-ERWACHEN-
(2012)
Wie lange dauert es, bis man jemanden nicht mehr hasst? Wie lange dauert es, das Bild, das man von einem Menschen hat, zu ändern? Wenn es sich über Jahre eingebrannt hat? Was, wenn sich herausstellt, dass der, den man glaubte zu kennen, ein ganz anderer war? Was, wenn sich das Blatt plötzlich um 180° dreht? Wenn schwarz plötzlich zu weiß wird?
Viele Gedanken gingen Harry durch den Kopf als er zum wiederholten Male vor der Tür 213 im 2. Stock des Pflegezentrums für seelische Erkrankungen in der Nähe von Aberdeen stand. Hierher kamen die, für die es meist keine Hoffnung mehr auf Heilung gab. Menschen mit magisch und nicht magisch bedingten seelischen Erkrankungen fanden sich hier auf allen Stationen.
Ein Jahr nach dem 2. Krieg gegen Voldemort und seine Mächte schoßen solche Einrichtungen quasi wie Pilze aus dem Boden. Zu sehr hatte der Krieg die magische Welt erschüttert. Zu viele konnten die Grausamkeiten, die sie erlebt und mitangesehen hatten, nicht verkraften. Zu sehr hatten sie die furchtbaren Erlebnisse erschüttert, so dass sie nicht mehr zurück in den Alltag fanden. Für viele existierte der Alltag nicht mehr. Er hatte ihre Familien und Freunde und all das, was sie sich aufgebaut hatten dahingerafft. Andere wurden hingegen im Kampf oder durch den Terror von Voldemort und seinen Anhängern verflucht. Auch sie mussten versorgt werden.
Harry kämpfte ebenfalls noch mit seinen Erlebnissen. Ein Jahr war vergangen seit der Schlacht von Hogwarts. Zu viele Wunden waren noch nicht verheilt. Wie denn auch? Remus, Tonks, Fred. Sie, und noch viele mehr waren tot. Während die magische Welt damit beschäftigt war zu vergessen und, die neu gewonnene Freiheit genießend, gute Laune zu verbreiten, saß er vor dem Scherbenhaufen seines kläglichen Retter-der-Welt-Lebens. Irgendwie konnte er es ja nachvollziehen. Über Jahre hatten die Menschen in Angst gelebt und nun brauchten sie keine mehr zu haben. Doch aus heutiger Sicht schien es ihm, als hätte sein Leben nie einen anderen Sinn gehabt als die Welt von Voldemort zu befreien. Hatte er denn je etwas anderes getan? Seine Kindheit und Jugend schien nur diesem Zweck gewidmet gewesen zu sein. Und nun stand er da, 19 Jahre alt, und er hatte nichts Eigenes außer Erinnerungen an tote Freunde.
Er hatte sich für die Welt geopfert, er war für sie freiwillig in den Tod gegangen. Gut, dass es ein anderes Ende nahm. Aber jetzt konnte er seinen Platz in dieser Welt nicht finden. Normale Aktivitäten wie Quidditch, Schach oder Zeit mit Freunden verbringen, Dinge, die ihm sonst Freude bereitet hatten, das alles schien ihm nun seltsam fremd.
Ron und Hermine schienen das besser zu verkraften. Freilich, auch sie hatten zu kämpfen. Trotzdem wusste er gerade nichts mit ihnen anzufangen. Selbst Ginny sah er nicht mehr. Sie hatten sich ein halbes Jahr nach der Schlacht getrennt. Die meiste Zeit saß er in seinem Haus am Grimmauld Platz und starrte an die Decke.
Und dann kam die Nachricht.
Es war Lange vom Ministerium verschwiegen worden. Aus welchen Gründen auch immer. Dabei hatte er weiß Merlin alles getan um das Ansehen dieses Mannes in der Öffentlichkeit zu reparieren. Doch vielleicht konnten die Menschen Dumbledores Mörder nicht verzeihen. Aber zumindest ihm hätten sie es doch sagen können! Vielleicht hatte es das Ministerium im ganzen Chaos nach der Schlacht aber auch einfach vergessen.
Es hatte sich herausgestellt, dass Dumbeldores Phönix genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und den Totgeglaubten wieder zum Leben erweckt hatte. Unmittelbar nachdem Harry, Ron und Hermine Snape in der Heulenden Hütte zurückgelassen hatten, hatte der Vogel für Snape geweint und seine Wunden geschlossen. Als Snape gefunden wurde, war er aufgrund des großen Blutverlustes trotzdem mehr tot als lebendig. Er wurde wochenlang in St. Mungos aufgepäppelt. Doch es machte den Heilern Sorgen, dass Snape nie begann mit ihnen und allen anderen zu kommunzieren. Er aß, trank, konnte gehen und sich selbst pflegen, trotzdem saß er nur mit leerem Blick am Bett oder starrte aus dem Fenster. Nach vielen fruchtlosen Versuchen ihn zu irgendwelchen Reaktionen oder gar zum Sprechen zu bringen, gab die Belegschaft in St. Mungos auf, diagnostizierte eine Art depressiven Stupor und verfrachtete Snape hier hin ins Pflegezentrum.
Nach den Angaben des Pflegezentrums hatte sich Snapes Verhalten auch hier nicht sonderlich verändert. Auch hier verbrachte er die meiste Zeit damit vor dem Fenster zur stehen und mit leerem Blick hinauszustarren.
Genau dieses Bild zeigte sich Harry seit einem Monat. Seit Harry von der Sache gehört hatte, war er jeden Tag von London hins Pflegezentrum appariert. Seit einem Monat beobachtete er Snape durch das kleine Fenster in der Tür.
Ihm gingen so viele Fragen durch den Kopf, so vieles, das er dem Mann sagen wollte. Aber jedes Mal, wenn er vor der Tür stand, konnte er sich nicht dazu bringen hinein zu gehen.
Die Gründe dafür nicht den Raum zu betreten wechselten ebenso wie das Bild, dass er von seinem ehemaligen Lehrer, besten Freund seiner Mutter, Todfeind, ständigen verborgenen Begleiter und Helfer hatte.
Sein jahrerlanger Hass auf Snape und seine furchtbaren Beleidigungen, Erniedrigungen, die Art wie er mit Sirius umgegangen war, konnte er nicht mit einem Wisch aus seinem Gedächtnis löschen. Und auch wenn er sich 100x sagte, dass das nun alles keine Relevanz mehr hatte, dass die Person, die er gedacht hatte zu kennen, so nicht existierte, konnte er seine Gedanken nicht wirklich ordnen und vergessen. Dabei hatte er in der Zwischenzeit nur das Beste über Snape gedacht. Er hatte in seinen wenigen Interviews immer wieder von Snapes Opfern für das Überleben aller berichtet. Er hatte dafür gesorgt, dass Snape quasi postum Ehrungen zuteil wurden. Aber Snape in persona zu sehen, hatte ihm alles, was er in seiner Schulzeit mit ihm erlebt hatte, wieder vor Augen geführt.
Deshalb hatte es einen Monat gedauert, bis heute, bis er zum ersten Mal so weit war, den Raum zu betreten.
Harry betrat den Raum Nr. 213. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Er machten einen Schritt vorwärts. Zwei. Drei. Bis er hinter seinem ehemaligen Professor stand. Alles wirkte seltsam fremd.
Der Raum war schön, hell und er war in mit Muggelmöbeln ausgestattet. Selbst Snapes Kleidung erinnerte überhaupt nicht an den düsteren, schwarztragenden, bedrohlichen Lehrer. Jetzt stand er in einem hellgrauen Sweater und braunen Hosen regungslos am Fenster. Das Befremdlichste waren aber die Haare. Sie waren kurz.
"Professor", brachte Harry endlich heraus. "Professor Snape … ich bin Harry... Potter". Keine Reaktion. Harry ließ wartend ein paar Minuten verstreichen. "Professor Snape. Ich bin Harry Potter. Lily Evans' Sohn. Können Sie sich an mich erinnern?" Nichts. Überhaupt nichts.
Obwohl er es sich eigentlich nicht anders erwartet hatte, traf ihn Snapes geistige Abwesenheit härter, als er gedacht hatte. Was, wenn er auf keine seiner Fragen eine Antwort bekommen würde?
Ihn verband so vieles mit dem Menschen vor ihm, verdankte ihm sein Leben – mehr als nur einmal – und doch konnte er nichts mit ihm teilen.
Er wollte gerade wieder umdrehen, als er sich doch anders entschloss. Warum so schnell aufgeben? Diese Verbundenheit, die Verwicklung des Schicksals, die Harry so intensiv spürte, die ihn jeden Tag aufs Neue wieder dazu veranlasste hier her zu kommen, kam ja nicht von irgendwo.
Jahrelang hatte Snape für Harry in Erinnerung an seine Mutter gekämpft und ihn im gleichen Moment in Erinnerung an seinen Vater gehasst. Harry und Snapes Bekanntschaft war von Emotionen ja geradezu überladen. Wer, wenn nicht Harry, konnte es schaffen eine Reaktion aus Snape herauszulocken?
Harry nahm all seinen Mut zusammen und machte noch einen Schritt vorwärts. Vorsichtig legte er sanft seine rechte Hand auf Snapes rechte Schulter. Die Bewegung schien ihm eine Ewigkeit zu dauern.
Als weiter nichts passierte, ließ er seine Hand weich auf der Schulter des älteren Mannes liegen. Er konnte die Schulterknochen durch den Sweater spüren.
Snape war nun fast noch dünner als damals, als ihn Harry das letzte Mal gesehen hatte. Dadurch wirkte er beinahe noch größer. Die Narben von Naginis fürchterlichen Bissen waren deutlich an Snapes Hals zu sehen. Sie bahnten sich ihren Weg von Snapes linken Ohr beginnend den Hals hinunter bis sie unter dem Kragen des Sweaters verschwanden.
Harry holte tief Luft und genoß den Moment, der wie magisch auf ihn wirkte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Snape das nicht auch spürte.
„Sn.." - Harry überlegte es sich anders - „Severus"..."Severus … Kannst du mich hören?".
Harry schloss die Augen, versuchte zu spüren.
Die Zeit schien stehen zu bleiben. Erst als er merkte, dass wie sich die Muskeln des Körpers unter ihm zusammenzogen und verkrampften, bekam Harry wieder ein Gefühl für die Zeit. Obwohl sich Snape unter ihm verspannte, nahm er seine Hand nicht weg. Und nach Minuten, die ihm wiederum wie eine Ewigkeit erschienen, geschah das Unfassbare. Harry spürte, wie die Spannung im Körper seines ehemaligen Lehrers allmählich nachließ und Snape leise seufzte. Langsam, ganz langsam drehte sich Snape um und sah ihm direkt in die Augen. „Was machst du hier?", hörte Harry ein leises Flüstern. Die schwarzen, unergründlichen Augen hatten einen traurigen Zug bekommen. Die Stimme war vom langen Schweigen belegt und heiser.
