Kapitel 1
Jacob
„Jacob, komm schon! Soll das etwa schon alles sein?", Renesmee drehte sich zu mir um. Und einmal mehr verschlug ihr Anblick mir die Sprache. Ihre langen dunklen Haare wehten im Wind. Ihre Haut schimmerte leicht in der Sonne, nur ganz leicht, nicht so, dass es jemand anderem auffallen würde. Ihre Augen schenkten mir das Strahlen das ich so liebte. Sie war perfekt. Meine Nessie. Ihr Lachen ertönte und hallte von den Bäumen wieder. Ihre Erscheinung raubte mir den Atem. Wie immer. Ich musste mich zusammen reißen, meine Faszination wieder in den Griff zu bekommen. Sie liebte es mit mir im Wald jagen zu gehen. Für sie war es wie ein Spiel. Sie lief weiter und ich folgte ihr.
„Na warte, dich krieg ich!", rief ich ihr zu. Ein Lachen war die Antwort. Ich konnte sie nicht mehr sehen, aber riechen. Ihren Duft hätte ich überall erkannt. Sie roch nicht so „unangenehm" wie der Rest der Familie. Das Wort „stinken" hatte ich versucht mir abzugewöhnen, zum Wohle des Familienfriedens. Nein, Nessies Geruch war für mich wie die Luft, die ich zum Atmen benötigte. Ohne ihn konnte ich nicht leben.
Ich setzte zum Sprung an, während ich mir meine Kleider vom Leib riss. „Wieder eine Jeans die das Zeitliche segnet", dachte ich und musste schmunzeln. Wie gut das Geld in dieser Familie keine Rolle spielte, sonst hätte ich wohl längst Schwierigkeiten noch irgendetwas Tragbares in meinem Schrank zu finden. Noch bevor meine Füße den Boden berührten verwandelte ich mich. Ich spürte die Kraft, die durch meine Adern strömte, als ich mich in die Gestalt verwandelte, die mich vollkommen machte. Den Wolf. Ich nahm ihre Fährte auf und folgte ihr. Plötzlich spürte ich keine Bewegung mehr. Sie war stehengeblieben. Ich stoppte und blickte mich um. Wo war sie? Ich konnte sie riechen, aber nicht sehen. Eine kurze Welle der Panik überkam mich. Ein Zischen durchfuhr die Luft, ich konnte gerade noch nach oben blicken und sah, wie sie aus zwanzig Meter Höhe von einem Baum auf mich hinunter sprang. Ausweichen war nicht mehr drin. Sie landete direkt auf mir und wir beide stürzten zu Boden. Sie lachte laut auf und rollte sich von mir hinunter. „Sorry, hab ich dir wehgetan?", fragte sie und sah mich mit ihren großen Augen an. Ich schüttelte den Kopf. Sie streichelte mir über den Rücken und erhob sich. Auch ich stand auf, schnappte mir den Rucksack, den sie mir lächelnd reichte und verschwand hinter einem Baum. Wie immer hatte sie ihren „Notfall-Rucksack" gepackt. Darin befanden sich eine Jeans und ein T-Shirt für mich, für den Fall das ich mich wieder zu schnell verwandelte und mir die Kleider vom Leib riss, anstatt einfach kurz hinter einem Baum zu verschwinden.
Nachdem ich mich angezogen hatte ging ich zu ihr zurück. Sie hatte sich auf einen Baumstumpf gesetzt und betrachtete mich lächelnd. Sie war so schön.
„Und?", fragte sie keck „bist du mir dankbar für den Rucksack? Vielleicht sollte ich ihn nicht mehr mitnehmen, das wäre um so einiges lustiger für mich." Sie grinste.
„Na, dann kann ich ja nur hoffen, dass du weiter Mitleid mit mir hast und ihn mitnimmst. Oder ich muss versuchen ein wenig mein Temperament zu zügeln."
„Als ob du das hinkriegst. Du kannst einfach nicht gegen mich verlieren."
Genau so war es immer gewesen. Wir beide, zusammen im Wald. Die Spiele, das Jagen, seit ihrer Geburt liebten wir es. Für sie war ich ihr großer Bruder, ihr bester Freund, ihr Verbündeter. Doch für mich war sie so viel mehr, für mich war sie alles. Sieben Jahre waren nun seit ihrer Geburt vergangen, sie war „erwachsen", hatte den Körper einer 17-jährigen und auch die Reife und sie stand kurz vor ihrem ersten High-School-Abschluss.
Ich setzte mich neben sie und lächelte sie an. Sie strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Bei der Berührung ihrer Finger druchströmmte mich ein Schauder. Schnell senkte ich den Blick, doch sie umfasste mein Kinn und drehte meinen Kopf wieder zu sich. Sie war mir plötzlich so nah, dass ich ihren Atem in meinem Gesicht spürte. „Oh Nessie, was machst du mit mir", dachte ich und versuchte gegen das Verlangen anzukämpfen sie zu küssen. „Jacob", hauchte sie und kam meinem Gesicht immer näher. Mein Atem wurde schneller. „Nessie, ich", doch sie legte mir vorsichtig den Finger auf die Lippen.
„Nicht Jacob, sag jetzt nichts. Lass es einfach geschehen, so wie es vorherbestimmt ist." Ihr Mund kam meinem immer näher. Ich konnte ihre Lippen schon fast spüren. Mein ganzer Körper zitterte. So lange hatte ich mich nach diesem Moment gesehnt. Und dann legte sie ihre Lippen auf meine. Erst ganz sanft. Ich öffnete meine Lippen und sie tat es mir gleich. Unser erster Kuss. Er begann vorsichtig, zurückhaltend. Doch Nessie blieb nicht dabei. Ihre Zunge berührte die meine. Der Kuss wurde leidenschaftlicher, fordernder. Ihre Hände vergruben sich in meinen Haaren.
„Oh Jake", stöhnte sie und ließ kurz von meinen Lippen ab „wie lange habe ich mich danach gesehnt."
Behutsam zog ich sie hinunter ins Gras.
„Jake, Jake", immer wieder hauchte sie meinen Namen.
Doch plötzlich veränderte sich ihre Stimme. Sie wurde dunkler.
„Jake, Jake, alter Hund, wach endlich auf!"
Ein Poltern an meiner Tür begleitete Emmets Stimme. Ich öffnete die Augen. Es war nur ein Traum. Wieder nur ein Traum.
„Jacob!", wieder war es Emmet „Los, Edward meinte ich sollte dich schnell wecken. Wahrscheinlich passen ihm deine Träume mal wieder nicht." Emmet gluckste vor Lachen.
Verdammt Edward. Warum musste er auch meine Gedanken lesen können. Daran würde ich mich wohl nie gewöhnen. Nicht mal in meinen Träumen war ich allein.
Irgendwie tat er mir ja fast schon leid. Seit einiger Zeit musste er nun meine Träume miterleben und dank meiner überschäumenden Phantasie sehen, wie ich seine Tochter küsse, wenn es denn nur bei den Küssen blieb. Doch meist war Edward schneller und beendete unsanft meinen Traum, bevor meine Phantasie mit mir durchging und er sich wohlmöglich übergeben musste, wenn er es denn können würde. Dem Armen wurde es wohl mal wieder zu viel. „Ich bin wach, Em!" sagte ich grummelnd, wohl wissend, dass er mich hörte.
„Alles klar, dann mach dich fertig. Du wolltest doch schließlich Nessie noch zur Schule fahren bevor du aufbrichst." Ich hörte wie Emmet sich von der Tür entfernte und nach unten ging.
Ein Stich durchfuhr mein Herz. Heute würde es wieder soweit sein. Ich würde Nessie verlassen. Seit wir vor ein paar Jahren aus Forks weggegangen waren, war das unvermeidlich für mich. Es war klar, dass ich sie nicht alleine gehen lassen konnte, dass war für mich unmöglich. Nessie war mein Leben. Für die Cullens stand damals sofort fest, dass ich sie begleiten würde, für sie gehörte ich zur Familie, selbst Blondie hatte nichts dagegen. Für sie stand Nessies Glück im Vordergrund und dafür nahm sie mich wohl in Kauf. Auch Edward und Bella waren damals sofort einverstanden, auch wenn ihnen das mit meiner Prägung auf ihre Tochter am Anfang gar nicht so leicht fiel. Aber ich konnte auch mein Rudel und Billy nicht so lange in La Push alleine lassen. Daher fuhr ich alle paar Monate nach La Push, um dort nach dem Rechten zu sehen. Ich freute mich auch wirklich auf die Besuche, da ich La Push sehr vermisste. Es war meine Heimat. Und die tiefe Verbindung, die mich mit meinem Rudel verband, war auch in all den Jahren nicht weniger geworden. Andererseits fiel mir die Trennung von Nessie unglaublich schwer. Es war, als wenn ein Teil von mir fehlte, ich nicht vollständig war, wenn sie nicht bei mir war. Es war so schlimm, dass ich den Schmerz körperlich spüren konnte. Mir graute jetzt schon davor.
Nessie… wieder dachte ich an meinen Traum und musste kurz durchatmen. In der letzten Zeit wurde es schwieriger für mich mit Nessie so unbefangen wie früher zusammen zu sein. Immer mehr spürte ich auch meine körperliche Zuneigung zu ihr, wenn ich in ihrer Nähe war. Meine Gefühle hatten sich im Lauf der Zeit verändert. Die brüderliche Liebe und den Beschützerinstinkt, den ich seit ihrer Geburt durch die Prägung für sie empfand, hatte sich in aufrichtige und tiefe Liebe verwandelt. Manchmal spürte ich sie so deutlich, dass mein Herz zu zerspringen drohte. Ich hatte in meinem Leben schon einmal geglaubt zu lieben, doch jetzt wusste ich, dass die Gefühle, die ich damals für Bella empfand einen anderen Ursprung hatten und in keiner Weise mit den Gefühlen zu Nessie zu vergleichen waren. Ich liebte Bella, keine Frage, wie eine Schwester, wie eine beste Freundin und genau das war sie, meine beste Freundin. Daran hatte auch ihre Verwandlung zum Vampir nichts geändert.
Nessie ahnte, im Gegensatz zum Rest der Familie, nichts von meinen Gefühlen für sie. Wir hatten damals gemeinsam beschlossen, dass Nessie ihre Gefühle selbst entdecken sollte, selbst entscheiden sollte, ohne beeinflusst zu werden. Daher hatten wir ihr die Umstände meiner Prägung auf sie verschwiegen. Es war vor allem mein Wunsch. Ich wollte, oder besser wünschte mir, dass sie ganz natürlich ihre Gefühle für mich entdeckt und dann dasselbe für mich empfindet, wie ich für sie. Auch wenn ich mir nur vorstellen konnte, dass jemand überhaupt so stark für jemanden empfinden konnte, wie ich für Nessie. Von Edward und Bella vielleicht einmal abgesehen. Was ich für Nessie empfand war Schicksal und ich war mir sicher, dass es auch ohne Prägung so gekommen wäre. Ich war dazu bestimmt sie zu lieben. Nun war Nessie 17, oder 7, je nachdem wie man es sah, und ich hatte keine Ahnung, was genau sie für mich empfand. Ich hatte mehrmals versucht aus Edward etwas rauszubekommen, aber der hielt dicht und verriet mir ihre Gedanken nicht. Er war einfach immer so… so gut. Manchmal machte mich das ganz wahnsinnig.
Ich drehte mich im Bett um, damit ich den Wecker sehen konnte. Ich musste mich nun wirklich beeilen, wenn ich noch mit Nessie in Ruhe frühstücken wollte, bevor wir losfuhren. Und ich wollte jede Sekunde mit ihr genießen, bevor ich fuhr. Schnell stand ich auf und verschwand im Bad, um unter die Dusche zu springen.
Kapitel 2
Nessie
Ich war bereits fertig angezogen und saß auf meinem Bett, um meine Schultasche zu packen. Meine Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Heute würde Jacob wieder nach La Push fahren. Ich konnte ja verstehen, dass er fuhr, aber der Gedanke hier ohne ihn zu sein, machte mich ganz krank. Ich hatte meine Eltern gebeten ihn begleiten zu dürfen, hatte natürlich einen Besuch bei meinem Opa als Grund vorgeschoben, doch sie hatten es mir nicht erlaubt. Ich sollte in der Schule nichts verpassen, schließlich war es mein letztes Schuljahr. Als ob das so wichtig wäre, meine Noten waren super und es war ja schließlich auch nicht so, dass ich die High-School nicht noch ein paar Mal in meinem Dasein durchleben würde. Das Argument zog jedoch bei meinen Eltern nicht, das erste Mal wäre etwas Besonderes. Ich konnte die Leier nicht mehr hören.
Jacobs Besuche in La Push waren für mich schon immer schlimm gewesen. Ich hatte ihn immer vermisst, als Spielkamerad, als Verbündeten, als Freund. Aber diesmal war es anders. Es war schlimmer. Die Aussicht ihn in den nächsten Tagen nicht in meiner Nähe zu haben, nicht mit ihm reden zu können, ihn nicht ansehen zu können, das tat einfach weh, tief in mir drinnen. Ich weiß auch nicht, was in letzter Zeit mit mir los war, oder was sich verändert hatte. Ich ertappte mich immer öfter dabei, wie ich ihn regelrecht anstarrte. Ich brauchte ihn, ich brauchte ihn bei mir, um glücklich zu sein, dass war das Einzige was ich wusste. Und nun würde er gehen und mir war noch nicht klar, wie ich die Zeit ohne ihn überstehen sollte.
Ich stand auf und betrachtete mich noch einmal prüfend im Spiegel. Ich hatte das blaue Oberteil angezogen und trug die Haare offen, obwohl sie mich eigentlich immer nur nervten. Mir wurde klar, dass ich mich bewusst für dieses Outfit entschieden hatte, weil ich wusste, dass es Jacob besonders an mir gefiel. Er hatte es einmal nebenbei erwähnt. Jetzt fing ich schon völlig an zu spinnen, warum sollte es Jacob heute interessieren, was ich anhatte oder wie ich aussah? Es würde ihm mit Sicherheit nicht einmal auffallen. Ich schüttelte den Kopf, nahm meine Tasche und verließ mein Zimmer.
Die gesamte Familie war bereits unten, was auch sonst, schließlich schlief in diesem Haushalt niemand außer Jacob und mir. Mein Vater erwartete mich unten an der Treppe und lächelte mich an.
„Du siehst sehr hübsch aus", schmunzelte er.
Na toll, er hatte meine Gedanken vorm Spiegel mit angehört. Gab es etwas schlimmeres, als einen Vater, der die Gedanken seiner Teenager Tochter hören konnte??? Ich denke nicht!!!
„Wehe du sagst etwas!", sagte ich in Gedanken zu ihm und versuchte dabei besonders bedrohlich zu gucken. Das gelang mir nicht sonderlich, denn er fing an zu lachen.
„Keine Sorge, mein Schatz, ich könnte dir doch nie in den Rücken fallen."
„Gut, dann kann ich dir wohl doch einen Guten-Morgen-Kuss geben", jetzt lächelte auch ich, stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange.
Gemeinsam gingen wir in die Küche. Die Familie war bereits versammelt. Unauffällig blickte ich mich um. Jacob war noch nicht da. Ich spürte Enttäuschung.
„Jacob ist noch oben duschen, er kommt aber gleich", sagte mein dad und lächelte mir zu.
Nachdem ich allen einen Guten-Morgen gewünscht hatte setzte ich mich auf meinen Platz. Mein Teller mit Toast und mein O-saft stand bereits dort. Esme hatte wie jeden Morgen unser Frühstück vorbereitet. Sie ging in der Rolle als Köchin völlig auf und erfreute sich jedes Mal daran uns beim Essen zuzusehen.
„Guten Morgen, mein Engel", meine Mutter war hinter mir aufgetaucht und küsste mir auf die Stirn.
„Morgen momma." erwiderte ich und biss genüsslich in mein Toast. Ich beobachtete, wie sie zu meinem Vater ging, der sie so liebevoll anlächelte, in den Arm nahm und einen Kuss gab. Die tiefe Liebe zwischen meinen Eltern war für jeden spürbar und sie hatte sich in den Jahren überhaupt nicht verändert. Im Gegenteil, sie war noch intensiver geworden, wenn das überhaupt ging. Sie konnten nicht ohne einander. Selbst wenn sie nur für kurze Zeit getrennt waren, schienen beide zu leiden. Irgendwoher kam mir das gerade bekannt vor. Häufig wenn ich sie gemeinsam beobachtete, fragte ich mich, ob ich das auch einmal haben würde, ob auch ich einmal so geliebt werden würde, wie mein Vater meine Mutter liebte.
„Keine Frage", natürlich war es mein Vater, der sich zu mir hinunter beugte und mir ins Ohr flüsterte, leise genug, damit es kein anderer mitbekommen konnte, was schwer genug war in einem Haushalt, in dem alle ein übermenschliches Gehör besaßen.
Ich lächelte ihn nur an. Natürlich dachte er so. Für ihn war ich perfekt und neben meiner Mutter wohl das Schönste, was je einen Fuß auf diese Welt gesetzt hatte. Aber er war mein Vater und schließlich war es seine Pflicht so zu denken. Welcher Vater dachte nicht so von seiner Tochter. Wieder hörte er meine Gedanken und schüttelte nur schmunzelnd den Kopf.
Eine Tür riss mich aus meinen Gedanken. Jacob. Er war oben aus seinem Zimmer gekommen. Ohne das ich etwa dagegen tun konnte wurde mein Herzschlag schneller. Nervös rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Warum reagierte ich nur in letzter Zeit immer so komisch auf ihn? Das war doch früher nicht so.
Als er die Küche betrat, spürte ich seine Anwesenheit sofort, konnte ihn riechen. Er stand hinter mir. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Dann spürte ich seine Hand auf meiner Schulter. Ich versuchte krampfhaft normal zu wirken.
„Morgen Ness, gut geschlafen?", er stand nun neben mir und strahlte mich an. Mein Herz setzte einen kurzen Moment aus. Aus dem Augenwinkel konnte ich meinen Vater sehen, der sich lächelnd zu meiner Mutter drehte, die ihn nur fragend ansah.
„Ja, klar", brachte ich mühsam heraus. Die Stelle, auf der kurz zuvor noch seine Hand gelegen hatte kribbelte.
Wir frühstückten gemeinsam und unterhielten uns. Eher die anderen. Ich aß schweigend mein Frühstück und versuchte meine Trauer über seine Abreise in den Griff zu bekommen. Auch Jacob erschien mir schweigsamer als sonst, aber das bildete ich mir bestimmt nur ein. Wahrscheinlich war er in Gedanken schon in La Push.
Ich versuchte ihn so oft es ging unauffällig anzusehen und mir alles einzuprägen. Mir war sogar egal, ob mein Vater das mitbekam, schließlich musste ich die nächsten Tage irgendwie überstehen.
Nach dem Frühstück verabschiedete sich Jacob ausgiebig von den anderen. Vor allem meine Mum umarmte er sehr lange. Auch ihr fiel es nie leicht ihn gehen zu lassen. Seit dem Vorfall mit den Volturi kurz nach meiner Geburt verband Jacobs Rudel und uns eine tiefe Verbundenheit. Irgendwie waren wir mit den Jahren zu einer Familie geworden, die Wölfe und wir und auch ich vermisste sie sehr, vor allem Sam.
Während meine Eltern mit Emmet und Rose das örtliche College besuchten, gingen Jasper und Alice mit Jakob und mir auf die High-School. Gerade beim ersten Mall wollten alle nicht, dass ich alleine ging. Immer diese Übervorsicht. Heute jedoch fuhren wir nicht gemeinsam, da Alice und Jasper nicht in die Schule gehen konnten. Sonnenschein! Ich war froh darüber, da ich so noch eine kurze Zeit mit ihm alleine sein konnte.
Meine mum hatte ihm ihr Nachher-Auto gegeben. Als wir die Garage verließen hörte ich Alice, die im Wohnzimmer war und sagte: „Wir bekommen Besuch!"
Sie hatte wohl wieder eine Vision. Mehr konnte ich nicht hören, da wir bereits das Grundstück verließen.
Es war mir auch egal, wer kam, mich interessierte im Moment nur, wer ging.
Jacob und ich saßen im Auto schweigend nebeneinander. Das war ungewöhnlich, da wir uns normalerweise immer etwas zu erzählen hatten. Doch heute war es anders. Ich blickte aus dem Fenster als Jacob mich plötzlich aus meinen Gedanken riss.
„Was ist los mit dir heute morgen?", fragte er mich besorgt.
„Ich bin traurig, weil du gehst. Du verlässt mich und ich weiß nicht, wie ich die Zeit überstehen soll, bis du wiederkommst.", dachte ich, sagte jedoch:
„Nichts, ich hab nur keine Lust auf Schule heute. Ich verstehe nicht, warum ich nicht wie Jasper und Alice zu Hause bleiben kann.", ich sah ihn dabei nicht an. Im Lügen war ich schon immer schlecht und gerade ihm konnte ich dabei nicht in die Augen sehen. Aber ich musste lügen, ich wusste doch das er sich auf La Push freute und ich wollte nicht, dass diese Freude durch die Sorge um mich getrübt wurde. Und er würde sich Sorgen machen, wenn ich ihm die Wahrheit gesagt hätte, denn so war er nun mal.
„Ach so", antwortete er und ich hatte kurze Zeit das Gefühl ein wenig Enttäuschung in seinem Tonfall herauszuhören. Aber da hatte ich mich bestimmt getäuscht, warum sollte er auch enttäuscht sein?
Da wir, ähnlich wie in Forks, außerhalb der Stadt im Wald wohnten, dauerte die Fahrt einige Zeit. Doch es blieb bei der einen kurzen Unterhaltung. Wir schwiegen den Rest der Fahrt. Nachdem Jacob auf den Parkplatz der Schule gefahren war und den Wagen anhielt, drehte er sich zu mir.
„So, da wären wir."
Erst jetzt sah ich ihm in seine wunderschönen dunklen Augen. Er lächelte.
„Ja, da wären wir", brachte ich nur heraus.
„Hoffentlich stirbst du nicht vor Langeweile, wenn ich weg bin."
„Das kann gut passieren.", antwortete ich und blickte auf meine Hände, die meine Tasche umklammerten. Eine Strähne fiel mir ins Gesicht. Jacob strich sie mir sanft hinter die Ohren zurück. Wieder durchfuhr mich ein Kribbeln, als seine Finger mein Gesicht berührten. Einen kurzen Moment verweilte seine Hand sanft an meinem Hals, ich blickte ihm wieder in die Augen und in diesem Moment zog er seine Hand ruckartig zurück. Wurde er etwa gerade rot?
„Rufst du mich an, wenn du angekommen bist?", fragte ich ihn.
„Klar, mach ich."
„Und grüß bitte alle von mir. Vor allem Charlie und Billy und Sam natürlich."
„Richte ich aus, sie werden sich freuen. Haben sich alle schon beschwert, weil sie dich so lange nicht gesehen haben. Sie hätten sich bestimmt gefreut, wenn du mitgekommen wärst."
„Und ich erst", dachte ich „dann müsste ich nicht ohne dich sein."
„Beim nächsten Mal", antwortete ich.
Wieder schwiegen wir.
„Ich werd dich vermissen", platzte es aus mir heraus. Verdammt, so was wollte ich doch nicht sagen. Ich sah ihn schnell an, um seine Reaktion einschätzen zu können. Er lächelte und seine Augen strahlten.
„Ich dich auch, Nessie, wenn du wüsstest wie sehr.", sagte er leise.
Mein Bauch kribbelte. Jetzt lächelte auch ich.
Er beugte sich zu mir herüber um mich zum Abschied zu umarmen. Ich presste mich regelrecht in seine Arme. Als er mir einen Abschiedskuss auf die Wange geben wollte, drehte ich kurz meinen Kopf und seine Lippen berührten meinen Hals. Mein Herz setzte wieder aus und ich hielt den Atem an.
„Jetzt nur nicht durchdrehen, Nessie", ermahnte ich mich.
Doch er ließ mich nicht los, im Gegenteil, ich hatte das Gefühl seine Umarmung wurde fester, und was auch immer in letzter Zeit mit mir los war, ich wollte nicht das er mich losließ, das wusste ich. Seine Lippen lagen immer noch sanft auf meinem Hals, als er sie leicht öffnete, um sie ein paar Zentimeter weiter oben auf meiner Wange erneut zu einem Kuss zu schließen. Erst jetzt merkte ich, dass ich meine Augen geschlossen hatte. Mein Atem ging schwerer und auch Jacob schien tiefer zu atmen. Seine Hand glitt in meinen Nacken und ich spürte, dass sie leicht zitterte. Wieder öffnete er seine Lippen und sein Kopf bewegte sich ein kleines Stück weiter. Würde er mich erneut küssen? Würde er mich diesmal auf meinen Mund küssen? Das Kribbeln in meinem Bauch wurde immer stärker. Was machte ich hier nur? Das war Jacob, mein bester Freund Jacob. Ich saß hier im Auto mit ihm und wünschte mir nichts sehnlicher, als das er mich küsste. Ja, ich wollte es, ich wollte ihn küssen. Doch wollte er es auch? Ich wusste es nicht, aber ich musste alles auf eine Karte setzen. Ich neigte meinen Kopf leicht zu ihm, so dass meine Lippen näher an seinen waren. Er hielt kurz inne, nur einen Moment, als würde er überlegen, sein Atem auf meiner Haut verursachte mir eine Gänsehaut, dann glitten seine Lippen leicht über meine Wange, immer weiter zu meinen Lippen. Gleich, gleich würde er meine Lippen mit seinen umschließen.
„Hey, Nessie, komm schon, du bist zu spät!", eine Faust hämmerte an die Scheibe der Beifahrertür. Jacob erstarrte in seiner Bewegung, erschrocken öffnete er die Augen, löste seine Umarmung und lehnte sich wieder zurück in seinen Sitz. Ich war völlig benebelt. Nein, was war passiert? Nicht aufhören! In diesem Moment beugte sich Claire hinunter und blickte durch die Scheibe. Wieder klopfte sie. Der Moment, unser Moment war vorbei.
Unbeholfen ließ ich die Scheibe hinunter. Claire grinste hindurch.
„Hey, Jacob. Schade das du abhaust", säuselte sie.
„Ja. Schade. Aber ich muss zu meinem Onkel, eine familiäre Geschichte. Lässt sich nicht ändern.", erwiderte Jacob. Seine Stimme hörte sich völlig normal an, als wenn nichts gewesen wäre. Doch ich sah, dass seine Hände das Lenkrad umklammerten und seine Knöchel weiss hervortraten.
„Äh, Claire, ich komm sofort.", brachte ich mühsam hervor und versuchte meine Stimme fest und normal klingen zu lassen.
„Alles klar", sagte Claire und blickte enttäuscht zu Jacob, bevor sie sich wieder erhob.
Ich schloss das Fenster.
„Gut, dann geh ich jetzt wohl", sagte ich zu Jacob und suchte nervös den Griff meiner Tasche.
Er blickte nach vorne.
„Ja, mach das. Du kommst bestimmt schon zu spät." Er sah mich nicht an. Hatte ich mir das gerade alles nur eingebildet. Gab es diesen Moment gar nicht? Wollte er mich gerade nicht küssen?
Ich blickte ihn an, hoffte, dass er sich zu mir drehte, etwas sagte, irgendetwas, was mir zeigte, dass auch er diesen Moment zwischen uns gespürt hatte. Doch er sagte nichts.
Ich wandte mich ab und öffnete die Tür. Mit zittrigen Beinen stieg ich aus und schloss die Tür. Claire erwartete mich schon ungeduldig.
„Endlich!", sagte sie.
Jacob ließ den Motor an. Gerade als wir gehen wollten, hörte ich, wie er erneut das Fenster runterließ.
„Ness", rief er.
Ich drehte mich um und blickte durchs Fenster.
„Pass auf dich auf, ja?", fragte er mich.
Ich nickte.
„Ich meine nur, bis ich zurück bin und das wieder übernehmen kann.", er zwinkerte.
Ich lächelte und er erwiderte mein Lächeln. Doch es war kein normales Lächeln. In seinem Blick glaubte ich einen besonderen Ausdruck zu erkennen. War das mein Zeichen auf das ich gewartet hatte? Ich hoffte es!
Er schloss das Fenster und fuhr los. Ich blickte ihm lange nach, bis ich sein Auto nicht mehr sehen konnte. Was bedeutete das alles nur?
„Nessie, können wir jetzt endlich los? Was ist denn nur heute mit dir?", fragte Claire ungeduldig.
„Ja, klar.". sagte ich und ging mit ihr Richtung Eingang.
„Also, wenn ich so nen heißen Adoptivbruder wie du hätte, hätte ich nichts dagegen mir ein Zimmer mit ihm zu teilen, wenn du verstehst was ich meine", lachte Claire und hakte sich bei mir ein.
Wie sollte ich den heutigen Schultag nur überstehen?
Kapitel 3
Jacob
Was hatte ich nur getan? Ich hatte mich hinreißen lassen. Hatte die Kontrolle verloren. Ich hatte mich von dem Moment und von meinen Gefühlen mitreißen lassen. Ich hatte Nessie fast geküsst. Wäre Claire nicht gekommen, hätte ich sie geküsst und damit womöglich alles kaputt gemacht. Und das nur, weil ich mich und meine Gefühle nicht im Griff hatte.
„Verdammt", fluchte ich und schlug mit der Faust auf das Lenkrad.
Mittlerweile hatte ich die Stadt verlassen und war auf dem Highway. Da kein Verkehr herrschte, raste ich natürlich viel zu schnell. Wen interessierte im Moment schon eine Geschwindigkeitsübertretung? Ich versuchte meinen Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen. Immer noch zitterten meine Hände und mein Herz raste.
Schon als ich sie heute Morgen das erste Mal beim Frühstück sah, in dem blauen Oberteil das ich so an ihr liebte, wusste ich, dass ich den Abschied von ihr wohl kaum überstehen würde. Aber wie konnte ich es nur soweit kommen lassen? Wir saßen im Auto, alles war normal, wie immer. Na ja, fast wie immer. Ich war einfach so unglaublich traurig sie verlassen zu müssen. Die Trauer hatte wohl mein Handeln bestimmt und mein Hirn ausgeschaltet. Plötzlich spürte ich nur noch diesen Schmerz und die tiefe Liebe zu ihr.
„Ich werd dich vermissen.", hatte sie gesagt. Noch deutlich hörte ich ihre sanften Worte. Die hatten mir wohl den Rest gegeben. Als ich sie dann umarmte, konnte ich nicht mehr denken, ich wollte sie nur noch spüren. Ich presste mich regelrecht an sie, atmete ihren Duft ein, konnte meine Lippen nicht von ihrem Hals nehmen, auch wenn ich wusste, dass es das Richtige gewesen wäre. Ich konnte es einfach nicht. Es war wie ein Zwang. Und dann, für einen kurzen Moment, hatte ich das Gefühl, dass auch sie es wollte, dass auch sie es spürte. Aber konnte das sein? Oder hatte ich mir einfach nur so sehr gewünscht, dass sie meine Gefühle erwidert?
Hatte sie mir nicht ihren Kopf entgegen geneigt? Sie hatte meine Umarmung doch erwidert, mich nicht losgelassen, auch als ich ihren Hals geküsst habe. Wollte sie mich vielleicht doch küssen? Sind wir nur durch Claire von unserem ersten Kuss abgehalten worden? Von dem Kuss, den ich mir so sehr wünschte, nachdem ich mich so sehnte? Ein kurzer Anflug von Wut auf Claire überkam mich.
Was wenn es zu dem Kuss gekommen wäre und sie mich angewidert weggedrückt hätte? Ich wollte mir die Folgen gar nicht vorstellen. Hätte sie sich mir gegenüber je wieder normal verhalten können? Wahrscheinlich nicht. Vielleicht hätte sie sich sogar von mir distanziert, oder noch schlimmer, hätte gewollt, dass ich ausziehe. Bei dem Gedanken krampfte sich mein Magen zusammen. Ich würde es nicht überleben. Die ganzen Jahre war ich so darauf bedacht, dass sie nichts von meinen Gefühlen und der Prägung erfährt, weil ich sie nicht unter Druck setzen wollte. Und genau das hätte ich heute fast getan. Ich durfte nicht zulassen, dass es noch einmal zu so einer Situation kommt. Ich durfte sie einfach nicht verlieren, denn dann würde ich mich selbst verlieren.
Leichte Panik überkam mich, als ich an meine Heimreise in ein paar Tagen dachte. Würde Nessie sich mir gegenüber anders verhalten? Selbst der Gedanke war für mich unerträglich.
Vielleicht hatte sie ja auch gar nichts bemerkt. Vielleicht war das im Auto für sie nur eine harmlose Umarmung unter Freunden. Eine ziemlich lange Umarmung, zugegeben, aber schließlich war es ja auch ein Abschied. Darauf musste ich einfach hoffen.
Mir blieb nichts anderes übrig, wenn ich wieder zu Hause war, musste ich mich bemühen locker zu sein, so als wenn nichts gewesen wäre. Ich musste ihr ein Gefühl von Normalität vermitteln. Vielleicht schaffte ich es so, falls sie gar nicht gemerkt hatte, was im Auto fast passiert wäre, alles wieder in die richtigen Bahnen zu lenken.
Ich atmete einmal tief durch und versuchte mich auf die Straße zu konzentrieren. Ich würde noch ein paar Stunden fahren müssen und mir war klar, dass diese Stunden sich endlos hinziehen würden.
Ich sollte recht behalten. Vier Stunden später lenkte ich den Wagen in die Einfahrt unseres Hauses. Billy und die Anderen erwarteten mich bereits vor der Tür. Auf ihren Gesichtern konnte ich deutlich ihre Freude über meine Ankunft erkennen.
„Jakob!", Leah war die Erste, die mich begrüßte, als ich aus dem Wagen stieg. Sie fiel mir in die Arme. Ich wusste, dass es ihr wohl mit am schwersten fiel, dass ich nur so selten da war. Als Einziges Mädchen im Rudel und mit Sam als Leitwolf hatte sie es besonders schwer. Ich erwiderte ihre Umarmung und ging danach erstmal zu Billy. Er saß lächelnd in seinem Rollstuhl und drückte mich fest an sich, als ich mich zu ihm hinunter beugte.
„Und mein Junge, wie schlägst du dich bisher ohne sie?", fragte er mich leise ins Ohr.
Er und die Anderen wussten genau, wie schwer mir selbst die kürzeste Trennung von Nessie fiel.
„Ich geb mein Bestes", antworte ich nur und setzte ein aufgezwungenes Lächeln auf.
„Na, dann müssen wir dich wohl ordentlich ablenken, was?", Sam war mittlerweile zu mir gekommen und klopfte mir auf die Schulter. Er war mir wirklich ans Herz gewachsen.
Ich begrüßte die Anderen und sie fragten mich nach Nessie und den Cullens. Ich überbrachte die Grüße und holte dann meine Tasche aus dem Wagen.
„Na los Jake", sagte Leah „beeil dich ein wenig. Wir wollen eine kleine Welcome-Home-Tour durch den Wald machen."
„Ja, sofort. Ich bring nur eben meine Sachen in mein Zimmer.", gab ich zurück und ging schnell ins Haus.
In meinem Zimmer hatte sich nichts verändert. Es sah noch immer so aus, wie ich es vor sieben Jahren verlassen hatte. Ich blickte mich kurz um und stellte meine Tasche aufs Bett. Bevor ich mit den Anderen loszog, musste ich jedoch noch etwas erledigen. Und ich hätte nie gedacht, dass mir das einmal schwer fallen würde, oder ich sogar Angst davor haben würde.
Ich setzte mich aufs Bett, holte mein Handy aus der Tasche und wählte Nessies Nummer.
Kapitel 4
Edward
„Oh, wer kommt denn?", fragte Esme aufgeregt. Sie freute sich immer über Besuch, wenn er nicht gerade aus Italien stammte.
Alle Blicke waren auf Alice gerichtet.
„Ich weiß nicht genau. Ich kann es nicht wirklich sehen. Alles ist nur verschwommen. Gerade war ich mir noch sicher, ich sah deutlich wie jemand den Besuch beschloss, aber nun ist alles schon wieder verschwommen. Vielleicht habe ich mich auch nur getäuscht.", sie blickte mich an.
„Ich hab mich nicht getäuscht", sagte sie in Gedanken zu mir. Ich nickte unauffällig.
„Irgendjemand kommt, aber ich weiß nicht wer, doch soweit ich es mitbekommen habe, handelt es sich um einen friedlichen Besuch. Ich denke nicht, dass es einen Grund zur Sorge gibt."
Bevor ich reagieren konnte, klingelte das Telefon. Carlisle nahm ab und verließ das Zimmer.
Bella sah mich an.
„Bist du besorgt, Edward?", fragte sie mich.
„Nein, Schatz. Alles in Ordnung.", ich ging hinüber zu ihr, sie schmiegte sich an mich.
Noch immer löste jede Berührung von ihr in mir dieses unstillbare Verlangen nach mehr aus. Ich drückte sie an mich und küsste sie leicht auf die Stirn. Mit ihren großen Augen sah sie lächelnd zu mir auf. Ich konnte es noch immer kaum fassen, dass dieses wunderschöne, vollkommene Geschöpf nun für immer zu mir gehörte. Womit hatte ich sie verdient. Bevor sie in mein Leben trat, hatte mein Dasein für mich keinen Sinn. Ich war eher wie eine Hülle, ich funktionierte, so wie es von mir verlangt und erwartet wurde. Was wirkliches Glück bedeutete, konnte ich nicht mal erahnen. Und ich hatte es auch nicht verdient, hielt ich mich doch für ein Monster. Doch Bellas Liebe zeigte mir, dass auch ich liebenswert war. Sie machte mich so unendlich glücklich und das erste Mal in meinem gesamten Dasein hatte ich das Gefühl vollständig zu sein. Sie ergänzte mich, war meine zweite Hälfte, war ein Teil von mir. Bella war meine Seelenverwandte. Und von ihr geliebt zu werden, machte mich zum glücklichsten Wesen auf der Welt. Ich hatte nie für möglich gehalten, dass meine Gefühle zu ihr sich noch steigern konnten, doch nachdem sie sich verwandelt hatte, eine von uns geworden war und sie mir das größte Geschenk gemacht hatte, die Geburt unserer wunderschönen Tochter, war meine Liebe zu ihr stetig gewachsen.
Ich sah sie noch immer an und spürte, dass ihr Blick fordernder wurde. Ich schenkte ihr das schiefe Lächeln, von dem ich wusste, dass es sie wahnsinnig machte. Es war ihr Lächeln, so wie ich vollkommen ihr gehörte. Sie bewegte sich unruhig in meinem Arm und neigte mir ihr Gesicht näher entgegen. Doch ich blieb hart, versuchte es zumindest, und ließ nicht zu, dass ihre Lippen meine berührten. Ich liebte es sie zu ärgern, es gelang mir eh viel zu selten.
„Edward, hör auf mit den Spielen", lachte sie, legte ihre Hand in meinen Nacken und drückte meinen Kopf näher zu sich hinunter. Es war zu spät, ich konnte mich nicht mehr wehren und wollte es auch gar nicht.
Zärtlich legte ich meine Lippen auf ihre. Wie immer, wenn ich sie küsste, löste die Berührung ihrer Lippen eine Explosion an Gefühlen in mir aus. Alles um mich herum war vergessen. Es zählte nur noch Bella, meine Bella. Der Kuss begann, wie so oft, erst zaghaft, doch schon bald bewegten ihre Lippen sich fordernder. Als sie ihre Lippen öffnete und ich ihre Zunge spürte, wie sie mit meiner Zunge spielte, war es endgültig um mich geschehen. Ich presste sie noch fester an mich und streichelte mit meinen Händen ihren Rücken hinunter. Ich spürte nur noch die Lust. Am liebsten hätte ich ihr die Kleider vom Leib gerissen, doch ich versuchte mich zu beherrschen, schließlich waren wir nicht allein und sie hätte es mir nie verziehen, da Emmet sich wohl für den Rest unseres Dasein deswegen über sie lustig machen würde. Ihre linke Hand vergrub sich in meinen Haaren, während ihre rechte Hand langsam unter mein T-Shirt wanderte. Mit dem Finger strich sie an der Haut über meinem Hosenbund entlang. Diese Frau wusste einfach, wie sich mich völlig wild machte.
„Meine Herren, nehmt euch ein Zimmer!", prustete es aus Emmet heraus, bevor er lachend vom Sofa aufstand und zu uns hinüber kam.
Bella löste sich vorsichtig aus meiner Umarmung, ohne jedoch ihre Augen von mir abzuwenden. Ihr Blick sprach Bände.
„Wer hätte gedacht, dass du so ein kleiner Nimmersatt wirst, Schwesterherz", scherzte Emmet, der nun neben Bella stand. Bella sah ihn herausfordernd an, lächelte und schlug dann blitzschnell zu. Ihre Faust traf seinen Oberarm.
„Aua!", Emmet schrie auf.
„Und wer hätte gedacht, dass du so stark wirst", er rieb seinen Oberarm „also manchmal hast du mir als Mensch wirklich besser gefallen."
Alice und Jasper lachten und auch ich musste schmunzeln. Bella streckte sich wieder zu mir und hauchte mir einen zärtlichen Kuss auf die Lippen.
„Keine Sorge, wir machen später genau da weiter, wo wir gerade aufgehört haben", hörte ich ihre Stimme in meinem Kopf und plötzlich merkte ich, wie sie ihr Schild zurücknahm und mir Einlass in ihre Gedanken eröffnete. Das machte sie öfter, seit sie ihre Fähigkeit immer besser kontrollieren konnte und ich liebte es, endlich einen Einblick in ihre Gedanken zu erhalten. Noch immer machte es mich oft traurig, dass gerade sie das einzige Wesen war, dessen Gedanken mir verborgen blieben. Sie zeigte mir Bilder aus der letzten Nacht, wo wir uns im Wald geliebt haben, erst an einem Baum gelehnt und dann auf der Wiese. Ich konnte es kaum erwarten endlich mit ihr alleine zu sein. Doch dann fiel ihr Schild zurück, die Bilder waren verschwunden und ich sah sie enttäuscht an.
Carlisle hatte wieder das Zimmer betreten. Er sah besorgt aus.
„Alice hatte Recht.", sagte er „wir bekommen Besuch. Es ist Nahuel. Er hat gerade angerufen und sich angemeldet. In ein paar Stunden ist er da."
„Ach deswegen konnte ich nichts Genaues erkennen", Alice klang erleichtert, sie hasste es, wenn ihre Visionen unzuverlässig erschienen.
„Was will er hier?", fragte Emmet.
„Was wohl", diesmal war es Bella, die sich neben Alice aufs Sofa gesetzt hatte. Alice nahm ihre Hand.
„Er will Renessmee.", sprach sie weiter „das wollte er schon damals und jetzt weiß er, dass sie erwachsen ist. Sie ist nun in seinem Alter."
„Und das genau jetzt, wo Jacob nicht da ist.", seufzte Alice „der wird ausflippen, wenn er das erfährt."
„Wie auch immer", schaltete sich Rosalie in die Unterhaltung ein „er ist ein Freund der Familie und wir wissen alle, was wir ihm zu verdanken haben. Wir werden ihn empfangen, wie es sich gehört und gute Gastgeber sein."
Ich spürte deutlich die Freude, die Rose über den Besuch von Nahuel verspürte. Sie hatte sich zwar mit Jacob arrangiert, jedoch schien ihr die Aussicht auf ein Zusammenkommen von Nessie und Nahuel zu verlockend. Die Gedanken der Anderen spiegelten jedoch die Sorge wieder, die auch ich empfand.
„Wir können es eh nicht ändern, also machen wir das Beste draus. Ich werde das Gästezimmer vorbereiten." Esme war aufgestanden und verließ das Wohnzimmer. Rosalie folgte ihr.
„Komm Edward, wir gehen jagen", Bella war aufgestanden, legte ihre Hand in meine und zog mich nach draußen.
Doch wir jagten nicht. Wir gingen langsam Hand in Hand schweigend durch den Wald.
„Was denkst du?", Bella war stehen geblieben.
„Ich mache mir Sorgen wegen Nessie.", antwortete ich „sie ist gerade dabei ihre Gefühle für Jacob zu entdecken, von allein, so wie er es sich immer gewünscht hat. Diese Gefühle für ihn machen sie eh schon so durcheinander, sie weiß gar nicht, was mit ihr passiert und wenn nun Nahuel noch auftaucht, das könnte alles für sie nur noch schlimmer machen."
„Also, wenn sie auch nur ein klein wenig nach ihrer Mutter kommt, würde ich mir darüber keine Sorgen machen.", Bella lächelte.
„Wie meinst du das?"
„Na, wenn Nessie Jacob wirklich liebt, wovon ich überzeugt bin, dann wird kein anderer Mann auch nur eine Chance gegen ihn haben.", sie drückte meine Hand ein wenig fester.
Ihre Aussage erzielte bei mir nicht die gewünschte Wirkung. Eine schmerzhafte Erinnerung erschien vor meinen Augen. Ich kniff die Augen zusammen, um sie zu vertreiben.
„Edward, was ist mit dir? Was denkst du?", ganz sanft berührte sie mit ihrer Hand mein Gesicht.
„Ich, äh, nichts.", ich wollte sie nicht daran erinnern, ich wusste doch, wie sehr sie darunter litt, mich verletzt zu haben.
„Sag!", forderte sie.
„Mir tut einfach Jacob leid, ich weiß, wie schwer es ist mit jemandem konkurrieren zu müssen, der eigentlich viel besser zu dem Menschen passt, den man so sehr liebt. Nessie und Nahuel sind beide Halbvampire, sie gehören einer Art an, wogegen Jacob eigentlich ihr natürlicher Feind ist. So war es auch bei uns damals. Und die Verbundenheit, die du damals mit Jacob empfunden hattest, hast auch du eine zeitlang mit Liebe verwechselt.", ich musste meinen Blick abwenden, die Erinnerung war zu schmerzhaft „ich weiß wie es ist, wenn man die Frau, die man liebt, in den Armen eines Anderen sieht. Und man kann nichts dagegen tun."
„Edward, mein geliebter Edward, du weißt, wie leid mir das tut. Ich war verwirrt damals, wusste nicht, was diese Gefühle für Jacob bedeuteten, doch ich wusste immer, dass du der Mann warst, den ich liebte, mit dem ich zusammen sein wollte. Das weißt du doch, oder? Die Verbindung mit Jacob hatte einen ganz anderen Ursprung und wie wir nun wissen, war dieser Ursprung Nessie. Er war schon immer dazu bestimmt unsere Tochter zu lieben und nicht mich. Genauso wie es mein Schicksal war dich zu lieben.", sie hielt nun mein Gesicht mit beiden Händen fest und zwang mich sie anzusehen.
„Ich weiß, ich weiß", sagte ich „die Erinnerung tut nur manchmal weh."
Sie stellte sich langsam auf die Zehenspitzen und küsste meine beiden Wangen.
„Du weißt wie sehr ich dich liebe", ihre Lippen wanderten zu meiner Stirn und schlossen sich in einem zärtlichen Kuss. Ich schloss die Augen.
„Ich habe dich vom ersten Moment an geliebt", sie küsste meine Augenlider.
„Und ich werde dich immer lieben, solange wir auf dieser Welt sein werden und darüber hinaus", ich spürte ihren süßen Atem, als ihre Lippen meine umschlossen und wir in einem zärtlichen Kuss verschmolzen. Ihre Hände glitten in meinen Nacken und sie krallte sich in meine Haare. Ich zog vorsichtig ihren Kopf nach hinten und strich mit meinen Lippen ihren Hals hinunter. Ein Stöhnen entfuhr ihrer Kehle. Sie drückte ihren Körper fester an meinen. Zärtlich strich ich mit meiner Zunge über ihr Schlüsselbein und zog sie dann sanft auf die Wiese. Ich legte mich auf sie, ohne von ihrer Haut abzulassen. Mit ihren Beinen umschlang sie meine Taille, um mich noch fester an sich zu drücken. Ihre Lippen suchten meinen Mund, als sie ihn fand küsste sie mich leidenschaftlich, während sie unter meinem Shirt meinen Rücken entlangfuhr. Auch ich wollte sie näher spüren und fuhr mit den Händen unter ihr Oberteil. Ich schob es nach oben, öffnete ihren BH und umschloss mit meinen Händen ihre Brüste. Noch immer küssten wir uns, doch ich ließ von ihren Lippen ab und wanderte hinunter zu ihrem Oberkörper. Bella bäumte sich auf, als meine Lippen ihre Brüste küssten. Sie riss an meiner Hose, konnte es nicht mehr erwarten. Ich musste lachen, sie war immer so stürmisch, doch ich hatte nicht viel Lust ohne Hose nach Hause zurückzukehren, ich konnte mir Emmets Sprüche schon vorstellen, daher half ich ihr und machte sie selbst auf. Sie strich die Hose hinunter und drehte mich mit einem Schwung auf den Rücken. Als sie auf mir saß lächelte sie verführerisch zu mir hinunter und zog sich dann langsam das Shirt aus. Sie war so sexy und wusste es nicht einmal.
Wir liebten uns lange und ausgiebig. Stunden waren mittlerweile vergangen, doch wir lagen noch immer eng umschlungen auf der Wiese.
„Mach dir keine Sorgen", flüsterte Bella „alles wird gut und Nessie wird das schon machen. Sie ist schließlich deine Tochter."
„Vielleicht solltest du trotzdem einmal mit ihr über Jacob sprechen. Sie ist total durcheinander und versteht nicht, was in ihr vorgeht und warum sich ihre Gefühle plötzlich ändern. Du kannst das besser als ich und sie ist eh genervt, weil sie nichts vor mir verheimlichen kann."
„Ja, das werde ich machen."
Plötzlich musste sie schmunzeln.
„Was ist so lustig?" fragte ich sie.
„Ich musste nur gerade daran denken, wie sehr du unter Jacobs Träumen leidest. Wie sehr wirst du dann erst leiden, wenn es sich dabei nicht mehr nur um Träume handelt?", jetzt lachte sie laut auf.
„Ha ha, sehr witzig. Du hast ja keine Ahnung, wie schlimm das für mich ist."
Verdammt, auf mich würden harte Zeiten zukommen. Welcher Vater hat schon Lust die Gedanken seiner Teenager Tochter und ihrem Freund zu hören, die gerade ihre Liebe füreinander entdeckten.
„Na, dann aber lieber Jacob als Schwiegersohn und nicht Nahuel.", sagte sie nun nachdenklicher.
„Das würde dich glücklich machen, oder?" fragte ich sie.
„Oh ja, dann wäre alles perfekt, dann hätte Jacob auch endlich sein Glück gefunden und ich weiß einfach, dass es keinen Mann gibt, der unsere Nessie mehr lieben könnte als er.", sie beugte sich zu mir und küsste mich.
Nachdem wir uns endlich voneinander lösen konnten, machten wir uns auf den Heimweg. Schon von Weitem spürten wir das Treiben im Haus. Und ich musste nicht einmal die Gedanken der Anderen lesen, um zu wissen, dass unser Besuch bereits angereist war. Wir stiegen die Treppen zur Veranda hinauf und blickten uns noch einmal tief in die Augen.
„Ruf lieber kurz bei Nessie in der Schule an und warn sie vor", hörte ich Bellas Stimme in meinem Kopf. Sie hatte ihr Schild zurückweichen lassen. Ich nickte zur Antwort, dann öffneten wir die Tür.
Kapitel 5
Nessie
Wir saßen in der Pause draußen und nicht in der Cafeteria, wie immer, wenn die Sonne schien. Claire und die Anderen unterhielten sich über das kommende Wochenende an dem eine große Party bei Ben stattfinden sollte. Alle waren ganz aufgeregt. Ich tat so, als ob ich zuhörte, war jedoch mit meinen Gedanken woanders.
Seit meinem ersten Schultag war ich mit Claire befreundet. Sie war die einzige wirkliche Freundin, die ich hatte. Und auch wenn sie natürlich nicht alles über mich wissen durfte und ich viel vor ihr verheimlichen musste, war sie der einzige MENSCH, im wahrsten Sinne des Wortes, dem ich mich anvertraute. Ich war zwar recht beliebt bei meinen Mitschülern, doch ich hatte Probleme mich Anderen gegenüber zu öffnen. Schüchtern war wohl die richtige Bezeichnung. Mein Dad meinte, dass ich diese Eigenschaft von meiner Mutter geerbt hätte. Ich war darüber nicht sehr dankbar, ständig wurde ich rot, wenn ich angesprochen wurde, was mir ziemlich unangenehm war. Aber ich vermisste es auch nicht wirklich viele Freunde zu haben, denn schließlich hatte ich Jacob und mehr brauchte ich nicht. Mit ihm war immer alles einfacher gewesen. Durch ihn haben wir an der Schule überhaupt Anschluss zu Anderen gefunden. Ich allein hätte das wohl nicht hinbekommen. Doch er hatte so ein freundliches und offenes Wesen und daher war es nicht verwunderlich, dass er sehr schnell Freunde fand. Für ihn war die Tatsache das wir „anders" waren kein Grund kein normales Leben führen zu können. Und so versuchte er mir dieses halbwegs normale Leben zu ermöglichen, so gut es ging zumindest. Zu unseren Jagdausflügen konnten wir unsere Freunde wohl kaum mitnehmen.
Meine Gedanken schweiften, wie schon so oft an diesem Vormittag, zurück zum Parkplatz, als wir uns voneinander verabschiedet hatten. Wenn Claire nicht aufgetaucht war, hätte ich ihn geküsst, so viel stand fest. Aber was hatte mich überhaupt dazu getrieben? Ich verstand mich selbst nicht mehr und vor allem verstand ich nicht, wieso ich auf einmal so extrem auf ihn reagierte. Ich war wirklich völlig verwirrt. Unklar war auch, wie er auf einen Kuss von mir reagiert hätte.
Mein Eindruck schwankte von einem Extrem ins Andere und das innerhalb von Sekunden. In einem Moment war ich mir sicher, dass auch er diesen Kuss wollte. Die Art wie er mich berührt, wie er meinen Körper an sich gedrückt und wie er seine Lippen auf meine Haut gelegt hatte… Im nächsten Moment jedoch war ich mir sicher, dass ich mir all das nur eingebildet hatte. Ich musste die Tatsachen sehen und Tatsache war, dass ich für Jacob wahrscheinlich nichts Anderes war als eine Freundin. Ich wusste, dass er mich liebt, daran zweifelte ich nicht, aber er liebte mich eher so, wie eine Schwester. Warum sollte sich das auch geändert haben? Eine Panikwelle überkam mich. Oh nein, ich hätte fast einen Jungen geküsst, der in mir seine kleine Schwester sah!!! Die Frage, wie er auf meinen Kuss reagiert hätte, stellte sich dann wohl nicht mehr. Wahrscheinlich hätte er mich sanft aber bestimmt von sich geschoben und mir erklärt, dass er mich liebt, aber halt nur die Schwester in mir sieht. Bestimmt hätte er so reagiert, lieb und nett, wie er nun einmal war und bemüht mich nicht zu verletzen. Und dann hätte er sich von mir distanziert. Womöglich sogar mit meinen Eltern über den Vorfall im Auto gesprochen. Bei dem Gedanken stieg mir die Schamesröte ins Gesicht. Wahrscheinlich hätte mich dann die ganze Familie belächelt. „Die kleine Nessie, wie süß, hat versucht Jacob zu küssen." Ich konnte es förmlich hören, wie sie sich darüber unterhielten. Dieser Kuss hätte alles verändert und nichts wäre mehr wie vorher.
Das durfte ich nicht zulassen. Ich durfte mich nicht so blamieren. Wenn er zurückkam, musste ich so tun, als wenn alles normal wäre, als wenn es diesen Moment im Auto nie gegeben hätte. Vielleicht wäre dann zwischen uns alles wieder wie vorher. Wenn das für mich überhaupt möglich war, denn ihm so nah zu sein und mein Verlangen zu spüren, hatte etwas in mir ausgelöst und ich wusste nicht, ob ich das einfach wieder unterdrücken konnte.
Die Erinnerung an seine Berührungen löste einen Schauer in mir aus. Ich spürte noch immer seine Hände, seine Lippen und seinen Atem auf meiner Haut. Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Alles in mir kribbelte. Ich schüttelte unauffällig meinen Kopf, um wieder einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen. Ich musste mich konzentrieren und die Situation richtig einschätzen.
Das Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Jacob! Rief er an, um mir zu sagen, dass er gut angekommen war. Hastig zerrte ich das Telefon aus meiner Tasche, meine Hände zitterten. Claire beobachtete mich verwundert. Ich schaute nicht aufs Display, sondern ging einfach dran.
„Hallo?", ich bemühte mich meine Stimme normal klingen zu lassen.
„Nessie, ich bins Dad.", hörte ich die Stimme meines Vaters am anderen Ende. Eine Welle der Enttäuschung überkam mich.
„Ach, du bist es", ich hoffte nicht zu enttäuscht zu klingen.
„Hat Jacob sich noch nicht gemeldet?", wie immer durchschaute er mich, auch wenn ich bemüht war nicht an ihn zu denken. Ich wusste nicht wirklich, ob die Kraft meines Vaters auch durchs Telefon wirkte, darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen.
„Nein, bisher noch nicht."
„Keine Sorge, er ist wahrscheinlich noch nicht da. Oder er begrüßt erstmal alle in Ruhe. Er meldet sich bestimmt bald bei dir.", versuchte er mich zu beruhigen.
Ich nickte nur, auch wenn er das nicht sehen konnte.
„Nessie, ich muss dir etwas sagen. Erinnerst du dich noch an Nahuel?", fragte er mich.
Nahuel? Klar erinnerte ich mich an ihn, er war auch ein Halbvampir, wie ich und hatte mir damals mit seinem Auftauchen mehr oder weniger das Leben gerettet. Seitdem hatte ich ihn aber nicht mehr gesehen. Warum fing mein Vater gerade jetzt von ihm an?
„Nahuel? Klar erinner ich mich an ihn. Was ist mit ihm?"
„Äh", mein Vater stockte „er ist hier. Gerade angekommen und bleibt für eine Weile."
„Ok. Und deshalb rufst du mich an?", fragte ich verwundert.
„Ja, ich dachte, ich sag dir vorher Bescheid. Nur damit du dich nicht wunderst, wenn du nach Hause kommst."
„Ist gut. Dann wunder ich mich nicht.", ich lächelte.
„Gut, dann sehen wir uns später, ja?"
„Alles klar, D…", jetzt stockte ich „Edward." Verdammt, immer diese Geheimnistuerei. Offiziell war ich eine der Adoptivtöchter der Cullens, aber Edwards Cousine. Wir mussten das sagen, da die Ähnlichkeit zwischen uns doch ziemlich offensichtlich war. Für alle anderen wäre es wohl auch ziemlich verwunderlich, wenn ich meinen gleichaltrigen Cousin plötzlich „Dad" nannte. Jacob gab sich als Sohn eines engen Freundes der Familie aus, der bei uns lebte, da der Vater verstorben war. Ziemlich makaber, aber was tut man nicht alles, um unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen.
Ich hörte meinen Vater am anderen Ende der Leitung lachen.
„Alles klar, mein Schatz. Dann bis später.", sagte er.
„Ja, bis später." Ich legte auf und starrte einen Moment auf das Handy. Warum rief er denn nur nicht an. Eigentlich müsste er längst da sein. Ich kannte doch seinen Fahrstil.
„Alles ok mit dir?", Claire hatte sich zu mir hinübergebeugt.
„Ja, klar, das war nur Edward. Er wollte mir Bescheid sagen, dass wir Besuch von einem Freund der Familie haben. Nichts Besonderes.", antwortete ich.
„Nichts Besonderes. Du bist gut, wie ich eure Familie kenne, sieht auch dieser Freund wieder fantastisch aus. Weißt du eigentlich wie oft ich dich beneide, dass du mit so einem Haufen gutaussehender Jungs unter einem Dach schläfst? Ich könnte mich an deiner Stelle gar nicht entscheiden. Du stellst ihn mir aber vor, oder? Bring ihn doch am Wochenende mit zu der Party von Ben."
„Mal sehen. Ich kenn ihn gar nicht richtig. Vielleicht ist er ja auch doof, oder so."
„Wenn er so gut aussieht, wie ich denke, kann er ruhig doof sein", sie lachte.
Ich konnte nicht antworten, denn wieder klingelte mein Handy. Ich starrte auf das Display. Jacob! Er war es. Ok, ich musste ganz normal sein. Ich atmete einmal kurz durch, dann ging ich dran.
„Hi Jacob", meine Stimme klang extrem cool.
„Hey Ness, ich wollte dir nur sagen, dass ich angekommen bin. Allen geht es gut und ich soll dich lieb grüßen."
„Danke."
Pause. Verdammt, ich musste irgendwas völlig normales sagen. Bloß keine Pausen.
„Und was machst du jetzt?", fragte ich daher. Gut, das war normal und völlig unbedeutend.
Er stockte kurz.
„Wir wollen gleich eine Runde durch den Wald drehen. Du weißt schon, mal wieder alle zusammen und so."
„Ja, ich weiß. Du freust dich bestimmt drauf."
„Ja, klar, haben wir ja lange nicht gemacht."
Wieder eine Pause. Mist, das Telefonat war bei Weitem nicht so unbefangen, wie ich es mir erhofft hatte.
„Und was machst du heute?", fragte er mich.
„Ich, äh, nichts Besonderes. Ach so, Edward hat gerade angerufen und mir erzählt, dass Nahuel zu Besuch ist. Wahrscheinlich werde ich daher wohl was mit ihm machen." Sehr gute Antwort. Ich war stolz auf mich. Völlig normal und so als ob nichts Besonderes vorgefallen wäre.
Doch ich hörte, wie Jacob scharf die Luft einzog. Ein kurzes Zischen ertönte, dann hielt er die Luft an.
„Jacob? Alles ok?", fragte ich verwundert. Was war los mit ihm?
Es kam keine Antwort.
„Jacob?", fragte ich daher noch mal.
„Äh ja, ich bin hier. Alles ok. Ich war gerade nur abgelenkt.", seine Stimme klang irgendwie merkwürdig gepresst.
„Ach so."
„Du Nessie, ich muss auflegen. Die Anderen warten schon und langsam werden sie ungeduldig und ich möchte es mir nicht mit einem Haufen Wölfe verscherzen.", platzte er plötzlich heraus.
Warum wollte er denn schon auflegen? War es ihm doch unangenehm mit mir zu sprechen?
„Ok", ich versucht meiner Stimme nichts von der Enttäuschung anmerken zu lassen, die wie eine Welle über mir einschlug.
„Wir können ja später noch mal telefonieren."
„Ja, machen wir. Dann viel Spaß."
Pause. Irgendwie hatte ich das Gefühl das er etwas sagen wollte.
„Nessie?", fragte er leise.
„Ja?"
Pause.
„Ach nichts. Pass auf dich auf."
„Mach ich."
„Gut, dann bis später.", er hatte aufgelegt, bevor ich mich verabschieden konnte.
Wieder starrte ich auf mein Handy.
Plötzlich riss Claire an meinem Arm und zog mich Richtung Gebäude.
„So, du kommst jetzt mit."
„Was? Warum denn? Was ist denn los?", fragte ich sie verwundert.
„Keine Widerrede.", sie stieß die Tür zur Damentoilette auf und zog mich hinein. Demonstrativ bäumte sie sich vor mir auf.
„So und jetzt erzählst du mir, was hier gerade eigentlich abgeht."
„Ich weiß gar nicht wovon du redest. Was soll hier abgehen?", ich war so eine schlechte Lügnerin.
„Renesmee Cullen, wag es nicht mir was vorzumachen. Meinst du ich hätte nicht gemerkt, was da heute im Auto zwischen Jacob und dir für eine Stimmung herrschte. Und dann dein enttäuschter Gesichtsausdruck als Edward angerufen hat. Du hast gehofft, es wäre Jacob, oder?"
Entsetzt starrte ich sie an. Und dann spürte ich einen unbeschreiblichen Drang mir alles von der Seele zu reden. Endlich konnte ich es jemandem erzählen, denn das musste ich. Ich wollte wissen, was mit mir los war, warum plötzlich alles so kompliziert war, was früher das Normalste von der Welt war.
„Ich weiß es doch auch nicht, Claire", begann ich „ich hab keine Ahnung was mit mir los ist. Aber in letzter Zeit kann ich in Jacobs Nähe einfach nicht normal sein. Andauernd starre ich ihn an. Zucke zusammen, wenn er mich berührt, nur um danach in meinem ganzen Körper eine Explosion von Gefühlen zu spüren. Bis heute hatte ich mich aber irgendwie im Griff. Jacob ist mein Freund, mein bester Freund. Aber heute ist es irgendwie eskaliert. Wahrscheinlich weil ich so traurig war, das er für ein paar Tage verschwindet. Ich wollte ihn nicht gehen lassen und daher hab ich mich beim Abschied regelrecht an ihn gekrallt. Und fast…fast hätte ich ihn einfach geküsst. Claire, ich weiß auch nicht, was mich da geritten hat, ich konnte nicht mehr klar denken. Aber ich wollte es in dem Moment so sehr. Wie peinlich.", die Worte waren nur so aus mir herausgesprudelt. Trotz der verfahrenen Situation fühlte ich ein Gefühl der Erleichterung, dass ich mich endlich jemandem anvertrauen konnte. Und ich wusste, dass ich Claire vertrauen konnte. Sie würde niemandem und vor allem nicht Jacob etwas davon erzählen. Vorsichtig blickte ich in ihre Augen. Ich erwartete, dass sie irgendwie entsetzt von meinem Geständnis war, doch sie lächelte nur.
„Na endlich", sagte sie nur.
„Wie na endlich?", ich verstand gar nichts mehr.
„Nessie, du liebst Jacob. Das wusste ich schon so lange, ich hab mich nur gefragt, wann es dir endlich klar wird."
„Du liebst Jacob!", ihre Worte hallten in meinem Kopf nach, immer und immer wieder. Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich liebte Jacob! Nicht wie einen Bruder, nicht wie einen Freund, nein, ich liebte ihn so, wie eine Frau einen Mann liebt. Bei dieser Erkenntnis wurden meine Knie ganz weich.
Claire lachte laut los.
„Du solltest dich sehen. Du bist noch blasser, als du es eh schon bist. Tja, die Wahrheit trifft einen eben manchmal wie ein Schlag."
„Ich liebe Jacob.", flüsterte ich und als ich es laut aussprach wusste ich, dass es stimmte. Ich spürte es bis in die letzte Pore meines Körpers.
„Was mach ich denn jetzt nur?", meine Stimme klang regelrecht verzweifelt.
„Wie? Was sollst du schon machen? Angriff, sag ich da nur."
„Angriff? Das hab ich heute schon versucht und es war keine gute Taktik. Ich muss eher versuchen den Angriff wieder rückgängig zu machen.", überlegte ich laut.
„Warum zum Teufel das denn?", fragte mich Claire völlig perplex.
„Warum wohl? Weil Jacob mich nicht liebt, ich finde das ist ein ziemlich guter Grund."
„Und was lässt dich annehmen, dass er dich nicht liebt?"
„Claire, ich bin für ihn wie eine..."; mir fiel es schwer das Wort auszusprechen „Schwester! Mehr nicht. Nur eine Schwester.", ich senkte traurig den Blick.
„Also, langsam werd ich wirklich wütend. Bist du blind?", energisch drehte sie mich um, so dass ich mich im Spiegel über dem Waschbecken sehen konnte „Sieh dich bitte einmal richtig an, Nessie. Du bist wunderschön, so ziemlich das schönste Mädchen das ich je gesehen habe. Jeder in der Schule würde sich sämtliche Beine und Arme ausreißen, wenn er nur einmal mit dir reden dürfte, wenn du ihn nur einmal anlächeln würdest."
„Ach Quatsch, du übertreibst mal wieder total", beschämt versuchte ich mich vom Spiegel abzuwenden, doch Claire hielt mich fest.
„Nein Nessie, ich übertreibe nicht, eher im Gegenteil. Du BIST wunderschön, auch wenn du das nicht sehen willst, Jacob sieht es und da bin ich mir sicher. Glaub mir, du bist für ihn alles andere als seine kleine Schwester."
„Und woher willst du das bitte wissen?", fragte ich sie herausfordernd.
„Weil ich Augen im Kopf habe. Weil ich sehe, wie er dich ansieht, wenn du nicht darauf achtest. Weil ich sehe, wie er jede Chance nutzt, dich auch nur kurz zu berühren. Weil ich sehe, wie er absolut jedes andere Mädchen dieser Schule ignoriert, obwohl es einige bei ihm probiert haben. Er hat jede Einzelne von ihnen eiskalt abblitzen lassen. Glaub mir, ich fand ihn auch sofort toll, vom ersten Moment an, doch dann habe ich gesehen, wie er dich ansieht und mir war alles klar. Bei ihm hat keine eine Chance. Nessie, du bist wohl die Einzige, die das nicht sieht."
Konnte das sein? Hatte Claire vielleicht Recht?
Und was meinte sie damit das andere Mädchen es bei ihm probiert hatten? Ein Stich durchfuhr mich.
„Gut, aber wie soll ich mich jetzt verhalten? Ich hab doch absolut keine Ahnung von so was. Und wir wissen schließlich nicht hundertprozentig, dass er wirklich… na sagen wir mal… ein gesteigertes Interesse an mir hat. Ich brauche einen Plan, Claire, denn ich glaube, dass ich kurz davor stehe durchzudrehen."
„Wir warten erstmal ab, wie er sich verhält, wenn er wieder da ist. Du bist völlig normal. Und dann wirst du ihn verführen. Er wird gar nicht anders können, als dir zu verfallen.", sie lächelte verschwörerisch. Ich hielt nicht fiel von ihrem Plan. Schon am „normal" sein würde ich wohl scheitern, vom Verführen mal ganz abgesehen.
Die Schulglocke ertönte.
„Keine Sorge Nessie, wir kriegen das hin.", sagte Claire und schlug mir aufmunternd auf die Schultern.
„Wenn du meinst. Ich bin mir da nicht so sicher.", gab ich zurück.
„Doch, doch, du wirst schon sehen.", wehrte sie ab. Dann gingen wir hinaus auf den Flur.
„Wir sehen uns nach der Schule am Auto, ich fahr dich nach Hause, ok?", fragte sie mich, drückte mich kurz und war verschwunden bevor ich antworten konnte.
Ich stand immer noch wie angewurzelt da, während die restlichen Schüler an mir vorüber strömten, und nur ein Satz ertönte in meinem Kopf:
„Ich liebe Jacob."
