Es war still. Erschreckend still. Kein Rattern eines Maschinengewehres oder die darauffolgenden Explosion einer Handgranate waren zu hören. Nur Stille.
Die Finger in weiche Bettwäsche gekrallt. Kein Geruch von Verwesung. Kein Sand in den Zähnen. Kein Schreien. Stille.
Ein großes Fenster mit Blick auf den dunklen Park.
Der volle Mond warf ein kaltes, gespenstisches Licht ins Zimmer. Die Vorhänge waren nicht zugezogen. Aus gutem Grund. Hier war nicht das leuchtende Rot eines Mohnfeldes im Sonnenlicht, hier war das schützende Schattengrau der Nacht.
Langsam kehrte John zurück ins Jetzt. Atmen.
Ein kleines Bett in einem kleinen Zimmer.
Ein Tisch, ein Stuhl, ein Sessel.
Eine kleine Teeküche in der Ecke. Daneben die Tür zu dem kleinen Badezimmer.
Ein kurzer, dann etwas längerer, überraschter Blick auf das leuchtende Display seines Handys. Fünf Stunden. Er hatte ganze fünf Stunden geschlafen. Entschlossen rollte er zur Seite und setzte sich auf.
Seine nackten Füße trafen nicht auf kalten Zement oder heißen Sand. Der Teppichboden war weich, die dicken Fasern ließen seine Zehen versinken. John schloss seine Augen. Atmete tief durch. Er war wieder in London. In England. Er war in Sicherheit.
Morgenmantel, Stock. Langsame Bewegungen, vorsichtige Schritte. Zur Zimmertür, auf den Gang hinaus.
Konzentrieren. Jeder Schritt ein Kampf mit den Schmerzen. Ein Kampf gegen das Aufgeben. Jeder Schritt ein Stück auf dem Weg zurück in das Leben. Jeder Schritt aber auch ein Zurücklassen.
Es brannte Licht, ein warmes, weiches Licht, in der Gemeinschaftsküche. An dem großen Tisch saß ein junger Mann mit einem Laptop. John stand kurz unschlüssig in der Tür, bevor er sich einen Ruck gab und den Wasserkocher füllte, zwei Becher nahm und begann, den Tee vorzubereiten.
Der junge Mann schien nicht zu reagieren. Sein Tippen wurde von kurzen Pausen unterbrochen, um danach mit noch größerer Geschwindigkeit fortgesetzt zu werden.
Als der Wasserkocher klickte, füllte John die Becher. Keiner der Männer sagte etwas. Nur das Tippen und Johns Schritte, unterbrochen von dem Tock des Stockes, waren zu hören.
Nachdem er beide Becher an den Tisch gebracht hatte, ließ John sich mit einem tiefen Seufzer auf die Bank fallen. Eine breite Sitzbank mit weichen Kissen ausgelegt. Breit und lang genug, um bequem darauf zu liegen. Wie geschaffen für kriegsversehrte Omegas, dachte John grimmig, während er es sich bequem machte und die Kissen zurechtrückte.
Das Tippen hörte kurz auf, Zucker wurde in die Tasse gefüllt. Milch eingegossen und umgerührt. Nach einer kurzen Pause konnte John ein überraschtes 'Hmmm' hören. Dann wurde der Becher zurückgesetzt und das Tippen begann wieder.
John trank langsam. Jeder Schluck war wie ein Zurückkehren in eine Normalität, die er seit seiner Jugendzeit nicht mehr gekannt oder auch nur erwartet hätte. Er ließ seine Gedanken wandern. Die Nähe des jungen Omegas, die deutlichen, leisen Geräusche eines anderen Menschen, gaben John die nötige Sicherheit, um sich einem Nachhängen vergangener Zeiten ohne Gefahr hingeben zu können.
Die tiefen Falten in seinem Gesicht, die eingefallenen Wangen, die von den Entbehrungen der letzten Wochen zeugten, wurden weicher. Er dachte zurück an die sonnigen Tage bei seinen Eltern. Damals, als er noch mit seiner Schwester auf Bäume kletterte, beim Bauern nebenan Eier klauen ging und sich nach Herzenslust mit den Jungs aus dem Nachbardorf raufte. Raufen durfte, korrigierte John sich selbst. Ein Schulterzucken, sofort gefolgt von einem schmerzverzehrten Gesichtsausdruck, die Finger verkrampft um den heißen Becher.
Atmen, tief durchatmen. Ein weiterer Schluck Tee. Der Geschmack des Earl Grey, die Wärme in seinem Körper. Fühlen. Wärme. Geschmack. Gerüche. Stille. Kein Tippen. Ein kurzer Blick, ein unmerkliches Nicken. Tipp, tipp, tipp. Ein monotones, beruhigendes Geräusch. Ein Gute Nacht Lied.
Als John das nächste Mal aufwachte, was es früher Morgen, und der junge Mann lag eng um ihn geschlungen auf der Bank. Wie schon die letzten zwei Tage.
John blieb ruhig liegen. Glück, dachte er. Es gibt Leute, die würden sehr wohl meinen, dass ich Glück gehabt hätte. Die es ihm sogar direkt gesagt hatten. 'Du hast Glück gehabt! Du lebst noch!'
Er drehte seinen Kopf, drückte vorsichtig seine Nase in den Nacken des jungen Mannes, atmete tief ein. Ein männlicher Omega. Besser als jedes Beruhigungsmittel. Es hatte John überrascht, als er es das erste Mal erlebte. Als er vor knapp vier Tagen das erste Mal in die Gemeinschaftsküche des Instituts gehumpelt kam, zusammen mit einer Krankenschwester und einer weiblichen Omega, die verzweifelt versucht hatte, ihn aufzumuntern.
Der Vortrag der Krankenschwester wurde zu einem Hintergrund Geräusch, sobald John den jungen Omega bemerkte, der nur kurz den Fremden anschaute, um sich dann wieder ganz auf seinen Computerschirm zu konzentrieren. Der Blick war nicht unfreundlich gewesen, aber es war der Geruch des anderen, der John überraschte. Ein Gefühl der Geborgenheit, das er so noch nie gekannt hatte. Eine tiefe, innere Ruhe hatte sich in ihm ausgebreitet.
In der Armee war er einer der sehr seltenen Omegas gewesen. Sholto hatte ihm großzügige Freiheiten gelassen, aber ein Umgang mit anderen männlichen Omegas wäre nur theoretisch möglich gewesen. Es gab sie einfach nicht. Weibliche Omegas dagegen schon, waren sehr geschätzt, angesehen, um die Moral der Soldaten hoch zu halten. John war mit vielen gut befreundet, hatte sich die einen oder anderen Tricks erklären lassen. Seine Phasen waren seitdem nicht nur für Sholto ein Genuss gewesen. Aber ein Gefühl der Geborgenheit, diese innere Ruhe, hatte er noch nie vorher erlebt.
Q, so nannte sich der junge Mann, war nicht der einzige männliche Omega in dem Institut. John hatte in den vier Tagen seit seiner Ankunft zwei weitere ältere männliche Omegas getroffen. Und jedes Mal dasselbe Gefühl der Ruhe gespürt. Als sei er endlich zu Hause angekommen.
Wie John wohnte Q in dem Institut. Und als John vor drei Nächten das erste Mal Mut gefasst hatte und sich nach einem Alptraum aus seinem Zimmer wagte, hatte er Q in der Gemeinschaftsküche gefunden. Trotz des gemeinsamen Schlafens hatten die beiden nur wenige Worte gewechselt. Q würde kurz nach John aufwachen, sich verschlafen umgucken, und etwa eine Viertelstunde brauchen, um ganz wach zu werden. Immer wieder würde er seinen Kopf auf Johns Brustkorb legen, und halbschlafend mit dem Stoffgürtel des Morgenmantels spielen. John würde während dieser Zeit Qs Haare streicheln. Sanfte, zärtliche Bewegungen, um die Weichheit der Haare auszukosten. Zu spüren, wie die schwarzen, wirren Locken um seine Finger glitten. Berühren. Berührung.
Erst wenn die Nachtwache müde in den Raum schlurfte, würde Q sich räkeln, die Augen reiben, sich lächelnd John zu wenden, die Brille vorsichtig aufsetzen - und danach seinen Laptop zusammen packen, um auf sein Zimmer zu verschwinden.
Die Nachtwache, ein brummiger Beta, der selten vor seiner ersten Tasse Kaffee was sagte, geschweige denn lächelte, würde sich dann an den Tisch setzen, schweigend seine erste, beziehungsweise letzte Tasse Kaffee trinken, um danach mit John über die politische Situation in London zu diskutieren.
John war das erste Mal zu verblüfft, um den Mann abzuwiegeln. Überraschenderweise war die Unterhaltung auch an den folgenden Tagen angenehm und versetzte zeitweise John in eine nostalgische Stimmung, war London doch einige Jahre lang sein zu Hause gewesen. Damals, als Sholto ihn hatte studieren lassen. Medizin, weil man 'einen Arzt immer gebrauchen könne'.
Auch dieser Morgen folgte dem gewohnten Muster und John hörte aufmerksam zu, wie Murray, der Beta, die neuesten Ideen des Bürgermeisters beurteilte. Eine halbe Stunde, dann war die Schicht vorbei und Murray auf dem Weg nach Hause, während John langsam zurück in sein Zimmer humpelte.
Nachdem er seine Schmerzmittel geschluckt hatte, ging er ins Badezimmer.
Regelmäßigkeit, dachte er. Vor einigen Monaten noch wäre es ein Schimpfwort gewesen. Regelmäßig. Er sagte es laut. Schmeckte das Wort. Lächelte.
Regelmäßig war gut.
