Grazal
Prolog
Die Flying Dutchman trieb mit der Strömung. Lautlos glitt sie durch das tiefschwarze Wasser einer anderen Welt. Sterne schmückten das Firmament bis zum endlosen Horizont und spendeten ein wenig Licht in dieser immerwährenden Nacht. Es war ruhig im Totenreich.
Seit Charon die Seelen wieder an fremde Ufer geleitete, hatte der Tod etwas von seinem Schrecken verloren; das ziellose Fahren der Geister auf diesen Gewässern hatte endlich ein Ende gefunden. Der Captain der Flying Dutchman erfüllte seine Aufgabe gewissenhaft.
Jetzt war es wieder soweit. Irgendwo hatte es einen Seemann über Bord gespült und das Meer hatte ihn mit unentrinnbar kalter Umarmung empfangen. William Turner wusste es mit Gewissheit, denn der Wind hatte sich gedreht und das Schiff einen neuen Kurs gesetzt.
Der Captain stand auf der Brücke, das Steuerrad hatte er seinem erste Maat überlassen. Noch ein Turner. „Will?"
„Hm?"
„Captain, darf ich fragen, ob alles in Ordnung ist?"
William Turner riss seinen Blick vom unendlichen Horizont, der sich nach allen Seiten hin um die Flying Dutchmann erstreckte, und wandte sich seinem Vater zu. Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. „Du darfst." Eine Antwort nach dem Befinden des Captains erhielt der erste Maat allerdings nicht.
Mister Turner fragte nicht erneut. Sein Sohn war schweigsam geworden, erwachsen, sich seiner Verantwortung voll bewusst. Und doch, so ahnte der erste Maat, hätte Will all die Macht, die Unsterblichkeit, die ehrenvolle Verantwortung sofort eingetauscht für nur einen Wimpernschlag Zeit mit seiner Elizabeth. Dorthin wanderten die Gedanken des Captains oft und sein Vater fragte sich besorgt, ob Will sein Schicksal wirklich akzeptiert hatte, oder er nach einem Ausweg suchte um der Dutchman zu entkommen.
„Dingi voraus!" rief es vom Bug aus und ohne ein Zutun der Mannschaft verlangsamte das Schiff seine Fahrt. Der Wille des Captains war es auch, der die gewaltige, bis an die Zähne bewaffnete Fregatte ganz vorsichtig, beinahe beschützend längsseits zum Beiboot treiben ließ.
„Es ist nur eins." stellte der erste Maat fest und Will nickte sacht. Auch eine einzelne Seele besaß das Recht auf Geleit durch den Fährmann. Dennoch regte sich nun Neugier im Captain. Es hatte kein Sturm getobt, keine Schlachten waren geschlagen worden, keine Piratenüberfälle. Wer war dort dennoch zu Tode gekommen? Und warum beschlich Will ein mulmiges Gefühl, so, als ginge irgendetwas nicht mit rechten Dingen zu?
Schwungvoll stieß Will sich vom Brückengeländer ab und nahm die Stufe hinunter aufs Deck. Die Mannschaft ging ungerührt weiter den notwendigen Handgriffen nach und erst, als der Captain die Reling erreicht und einen Blick auf das Beiboot geworfen hatte, sahen einige der Männer verwundert auf.
„Gibbs!"
Die Seele im Dingi, ein getreues Abbild von Joshamee Gibbs zu seinen besten Lebzeiten, starrte weiter nach vorne ins Licht der Fährlampe. In der Hand hielt er - Will blinzelte zweimal und war sich sicher - seinen geliebten Flachmann. „Gibbs!"
Jetzt wandte die Seele den Kopf und sah auf. Erst spiegelte sich nur verständnislose Leere in dem gutmütigen Gesicht. Dann bewegte sich der Backenbart und ein erfreutes Grinsen zierte die Miene des feisten Piraten. „Will."
„Mister Gibbs!" wiederholte der Captain zum dritten Mal und starrte ungläubig auf die Seele hinunter. „Was macht Ihr hier?"
Der Tote runzelte verwundert die Stirn, kratzte sich am Kinn und blickte kurz um sich. Dann sah er mit einem entschuldigenden Lächeln zu Will auf. „War hier schon mal, bin tot, nehme ich an. Solltest du das nicht besser wissen, Junge?"
Will nickte, schüttelte aber gleich darauf den Kopf. Offensichtlich sah er sich mit etwas Unfassbarem konfrontiert, das ihn kurzzeitig wieder jenen naiven, jungen Mann sein ließ, mit dem seine Abenteuer um die Piraten eins begonnen hatten. Gibbs war hier? „Was ist passiert?"
Der alte Seebär ließ den Flachmann sinken, den er soeben an die Lippen setzen wollte. Zu seinem Entzücken war die lederne Flasche prall gefüllt und Gibbs war überzeugt davon, dass sie auf diesem Meer auch niemals geleert werden könnte. In die Hölle hatte es ihn nicht gerade verschlagen wie es schien, auch wenn er Stein und Bein darauf geschworen hätte, das Paradies sicher nicht zu verdienen. Vielleicht lag es aber auch nur am guten, englischen Einfluss von William Turner, der auf seine gesamte Umgebung abfärbte. Nun, unter diesen Umständen wäre es womöglich besser, noch etwas länger in der Nähe des gerechten Captains zu verweilen. „Das ist eine lange Geschichte."
Will nickte. „Fürchtet Ihr den Tod, Mister Gibbs?"
„Ja, und wie! Besonders, wenn er einem dem Rum stehlen will!"
„Willkommen an Bord."
Wackelig erhob sich der Pirat und griff nach der helfenden Hand Wills. Zwei aus der Mannschaft eilten herbei und zogen die Seele, den neuesten Sünder auf diesem Schiff, auf die Planken der Dutchman. Niemand bemerkte das kurze Schaudern des Captains und seinen Blick hinunter zum Dingi. Die Barke verschwand nicht, wie sie es nach dem besiegelten Packt eigentlich hätte tun müssen. Etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Etwas... „...fehlt."
Gibbs ließ erneut mit großem Bedauern seinen Rumvorrat sinken und sah wohl ein, dass erst die Geschichte und dann das Vergnügen zu kommen hatten. „Capt'n?"
Will schüttelte den Kopf und sah hinauf zur Brücke. Auch sein erster Maat war vom Steuerrad ans Geländer getreten und musterte das leere Beiboot mit undeutbarem Gesichtsausdruck. Trotz dem wusste Will: Sein Vater war besorgt. Das war nicht richtig, der Dingi durfte nicht hier sein, wenn die Seele ihn verlassen hatte!
„Jemand fehlt", wiederholte Will leise. Sein ungutes Gefühl verstärkte sich, jetzt, da er die Ursache erkannte. Ruckartig hob er den Kopf und bemerkte die verwirrten Blicke der anderen Männer. Mit Befehlston in der Stimme wandte er sich an Gibbs. „Folgt mir!"
Der Pirat beeilte sich, den raschen Schritten seines neues Captains zu dessen Offizierskajüte zu folgen. Kaum war die Tür hinter ihm zugefallen, kaum hatte Will hinter einem wuchtigen Schreibtisch Platz genommen, auf dem allerhand Seekarten lagen, von denen Gibbs schwören würde, dass nicht eine davon die sieben Weltmeere zeigte, wie sie dem besten Navigator bekannt waren, fragte der Captain: „Wie seid Ihr gestorben?"
Gibbs gab bereitwillig Auskunft, während er weiterhin die Einrichtung musterte. „Bin über Bord gegangen."
„Der Pearl?"
„Aye. Ertrinken ist nicht angenehm, Junge. Vor allem in Wasser."
Will nickte. "Wo ist Jack?" fragte er mit kaum gekannter Schärfe in der Stimme, die ihm sofort die volle Aufmerksamkeit des älteren Mannes sicherte. Erst sah Gibbs nur stumm und verständnislos zurück. Dann lachte er plötzlich auf. „Jack, der gerissene Teufel! Das hat er sich also dabei gedacht!"
Die Lippen des Captains bildeten einen dünnen Strich. Jack, also. Selbst hier im Totenreich sorgte der Piratenfürst noch für neuen Ärger. „Die ganze Geschichte, Mister Gibbs. Bitte."
Es war ein Befehl, keine Bitte – und so hub der alte Pirat zu erzählen an. „Es begann in Port Royal als der Wind sich drehte und..."
tbc
