Der Hogwarts-Express hielt auf dem Gleis 9 3/4 im Bahnhof King's Cross. Eine Schar von Schülern stürmte aus dem Zug und lief zu ihren Verwandten, die sie bereits freudig erwarteten. Unter den Schülern war auch das Griffindor-Trio: Harry, Ron und Hermine. Während Ron und Hermine sich schon auf die Ferien freuten, wünschte sich Harry nichts sehnlicher, als sofort wieder zurück nach Hogwarts zu fahren.
Vor Ferienbeginn hatte er Professor Dumbledore, Schulleiter von Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei, angebettelt, doch in Hogwarts bleiben zu dürfen. Doch Dumbledore hatte nur gelächelt, ihm eine Hand auf die Schulter gelegt und in einem beschwichtigen Ton gesagt: "Das geht nicht, mein Junge, das weißt du doch! Bei deinen Verwandten bist du sicher, Harry!" "Nein, Professor Dumbledore, bitte schicken Sie mich nicht zu den Dursleys!", hatte er den alten Zauberer angefleht. Doch alles Bitten und Flehen half nichts, er musste zurück in den Ligusterweg.
Vom Ende des Bahnsteigs winkten ihnen Mr. und Mrs Weasley zu und alle drei liefen ihnen freudig entgegen. Mrs. Weasley umarmte als erstes ihren Sohn, dann Hermine und zu allerletzt Harry. Da entdeckte Hermine ihre Eltern. Sie verabschiedete sich eilig von Ron und drehte sich zu Harry um. "Versprich mir, dass du auf dich aufpasst und mir schreibst, wenn es dir nicht gut geht, ja?!" Harry nickte. Das reichte Hermine jedoch nicht. "Versprich es!", sagte sie mit Nachdruck. "Versprochen!", sagte Harry und hob die rechte Hand, um das Versprechen zu unterstreichen. Zufrieden gestellt lächelte Hermine ihm aufmunternd zu, lief rüber zu ihren Eltern und begrüßte sie freudestrahlend. Nun machten sich die sechs Weasleys – Ginny und die Zwillinge Fred und George waren inzwischen auch zu ihnen gestoßen - auf den Weg zum Fuchsbau. Harry blieb allein zurück. Traurigkeit machte sich in ihm breit.
Er schob seinen Gepäckwagen vor sich her und verschwand durch die Absperrung in die Muggelwelt. Am Ausgang zur Straße stand bereits sein bulliger, fetter Onkel - Mr. Vernon Dursley. Hämisch grinsend sah er seinem Neffen entgegen, der direkt auf ihn zu kam. "Wird auch Zeit, dass du hier auftauchst! Ich habe schließlich nicht den ganzen Tag Zeit, hier herum zu stehen und auf dich zu warten!", fauchte dieser. Harry ging zum Kofferraum und verstaute sein Gepäck sorgsam darin. Den Käfig mitsamt Hedwig stellte er vorsichtig auf den Rücksitz. Sein Onkel scheuchte ihn die ganze Zeit über. "Beeil dich! Na los!" "Ja, Onkel Vernon!", antwortete Harry nur monoton. Er setzte sich neben seine Schneeeule auf die Rückbank des Wagens und sein Onkel raste davon, kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen.
Harry starrte die ganze Fahrt über aus dem Fenster und hing seinen Gedanken nach. 'Das werden ja wieder tolle Ferien!', dachte er voller Sarkasmus.
Endlich kamen sie im Ligusterweg 4 an. Mr. Dursley stieg aus, öffnete den Kofferraum, riss Harrys Gepäck so schnell wie irgend möglich daraus hervor und schleuderte es Harry, der gerade mit Hedwig ausstieg, vor die Füße. "Beeil dich, du Freak! Und stell die Sachen ja gleich dahin, wo sie hingehören, nämlich in den Schrank.", fauchte dieser seinen Neffen an. "Ja, Onkel Vernon!", erwiderte er wieder monoton. Etwas anderes wagte er nicht zu erwidern. Einmal hatte er es gewagt und konnte hinterher eine ganze Woche lang nicht mehr richtig liegen, da ihm der Rücken so schmerzte. Das war ihm eine Lehre. Lieber schweigsam alles hinnehmen, als wieder Prügel zu beziehen. Aber damit konnte er leben. Wenn er spurte, würde sein Onkel ihn auch nicht wieder schlagen. So hoffte er jedenfalls.
Er hob seinen Koffer hoch und folgte seinem Onkel die Stufen hinauf. Mr. Dursley schloss die Tür auf und stieß Harry unsanft hinein. Er wäre beinahe ins Stolpern geraten, konnte aber gerade noch das Gleichgewicht halten, so dass er nur etwas schwankte. Er öffnete die Schranktür unter der Treppe und stellte seinen Koffer in die hinterste Ecke. Seinen Zauberstab und sein Tagebuch sowie Federkiel, Tintenfass und Pergamentrollen hatte er schon im Zug im Hosenbund unter dem viel zu weiten Hemd gut versteckt. Als Harry wieder auf dem Flur stand, verschloss Mr. Dursley den Schrank mehrfach und steckte den Schlüssel in seine Westentasche. "Bring dein Scheißvieh nach oben! Dann kommst du wieder runter und erledigst deine Hausarbeit, damit das klar ist!", fauchte er seinen Neffen an. Harry nickte nur und unterdrückte ein Seufzen. Mr. Dursley gab ihm ohne weiteren Kommentar eine Liste und Harry begab sich nach oben in sein Zimmer. Er stellte Hedwigs Käfig auf ihren Platz auf der Kommode. Schnell gab er ihr noch etwas zu trinken und zu fressen und entfaltete dann die Liste mit der Hausarbeit, die er täglich zu erledigen hatte.
1. Küche aufräumen wischen, 2. Geschirr abwaschen, 3. Wohnzimmer staub wischen saugen, 4. Toiletten sauber machen, unten sowie oben, 5. Alle Fenster putzen, 6. Dudleys Zimmer aufräumen, 7. Betten machen, 8. Rasenmähen, 9. Beete gießen, 10. Unkraut jäten, 11. Mittag kochen, 12. Tisch abräumen, Geschirr sauber machen, 13. Garage aufräumen, 14. Gartenlaube aufräumen, 15. Flur sauber machen, 16. Abendessen zu bereiten
Als Harry die Liste durchgelesen hatte, konnte er ein lautes Seufzen nicht mehr unterdrücken. "Sklaventreiber!", schimpfte er leise. Hedwig schuhute ihm zustimmend und mitfühlend zu. Er ging wieder nach unten und fing mit den täglichen Aufgaben der Liste an.
Mrs Dursley scheuchte ihn, wenn es ihr noch nicht schnell genug ging. Mr. Dursley hatte es sich zwischenzeitlich mit seinem Nilpferd-Sohn auf der Couch bequem gemacht und sah fern. Dudley schaute immer mal wieder auf und beobachtete Harry, wie der im Haus schuftete. Dudleys Wabbelgesicht verzog sich zu einem fiesen Grinsen. Er freute sich auf den Spaß, den er mit seinem Cousin haben würde. Innerlich rieb er sich schon die Hände. Sein Cousin würde diese Ferien niemals vergessen. Er würde ihm den Freak schon noch austreiben, das schwor er sich.
Gegen 22 Uhr war er endlich fertig mit der Hausarbeit und schleppte sich nach oben. Er hatte mal wieder nichts zu essen bekommen, wie sollte es auch anders sein? Er ging ins Badezimmer, um sich etwas frisch zu machen, war er doch von der ganzen Hausarbeit total durchgeschwitzt. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um wieder klar denken zu können. Seine Glieder schmerzten von der Schufterei. In seinen Handinnenflächen hatten sich Blasen gebildet, sie brannten höllisch. Er schaute kurz in den Spiegel und musste auflachen. "Man, siehst du scheiße aus!", sagte er grinsend zu seinem Spiegelbild, welches ihn jedoch weiterhin unverzagt anlächelte. "Danke!" "Aber immer doch!" Jetzt musste er erst recht lachen. "Jetzt rede ich schon mit meinem Spiegelbild." Er schüttelte den Kopf, trocknete Hände und Gesicht ab und verließ das Badezimmer, um in sein Zimmer zu gehen.
Er schaute auf die Uhr. Schon fast 23 Uhr. Er kniete sich auf den Fußboden, schob das lose Dielenbrett unter dem Bett zur Seite und holte sein Tagebuch, Federkiel und Tintenfass aus dem Geheimversteck. Das Tintenfass stellte er auf den Nachttisch. Er setzte sich im Schneidersitz auf das Bett und blätterte durch sein schwarz in Leder eingebundenes Tagebuch. Er lächelte bei den Erinnerungen an eine bestimmte Person. Er nahm den Federkiel zur Hand, tauchte ihn in das Tintenfass und schrieb, so gut es eben mit Blasen an den Handinnenflächen ging, in sein Tagebuch.
Zwei Stunden später hatte er seine Utensilien wieder im Geheimfach versteckt und sich schlafen gelegt. Kaum dass er lag, war er auch schon eingeschlafen und in die Traumwelt abgetaucht.
Er stand mit Cedric auf dem Friedhof. Wurmschwanz traf Cedric mit dem Todesfluch und der Junge fiel Harry leblos vor die Füße. Mit entsetzt aufgerissenen Augen lag Cedric auf dem Boden. Harry schrie vor Entsetzen auf. "Nein! Nicht er!", schrie er. Er kniete sich zu dem toten Jungen nieder. Auf einmal schwebte der Geist von Cedric vor Harry. "Du allein bist für meinen Tod verantwortlich, Harry!", funkelte dieser Harry an. "Das wollte ich nicht!", stieß Harry verzweifelt aus. "Ich schäme mich, dich als Sohn zu haben!", kam eine weibliche Stimme von hinten an ihn heran. Erschrocken fuhr er herum und blickte in die wütenden Gesichter der Geistererscheinungen seiner Eltern.. "Mom, Dad, es tut mir so leid!", flüsterte er und musste den dicken Kloß runter schlucken, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Nur mühsam konnte er die Tränen zurück halten. Er schluckte hart. "Das macht uns auch nicht mehr lebendig! Wie viele willst du noch auf dem Gewissen haben?", schrie sein Vater ihn an. Erste Tränen kullerten Harry übers Gesicht. "Hör auf zu flennen, Potter!", fauchte Cedrics Geist. "Es tut mir so leid, so furchtbar leid!", schluchzte er. Die Geister schwirrten um ihn herum. "Alles machst du falsch!" " Du bringst den Tod!" "Du verdienst es nicht anders!" "Jedem, der dir nahe steht, bringst du Unglück!" Im Hintergrund vernahm er das Furcht einflößende Lachen Voldemorts.
"Nein!", schrie er und saß senkrecht im Bett. Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet und sein ganzer Körper war schweißüberströmt. Seine Atmung ging schnell und sein Herz raste.
Ruckartig wurde seine Zimmertür aufgerissen und sein Onkel stand wutentbrannt vor ihm. "Du wagst es, mich mitten in der Nacht durch dein hysterisches Gekreische aus dem Schlaf zu reißen?" "Es...es tut mir leid, ich hatte einen Alptraum!" "Es interessiert mich einen Scheißdreck, was du hattest! Wag es ja nicht noch einmal, sonst wirst du dir wünschen, du wärest nie geboren worden!", schrie sein Onkel ihn an und gab ihn eine schallende Ohrfeige. " Lass dir das eine Lehre sein!", damit drehte er sich um und knallte die Tür hinter sich zu.
Harry zuckte zusammen. Er fuhr mit seiner Hand zur schmerzenden Wange. Nicht nur, dass ein stechender Schmerz Begriff von der Wange nahm. Nein, sie war auch glühend heiß. 'Ich hab es ja auch nicht anders verdient!', dachte er sich im Stillen. Wieder kramte er sein Tagebuch und seine Utensilien hervor und begann, auch das eben Erlebte niederzuschreiben. "Sie haben ja Recht. Ich ganz allein trage die Schuld an ihrem Tod. Wäre ich nicht gewesen, wären sie heute noch am Leben und nicht Voldemort zum Opfer gefallen. Alles nur meine Schuld!" Wieder trieben diese selbstanklagenden Gedanken Tränen in seine Augen. Doch dieses Mal hielt er sie nicht zurück. Eine einsame Träne tropfte auf sein Tagebuch und verwischte die schon fast angetrocknete Schrift.
Einige Tage später:
Harry sah furchtbar aus. Er war noch abgemagerter als vorher, hatte bestimmt schon fünf Kilo abgenommen. Sein linkes Auge war zugeschwollen und schillerte in den verschiedensten Farben (blau, rot, lila, gelb). Seinen linken Arm, der gebrochen zu sein schien, hielt er vor seiner Brust angewinkelt, damit er nicht zu sehr schmerzte. Und trotz der vielen Verletzungen, die er die letzten Tage davon getragen hatte, schuftete er weiter, um sich ja nicht mehr einzuhandeln. Doch jetzt musste er sich wirklich ausruhen. Er war am Ende seiner Kräfte angelangt. Weiter ging es einfach nicht. Er setzte sich auf sein Bett und lehnte seinen Kopf an die kühle Wand. Er schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, den Schmerz, der durch seinen Körper zog, zu ignorieren, ihn gänzlich aus seinen Knochen, seinen Muskeln und seiner Haut zu verbannen.
Schritte polterten die Treppe hinauf. Seine Zimmertür wurde mit einem Ruck aufgerissen. Er fuhr vor Schreck zusammen. Sein Onkel stand in der Tür und funkelte seinen Neffen wütend an. „Du solltest doch vor gut einer halben Stunden den Rasen mähen, oder täusche ich mich da?" „Nein, Onkel Vernon!", meinte Harry und schaute seinen Onkel verängstigt an. „Ja, worauf wartest du dann noch? Nicht nur ein Freak, sondern auch noch faul dazu!", fuhr er ihn an. Nervös stand er auf und versuchte sein Gleichgewicht zu halten. Er stützte sich am Bettpfosten ab, damit sein Kreislauf sich wieder regenerieren konnte. Als der Schwindel vorüber war, wankte er zur Tür. Mr. Dursley stand hinter ihm, das Gesicht hochrot vor Zornesröte. Er stieß den Jungen unsanft von hinten an. Dieser geriet ins Stolpern und fiel auf den Boden. Unsanft wurde er am Kragen gepackt und wieder hoch gezerrt. Wieder wurde er von seinem Onkel weiter geschubst, bis er an der Treppe angelangt war. Mr. Dursley gab seinem Neffen einen weiteren Schubs. Harry konnte sich noch gerade am Geländer festhalten, denn beinahe wäre er durch den Stoß die Treppen hinunter gestürzt. Er stolperte die Stufen nach unten. Den linken Arm fest an seinen Oberkörper gedrückt. Mr. Dursley schubste ihn immer weiter. Nur mühselig hielt er sich noch am Geländer fest. Er konnte sich kaum noch auf den wackeligen Beinen halten. Sein Körper rebellierte nach den ganzen Strapazen und ihm wurde schwarz vor Augen. Er nahm nicht mehr wahr, dass sich seine Hand wie in Zeitlupe vom Geländer löste und er nach vorne kippte. Er schlug mit dem Gesicht auf dem Boden auf und blieb bewusstlos liegen.
Sein Onkel stand hinter ihm, seinen Mund zu einen schrecklichen, eiskalten Lächeln verzogen.
