die Beifahrertür und wartete so lange, bis der Ältere im Auto saß. Der lächelte ihn an, aber es war nicht zu übersehen, dass es ihm nicht gut ging. Sam schloss die Tür und umrundete zügig den schwarzen Oldtimer.
Bevor er den Wagen startete warf er noch einen Blick zur Seite: Dean saß mit geschlossenen Augen neben ihm und hielt sich den rechten Arm. Im ersten fahlen Lichtschein des Morgens wirkte sein Gesicht noch bleicher, als es wahrscheinlich ohnehin schon war.
Sam fuhr den Chevy zum Friedhof am Stadtrand, wo er schon von weitem das gelb-schwarze Absperrband entdeckte, das das Grab der beiden Gelynchten vor Neugierigen schützen soll. Die Erde war halbherzig wieder aufgeschüttet worden, was den Winchesters die Arbeit erheblich erleichtern würde. Doch bei Tageslicht wollte Sam die Überreste von McIntyre und Walter nicht verbrennen. Die Gefahr von neugierigen, frühaufstehenden Touristen war ihm jetzt schon zu groß. Außerdem hatten sie ja keine Eile damit, solange sie nicht genau wussten, ob die beiden hier herumspukten.
Aber wegen der angeblichen Irrlichter wollte Sam den Friedhof untersuchen.
Er sah sich jedes einzelne Grab an und überprüfte alles auf elektromagnetische Störungen. Aber es gab nichts, aber auch gar nichts Übernatürliches oder Unnatürliches. Wahrscheinlich waren die Lichtphantasien doch nur den überreizten Gehirnen von zugedröhnten Teenies entsprungen.
Gegen den Impala gelehnt beobachtete Dean schweigend seinen Bruder, wie der reihenweise alles abging. Oft begrenzten niedrige Steinmauern die Gräber, manche hatten richtige Zäune. Doch die filigranen Muster aus Eisen waren größtenteils der Witterung zum Opfer gefallen und entsprechend stark verrostet.
Nachdem der Jüngere seine Arbeit beendete hatte, kam er mit großen Schritten zurück zum Wagen. Dean erkannte ein breites Grinsen im Gesicht seines Bruders, das mit jedem Meter, den er näher kam, zuzunehmen schien, und er fragte Sam, was ihn denn so amüsieren würde.
Sam antwortete: „Nichts. Jetzt fahren wir erst mal ins Motel und verarzten deinen Arm. Und du nimmst ein Bad. Heute Abend können wir dann den Friedhof beobachten. Hier wurden irgendwo die Lichter gesehen, und vielleicht tauchen unsere Freunde von letzter Nacht auch wieder auf. Dann wissen wir, mit wem wir es zu tun haben und was die hier treiben."
Sam grinste noch immer.
„Und was ist daran so lustig?", fragte Dean.
Sam legte seinem Bruder freundschaftlich beide Hände auf die Schultern.
„Weißt du Dean – du hast einen verletzten Arm …" Er konnte einfach nicht mit dem Grinsen aufhören.
„Und?"
„Tja, du kannst ja kaum deine Waffe halten. Und so kannst du wohl auch kaum richtig Auto fahren. Also muss leider, leider ich zurückfahren."
„Du weißt nicht, was ich alles kann!", antwortete Dean, aber er setzte sich trotzdem freiwillig auf den Beifahrersitz. Hin und wieder musste er seinem Bruder ja auch etwas Fahrspaß gönnen.
Sam ließ den Wagen an und warf einen kurzen Blick zur Seite, doch sein Bruder starrte nur stur aus dem Seitenfenster.
Während der Fahrt hing der Jüngere seinen Gedanken nach. Besonders viel hatten sie ja nicht erreicht. Immerhin wussten sie jetzt, dass es zwei Typen gab, die nach einem Schatz suchten, und dass es einen guten Geist gab, der wahrscheinlich von der ermordeten Frau war. Aber wer war sie? Und wer hatte sie ermordet? Und warum? Er musste unbedingt die Polizei benachrichtigen. Und dann würde er als Reporter getarnt nach Belmont fahren und zusehen, was er in Erfahrung bringen konnte.
Sam sah wieder zu seinem Bruder. Der hielt noch immer seinen rechten Arm fest, obwohl er inzwischen eingeschlafen war. Leider sah es nicht gerade nach einem friedlichen Schlaf aus. Deans Augenlider zuckten die ganze Zeit und er stöhnte des Öfteren.
Sams Gedanken wanderten wieder zu der Frauenleiche, über die sein Bruder kriechen musste. Allein bei der Vorstellung überzog sich sein Rücken mit einer Gänsehaut. Es musste schrecklich gewesen sein.
Nachdem Sam den Wagen vor ihrem Motelzimmer geparkt hatte, öffnete er die Beifahrertür und weckte seinen Bruder.
„Hey, Dean. Wir sind da."
Als Antwort bekam er ein unverständliches Gemurmel, welches ihn zweifelnd die Stirn runzeln ließ. Doch noch während der Jüngere überlegte, ob er seinen Bruder nun ins Zimmer tragen müsste, schwang der seine Beine aus dem Wagen und stemmte sich hoch. Sam griff ihm helfend unter die Arme und führte ihn schließlich nach Drinnen. Ohne Widerworte oder Gegenwehr ließ Dean sich auf sein Bett dirigieren, wo er sich sofort hinlegte und scheinbar sofort wieder einschlief.
Sam zog seinem Bruder die Schuhe von den Füßen und wollte ihm auch noch die Jacke ausziehen, doch das war gar nicht so einfach. Als er Dean hochzog, öffnete der stöhnend seine Augen.
„Tut mir leid, Dean, aber die Jacke muss aus, sonst komme ich nicht an deine Verletzung", entschuldigte sich Sam.
Ein Murmeln war die einzige Antwort, aber Dean hielt sich aufrecht sitzend, so dass Sam ihm die Jacke herunterstreifen konnte. Als er sie über den verletzten Unterarm zog, stöhnte sein Bruder unterdrückt auf.
„Lass mich in Ruhe, Sam. Ich will schlafen." Der Ältere schloss die Augen und legte sich zurück auf das Bett. Kurz darauf verkündeten seine gleichmäßigen Atemzüge, dass er wieder eingeschlafen war.
Sorgsam verstrich Sam noch eine kühlende und schmerzlindernde Salbe auf dem geprellten Unterarm seines Bruders, der jetzt tief und fest schlief und davon nichts mehr mitbekam. Zum Schluss zog er Dean die verdreckte Jeans aus und deckte ihn zu. Sein Bruder stank zwar noch immer so unangenehm, aber eine ordentliche Portion Schlaf war für ihn jetzt wichtiger als eine Dusche.
Es war früher Morgen, und sie hatten die ganze Nacht kein Auge zugetan, aber Sam konnte trotz allem nicht einschlafen. Er fühlte sich zwar ausgelaugt, aber er war so beunruhigt. Alles war so ungeklärt, und das ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.
Wenn er jetzt wüsste, wie die tote Frau ausgesehen hatte, dann könnte er vielleicht herausfinden, wer sie war. Außerdem konnte er nicht ganz verstehen, warum ihr Geist ihnen geholfen hatte zu entkommen. Vielleicht wollte sie gerächt werden? Und was hatten die beiden Gauner und auch McIntyre und Walter damit zu tun? Zu viele Fragen schwebten noch vor den Augen des jungen Winchesters.
Er beschloss eine heiße Dusche zu nehmen, vielleicht verbannte das seine verworrenen Gedanken. Und als er sich schließlich ins Bett legte, merkte er dann doch eine bleierne Müdigkeit in seinen Gliedern und war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen. Es war ein traumloser, tiefer, aber leider auch kurzer Schlaf.
