Ein gestohlener Moment

Aragorn, Arathorns Sohn, stand an den Zinnen seiner Stadt, die Hände auf die kühlen weißen Steinquader gelegt, deren schmiegsame Glätte wie eine Liebkosung für ihren Herrn. Auch er fühlte es, er, der immer in den Wäldern zuhause gewesen war, auf einer tieferen Ebene mit diesem Ort verbunden.

Der Tag neigte sich bereits seinem Ende zu. Im schwindenden Licht konnte man sich fast einbilden, Minas Tirith sei so unversehrt wie vor dem Ringkrieg. Die großen Lücken, welche die feindlichen Geschoße in die Wehrmauern und Gebäude gerissen hatten, ließen sich nur langsam schließen. Der Mantel der Dämmerung verdeckte sie gnädig.

Der Wind zauste seinen Bart, den er sich hatte wachsen lassen um – wie hatte Gandalf es augenzwinkernd ausgedrückt? – die innere Würde seines Königtums auch außen widerzuspiegeln. Seine Mundwinkel zuckten als ihm ein Gedanke kam. Ob Mithrandir deshalb auch einen Bart trug? Es fiel den Menschen in der Tat leichter ihn so zu akzeptieren, da er äußerlich reifer wirkte. Er, der älter war als sie alle, mit Ausnahme von Mithrandir natürlich, und Arwen.

Süß war ihre Liebe zu ihm, und bitter sein Wissen, daß ihr durch diese Liebe die Unsterblichkeit der Elben versagt blieb. Ihre Entscheidung, für ihn. Seit ihrem Spaziergang in Bruchtal versuchte er, das zu verstehen.

Er lächelte, als er daran dachte, wie sie sich hier unter freiem Himmel geküßt hatten, direkt nach seiner Krönung, an die Blüten, welche die Menschen warfen, die im Wind tanzten wie Wirbel aus duftendem Schnee. Ihre Augen hatten vor Freude geleuchtet. Er tat alles was er konnte, diese Freude zu erhalten.

Sie hatte ihm von ihrer Vision erzählt, von dem Sohn den sie haben würden. Für ihn, da waren sie sich einig, für ihn würden sie stark sein, für ihn bauten sie dies alles auf.

Seither war so vieles geschehen. Viel Gutes erstanden aus den Trümmern des Krieges, doch die Zahl der Opfer war hoch. Und an ihm lag es, dafür zu sorgen, daß sie nicht vergebens gewesen waren. Zu ihm schauten die Menschen auf, er trug die Last des Wiederaufbaus auf den Schultern.

Sein ganzes Leben hatte ihn bis hierher geführt, er war immer Estel gewesen, die Hoffnung, so hatte Elrond ihn genannt. Als Streicher hatte er versucht, seiner Bestimmung zu entgehen, und war doch als Thorongil, als Sternenadler, Gondor im Krieg zur Seite gestanden. Nun nannten sie ihn den Erneuerer, da er die Gabe des Heilens hatte, und Elessar, Elbenstein.

Er verstand sie. Sie brauchten einen Grundstein, auf den sie ihr neues Zeitalter bauen konnten. Ihn und Arwen, die edle Frau an seiner Seite. In einer Welt, in der die Elben bis auf so wenige bereits verschwunden waren, mußten sie ein neues Fundament errichten.

Er brütete schon wieder. Langsam löste er seine Hände von der Brüstung. Wenn Arwen ihn so fand, würde sie ihn necken, und er würde erröten, was einem würdevollen König schlecht zu Gesicht stand. Der Gedanke brachte ihn zum Lächeln.

An den frischen Trieben des Weißen Baums vorbei führte ihn sein Weg zurück in die weißen Arme seiner Stadt, seiner Liebe, seiner Bestimmung.

ENDE