Vorwort

„Nur wenige kennen die Tatsache, dass die Potters wussten, dass Du-weißt-schon-wer hinter ihnen her war. Dumbledore, der natürlich unermüdlich gegen Du-weißt-schon-wen arbeitete, hatte eine Reihe nützlicher Spione. Einer von ihnen hat ihm den Tipp gegeben und er hat sofort James und Lily gewarnt. Er riet ihnen, sich zu verstecken. Nun war es natürlich nicht so einfach, sich vor Du-weißt-schon-wem zu verstecken. Dumbledore hat ihnen gesagt, sie sollten am besten den Fidelius-Zauber anwenden." … „Und dann, kaum eine Woche, nachdem der Fidelius-Zauber ausgesprochen worden war –"

(„Der Gefangene von Askaban", Kapitel „Die Karte des Rumtreibers")

Von dieser Woche und den beteiligten Personen erzählt diese Geschichte. Ich habe versucht, die Fakten, die aus Rowlings Büchern bekannt sind, zu einem schlüssigen Ganzen zusammenzufügen und verwende sie als Gerüst. Der Rest entstammt meiner Phantasie, wobei ich mir einige Freiheiten gegenüber den Originalbänden herausgenommen habe. Es handelt sich also um meine Sicht der Personen und ihrer Beziehungen – das nur vorweg, um Missverständnissen vorzubeugen.

A tale told by an idiot ist zwischen März 2006 und Februar 2007 bei Harry-auf-Deutsch entstanden. Die Geschichte schildert unter anderem Hintergründe zu Harry Potter und die Goldene Festung, bezieht sich aber auch auf Ereignisse, die dort bereits erzählt wurden. Auch meine Kurzgeschichte Die Schatztruhe habe ich als Hintergrund miteinbezogen. Der Oneshot Die Peitschende Weide war ohnehin ein Teil dieser Story.

Alles, was ihr aus den Harry Potter-Büchern kennt, gehört allein Joanne K. Rowling. Ich habe mir ihre inspirierenden Figuren und die faszinierende Welt, die sie geschaffen hat, nur ausgeliehen und hoffentlich mit Respekt behandelt. Mit dieser Geschichte verdiene ich kein Geld. Ich hatte einfach Spaß am Schreiben.

Inzwischen habe ich die überarbeitete Version hochgeladen. Deshalb fehlen meine Antworten auf die Reviews …

In Kürze könnt ihr die Story bei www.harry-auf-deutsch.de auch als Buch-formatiertes pdf runterladen.

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A Tale Told By an Idiot: Die Geschichte des Godric's Hollow-Mordes

Tomorrow and tomorrow and tomorrow

Creeps in his petty pace from day to day

And all our yesterdays have lighted fools to dusty death.

Out, out brief candle!

Life's but a walking shadow, a poor player

That struts and frets his hour upon the stage.

It is a tale told by an idiot

Full of sound and fury

Signifying nothing.

(W. Shakespeare, Macbeth, 5. Akt, 5. Szene)

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Erster Teil: Tag der Entscheidungen

Kapitel 1:

Creeps in His Petty Pace

Peter Pettigrew träumte. Er fing an, sich unruhig umherzuwälzen, als sein Traum sich plötzlich zu verändern begann. Eben war da noch Ragna Siversen zu sehen gewesen – und zwar eine ganze Menge von ihr – als es mit einem Mal dunkler zu werden schien. Ragna verblasste, und Peter fand sich in einer düsteren Halle wieder. Er stöhnte leise im Schlaf, denn er wollte nicht weitergehen, er kannte diesen Traum, der ihn seit mehr als anderthalb Jahren immer wieder verfolgte.

Es war, wie er auch im Traum wusste, eine verlassene Fabrikhalle, draußen irgendwo an den alten, längst aufgegebenen Bahngleisen. Die Halle war riesig und unübersichtlich, überall stolperte man über zurückgelassenen, verrottenden Kram, hier und da über das Lager eines Penners. Das einzige Licht kam von den hohen Lichtmasten draußen, die das Gelände spärlich erhellten und noch viel spärlicher durch die vielfach zerbrochenen Fenster hereinkam. Peter bewegte sich vorsichtig. So oft er auch schon hier gewesen war, man konnte nie ganz sicher sein, wen man hier sonst noch antraf. Schon zweimal hatte er hier einen Toten gesehen, und keiner von beiden sah aus, als habe er sich friedlich zum Sterben niedergelegt. Freiwillig wäre er nie in diese Halle gegangen, aber Nott bestand darauf, ihn ausschließlich hier und ausschließlich nachts zu treffen.

Ziemlich geräuschlos erreichte Peter den kleinen Raum im hinteren Drittel, der wohl einmal ein Büro gewesen war, jetzt aber schon lang keine Tür mehr besaß, von Mobiliar ganz zu schweigen.

Da war niemand. Das war noch nie vorgekommen. Peter sah sich vorsichtig um. Seine alte Hoffnung, Vincent Nott möge irgendwann einmal etwas zustoßen – sollte sie sich etwa endlich erfüllt haben?

Peter Pettigrew, der sich träumend in die Decken seines Bettes verwickelt hatte, wimmerte leise. Seine Stirn begann feucht zu glänzen. Nicht weitergehen!, versuchte er sein Traum-Ich zu stoppen. Vergebens, wie immer.

Wie jedes Mal – wie er es damals auch in Wirklichkeit getan hatte – ging Peter weiter, sah sich neugierig in dem alten Büroraum um, wandte der Türöffnung den Rücken zu –

"Du suchst umsonst, Peter!", erklang eine dünne, scharfe Stimme von irgendwoher hinter und über ihm. Er hatte sie nie zuvor gehört, aber in dem Moment, in dem er sie hörte, wusste er, dass es aus war mit ihm.

Mit einem spitzen, femininen Aufschrei fuhr er herum und sah nur Schwärze. Und doch, da war etwas, irgendetwas – sein Instinkt, durch viele als Tier verbrachte Stunden geschärft, warnte ihn vor etwas, das in seinem Geist ein Bild wie von einer riesigen, furchtbaren Spinne hinterließ –

Augenblicklich verwandelte er sich, um zu verschwinden. Er konnte das nach den Jahren der Übung inzwischen so schnell, dass es ihm schon viele Male vor Entdeckung geschützt hatte. Aber nicht schnell genug –

"Nicht doch, Peter! Ich möchte mich ungern mit einer Ratte unterhalten!", sagte die Stimme mit einer gespenstischen Mischung aus Belustigung und Drohung.

Peter hörte ein leises Flirren, als würde ein Zauberstab scharf durch die Luft geschwenkt, und sein Körper schien mitten in der Verwandlung zu erstarren. Eben hatten sich die Finger in die winzigen Klauen einer Ratte umpressen wollen, seine Nase und sein Mund verzogen sich gerade zu einer spitzen, schmalen Nagerschnauze – da blieb alles stecken, und das tat weh! So weh!

Zitternd und japsend fiel er zu Boden und beobachtete mit Augen, die schon beinahe wie die einer Ratte im Dunkel sahen, wie ein riesiger Schatten an der Wand vor ihm herabglitt. Die Nackenhaare stellten sich ihm auf, und sein ganzer Rattenmenschkörper schrie nach Flucht.

Der Schatten wurde nicht deutlicher, als er den Boden erreicht hatte. Es hätte durchaus eine riesige Spinne sein können.

"Du wirst doch nicht etwa abhauen wollen, oder?", fragte die Stimme.

Peter wimmerte. Dieser Zustand war unerträglich! Ihm war, als könne er alle Haare des Rattenfells dicht unter seiner Haut spüren, wie sie darauf drängten, hindurch zu brechen. Und zugleich quetschte ihn etwas immer mehr zusammen.

"Nott!", kreischte er, schon nicht mehr ganz mit seiner eigenen Stimme. "Wo ist Nott?"

"Vincent Nott ist heute verhindert, Mr Pettigrew", sagte die Stimme der Spinne. "Heute, und wie ich befürchte, von heute an für immer. Ich habe seine Aufgabe übernommen. Du hattest Informationen für ihn. Gib sie mir!"

"Ich – ich habe es – nicht – geschafft – dieses Mal –"

Und dann warf Schmerz seinen Halbkörper um und hüllte ihn ein wie eine glühende Wolke, ein Schmerz, der alle Gedanken und Gefühle wegbrannte.

"Du solltest mich nicht falsch einschätzen, Peter!", drang die Stimme durch diesen Schmerz hindurch. "Es ist nur dumm, mich belügen zu wollen!"

Erst als der Schmerz auf einmal nachließ, begriff Peter, dass das Gellen, das von den Wänden niederhallte, aus seiner eigenen Kehle kam. Keuchend, Rotz und Wasser spuckend kam er auf seine nutzlosen Krallenfüße, die Augen in namenlosem Entsetzen so weit aufgerissen, dass sie aus den Höhlen rollen wollten – und jetzt endlich sah er etwas wie ein Gesicht in der Dunkelheit vor sich. Geisterhaft blass und irgendwie nicht richtig menschlich, mit Augen, die scharlachrot zu glimmen schienen.

"Du solltest stolz sein. Deine außergewöhnlichen Leistungen haben das Interesse einer großen Macht auf sich gezogen, Peter. Von heute an wirst du für mich arbeiten. Nicht für irgendeinen kleinen Handlanger. Sondern für den Herrn selbst. Weißt du, wer ich bin?"

"Ja – nein – ich weiß nicht!", weinte Peter. Ihm war, als seien all seine Knochen zu einer glühenden Masse geschmolzen.

"Ich bin sicher, du weißt es", sagte die Stimme kalt. "Und weil ich viel mit dir vorhabe, habe ich beschlossen, dich unter den Meinen aufzunehmen und entsprechend zu zeichnen. Aber davon werden nur wir beide wissen, du und ich! Du wirst mein geheimer Diener sein!"

"Aber – aber – was – wofür – was wollen Sie von mir?"

"Was wollt Ihr von mir, Herr – so heißt es richtig, nicht wahr?", kam es schneidend zurück, und dann war die hohe, langbeinige Gestalt auf einmal über ihm und hielt etwas Glühendes in der Hand. "Du solltest dir gleich den richtigen Ton angewöhnen, das wird unsere Zusammenarbeit angenehmer gestalten – für uns beide!"

Dann fühlte Peter, wie einer seiner Arme von einer kalten Hand gepackt und festgehalten wurde. Der glühende Punkt über ihm kam herab und presste sich zischend auf seinen Unterarm. Noch einmal hörte Peter seine Stimme durch die leere Halle gellen, wie er sie zuvor niemals gehört hatte.

Schlotternd kauerte er vor der schwarzen Gestalt, den Arm mit der Hand des unverletzten Arms umklammernd. "Bitte!", gurgelte er hervor, "bitte – nicht mehr! Ich tu alles – bitte nicht mehr Schmerzen!"

"Das liegt ganz an dir, mein rattengesichtiger Freund. Sei ein guter und gehorsamer Diener, und wir werden miteinander auskommen."

"Was immer Sie wollen!", keuchte er und verbesserte sich kreischend: "Was immer Ihr wollt, Herr!"

"Peter! Peter!", schnitt eine Stimme durch das Entsetzen seines Traumes – so herrlich mürrisch, so alltäglich. "Wachst du jetzt endlich auf! Du kommst zu spät zur Arbeit! Und du jaulst wie ein Hund!"

Peter war seiner Mutter so dankbar dafür, dass sie ihn aus diesem Horror herausgeholt hatte! Er blaffte sie nicht einmal an, wie er es sonst tat, wenn sie es wagte, ungebeten sein Zimmer zu betreten. Er wünschte nur, sie hätte mit derselben Leichtigkeit auch die Wirklichkeit hinter diesem Traum wegwischen können.

Durch den vergilbten Vorhang vor seinem Fenster kam das klare Licht eines Oktobermorgens in den Raum. Während er sich aus den Decken schälte und feststellte, dass die Unterwäsche, in der er zu schlafen pflegte, schweißnass an seinem Körper klebte, wanderte sein Blick durch das Zimmer, auf der Suche nach tröstlicher Normalität. Er fand sie in den Schulbüchern, die immer noch auf dem Bord über seinem Schreibtisch standen, in dem Glaskrug mit Zuckerwattefliegen auf dem Nachttisch, den Klamotten, die unordentlich hier und dort über Stuhllehnen oder dem Fußboden verstreut waren.

Dann fiel sein Blick auf sein Abschlusszeugnis von Hogwarts, das seine Mutter voll Stolz in einem geschnitzten und vergoldeten Rahmen untergebracht und an die Wand gehängt hatte. Der Moment der Beruhigung verflog, und ihm wurde kalt. Er konnte das Zeugnis nicht ansehen, ohne daran erinnert zu werden, womit das ganze Unheil begonnen hatte.

"Petey – kommst du heute noch mal zum Frühstück?", dröhnte seine Mutter durch den Flur.

Er gab ein leises, unwilliges Fauchen von sich und suchte dann seine Kleidungsstücke aus allen Ecken zusammen.

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In der geräumigen, hellen Küche duftete es nach Frühstück, und er atmete auf. Dieser Raum war ihm der liebste in der Wohnung, in der er aufgewachsen war. Durch das Fenster konnte man hinunter auf die Straße sehen, wo die Kinder aus der Nachbarschaft mit ihren Fahrrädern umherrasten.

"Wird aber auch Zeit. Du wirst noch zu spät kommen", sagte Phyllida Pettigrew, ohne ihren Blick von der Zeitung zu heben.

Sie war eine pummelige Frau mit braunem Haar und hellen, missmutigen Augen. Das Bemerkenswerteste an ihr war ihre tiefe Stimme, die sie nach Bedarf rauchig klingen lassen konnte, was ihr in ihrem Berufsalltag sehr von Nutzen war. Aus Phyllida Pettigrew wurde nämlich jeden Morgen nach dem dritten Kaffee Madam Pythia, die Wahrsagerin. Sie empfing ihre Kundinnen – es handelte sich ganz überwiegend um Frauen – in ihrem Salon, der entsprechend hergerichtet war und den Peter möglichst nie betrat.

"He – ein Morgen ohne Schwester Perkins und Dr. Malone?", fragte er jetzt überrascht mit einem vielsagenden Blick auf den Küchenschrank. In dem bewahrte seine Mutter ein höchst geheimes und – seit neuestem – verbotenes Muggelgerät auf: einen Fernseher, vor dem sie hingebungsvoll jede Folge von mindestens vier verschiedenen Seifenopern verfolgte. Es gab eigentlich keinen Tag, an dem Peter nicht von dem Geflimmer und Geplapper dieser Kiste empfangen wurde. Aber heute war die Tür zu und die Kiste aus.

Er setzte sich auf seinen Platz und begann, eine Scheibe Brot akribisch mit einer zentimeterdicken Schicht von Schokocreme zu bestreichen – wie jeden Morgen.

"Wenn du so weitermachst, bist du bald breiter als hoch", sagte seine Mutter – wie jeden Morgen. Heute war sie jedoch nicht ganz bei der Sache.

"Also – was gibt's denn so Spannendes in der Zeitung, dass du dafür sogar das Muggelding auslässt?"

Jetzt sah sie auf und bedachte ihn mit einem tadelnden Blick. "Du solltest das doch am besten wissen, Pete! Selbst bei einem Blatt wie der Hexenwoche ist das doch sicher ein Thema."

Peter erschrak. Es konnte doch nicht – es konnte doch nicht schon in der Zeitung stehen?!

Sie sah seinen entgeisterten Blick und interpretierte ihn auf ihre Weise. "Wir haben einen neuen Minister! Seit gestern Nacht!"

"Oh – das – ja, das! Wie konnte ich das vergessen –"

"Das frage ich mich auch gerade!", schnaubte sie. "Nennst dich Reporter und hängst ganze Tage in dieser Redaktion 'rum und weißt nicht, was –"

"Schon gut, schon gut!", sagte Peter genervt mit vollem Mund. "Ich bin einfach noch nicht ganz wach! Also sag schon – hat sie's geschafft?"

"Nein. Es ist Purge", murmelte seine Mutter undeutlich. "Komisch, eigentlich sprachen alle Zeichen gegen ihn."

Peter verdrehte die Augen. Normalerweise glaubte seine Mutter selbst nicht an das, was sie für ihre Kundinnen aus den Teeblättern oder ihrer Kugel las. Jetzt sah sie unwillig auf, und ihr Blick ging unwillkürlich zu dem Schrank, in dem sie ihren geheimen Fernseher aufbewahrte.

"Verdammt. Der wird Ärger machen. Will uns sogar verbieten, im Muggel-Supermarkt einzukaufen. Weil das angeblich unsere Wirtschaft ruiniert!"

"Na und? Glaubst du, er kann jeden Supermarkt überwachen?", fragte Peter ungerührt und leckte einen Klacks Schokocreme von seinen Fingern. Ihm war das egal. Er kam sowieso überall hin, wo er hinwollte ...

"Nein, du Idiot! Aber er zwingt die Jungs von Gringotts, ihre Tauschschalter zu schließen! Muggelgeld gibt's nur noch auf offizielle Genehmigung!", raunzte Phyllida. Während sie sich Kaffee nachgoss, fragte sie sich wieder einmal, wie ihr Sohn den Abschluss in Hogwarts nun eigentlich hatte schaffen können. "Was musste Fenwick auch mit dieser Veela rummachen! Und sich dann auch noch dabei erwischen lassen, wie er Regierungsgelder für sie rauswirft! Er war zwar ein Trottel, aber wenigstens wollte er nicht die Welt verändern!"

Peter grinste in sich hinein. Zum Thema Fenwick hätte er eine Menge sagen können. Fast schade, dass er's nicht tun durfte – das hätte vielleicht ihre Meinung über seine Fähigkeiten als Enthüllungsreporter geändert ...

Spätestens, als er den Auftrag erhielt, etwas über den – nunmehr zurückgetretenen – Minister herauszufinden, das vielleicht nicht ganz öffentlichkeitsgeeignet war – spätestens da war ihm klar geworden, auf was sein Auftraggeber abzielte. Allerdings wunderte er sich immer noch darüber, dass nicht nur die betreffende Veela – eine Tänzerin aus einem zwielichtigen Nachtclub – sondern auch Fenwick selbst ein entsprechendes Geständnis abgelegt hatte, nachdem die Fotos in den Zeitungen erschienen waren.

"Dass der dann auch noch ausgerechnet diesem Malfoy sein Herz ausschütten musste!", sagte seine Mutter, deren Gedanken offenbar in dieselbe Richtung gegangen waren. "Wo jeder weiß, was der für einer ist! Du kennst ihn doch noch von der Schule, Pete, stimmt's? War doch immer so ein scharfer Hund mit 'nem Adelstick!"

"Hm. Sprecher und vermutlich bald auch Vorsitzender dieser Vereinigung Altes Blut. Zu der auch Fenwick gehört", sagte Peter undeutlich und nahm sich noch einen Toast. "Und sein Nachbar. Das war es wohl. Fenwicks Gut grenzt direkt an das der Malfoys. Dachte vermutlich, er redet mal von Mann zu Mann mit seinem Nachbarn und Clubkumpel."

Er hatte immer noch das Bild von Malfoy vor Augen, das dann durch die Presse gegangen war. Das edle Blassgesicht mit den kalten Augen, so ganz voll scheinbar unbezwingbarem Abscheu. "Es gibt Grenzen, die wir einfach nicht überschreiten dürfen", hatte Malfoy in diesem Interview ernst gesagt. "Erst recht nicht, wenn wir an so herausragender Stellung in der Öffentlichkeit stehen und ein Vorbild sein sollten! Alter schützt vor Torheit nicht. Aber Alter ist auch keine Entschuldigung und schon gar nicht ein Freibrief für Übertretungen dessen, was Anstand und Gesetz gebieten."

Gutes Schauspiel, aber von Malfoy hatte er auch nicht weniger erwartet. Trotzdem musste da noch jemand nachgeholfen haben. Fenwick hätte freiwillig niemals ein Geständnis abgelegt – niemand wusste das besser als Peter.

Seine Mutter stand mit einem Seufzen auf, öffnete den Küchenschrank und schaltete den Fernseher ein. Peter fragte sich immer noch, wie sie ihn zum Funktionieren brachte.

"Ausgerechnet Purge!", schnaubte sie, während sie sich wieder an den Tisch setzte. "Mit der Bagnold hätt' ich ja noch leben können! Aber Purge – der hat 'ne Macke, wenn du mich fragst. Hast du sein Programm gelesen? Rein bleiben, magisch bleiben! oder so ein Quatsch! Nicht, dass wir uns Gedanken machen müssten – reinblütig seit jeher – käm' nicht auf die Idee, mich mit 'nem Muggel einzulassen."

Dr. Malone, der eben ins Bild trat, unterbrach ihren Vortrag gerade an der richtigen Stelle. Nach allem, was Peter von seinem Vater wusste, hätte der ebenso gut irgendein Muggel sein können wie irgendein Zauberer.

"Nun mach schon, Junge!", fuhr sie plötzlich auf. "Lass den Toast, du musst los! Jeden Morgen dasselbe. Man sollte annehmen, mit beinahe zweiundzwanzig könntest du dich wie ein Erwachsener benehmen!"

"Du willst doch bloß deinen Doktor da in Ruhe anschmachten!", grinste Peter, aber er stand trotzdem hastig auf, wobei er den Rest des Toasts noch in den Mund stopfte.

Er durfte nicht schon wieder zu spät kommen. Madam Walpurga hatte ihn schon einmal persönlich gerügt – von Sarahs täglichen Ermahnungen ganz zu schweigen. Aber heute war ein Tag, an dem er besser pünktlich sein sollte.

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Als er die letzte Treppe bis zum fünften Stock hinter sich gebracht hatte, wo das Redaktionsbüro der Hexenwoche untergebracht war, schnaufte er und fühlte zum wiederholten Mal in diesen letzten Wochen sein Herz. Es schlug hart und schmerzhaft und schien gegen die Wände seiner Brust zu drängen. Er atmete pfeifend, und das erschreckte ihn noch mehr.

"Morgen, Petty!", rief Martin Peabody ihm munter zu und überholte ihn noch vor der Tür der Redaktion. "Schon in Wochenendlaune?"

"Geht so", keuchte Peter und folgte seinem Kollegen durch die Tür.

Drinnen war es wie immer warm, hell, viel zu eng und es duftete anheimelnd nach Kaffee. Sie arbeiteten zu sechs Redakteuren in einem Großraumbüro. Nur die Chefin und ihre Sekretärin hatten eigene Räume. Peter mochte das große, voll gestopfte Büro mit den sechs abgeteilten Arbeitsplätzen eigentlich ganz gern.

Die anderen standen zusammen an Sarahs Schreibtisch und unterhielten sich ungewöhnlich leise und mit ungewöhnlich ernsten Gesichtern.

Muss unbedingt weniger essen, dachte Peter, als er seinen Schreibtisch ansteuerte. Das erste, was er dort sah, war sein Terminkalender, auf dem der heutige Tag mit einer großen 19 gekennzeichnet war. Sein Kürzel für eine Versammlung des Phönixordens! Noch etwas, das er völlig vergessen hatte!

Er unterdrückte ein böses Grinsen. Ob Benjamin heute dabei sein würde? Nachdem sein Vater quasi in aller Öffentlichkeit gestanden hatte, dass er es nicht nur mit einer Veela trieb, sondern die auch noch reichlich mit Regierungsgeldern beschenkt hatte?

"Morgen, Martin – Peter!", grüßte Sarah gedämpft, aber unverkennbar ihre Aufmerksamkeit fordernd.

Sarah nannte ihn nie Petty, aber das änderte nichts an seiner Meinung über sie. Eingebildete, frigide Zicke. Das sagten einem schon ihre Klamotten. Fliederfarbene Umhänge. Reinweiße Blusen mit Rüschen an den Manschetten. Graue Röcke – immer, und immer wadenlang.Außerdem hatte er eigentlich nichts dagegen, Petty genannt zu werden. Damit hatten sie schon in der Schule angefangen – schlimmer noch, da hatte ein Witzbold irgendwann Betty daraus gemacht, und das hatte ihn gestört.

"Habt ihr schon von Laurine gehört?", fragte Sarah in demselben Ton gedämpfter Aufgeregtheit, als Martin und er automatisch nach ihren Kaffeebechern griffen.

Laurine! Und dieser Trauerton! Peter fühlte, wie Gänsehaut seine Unterarme überzog. Es hatte also geklappt!

"Laurine? Was ist denn mit ihr?", fragte Martin, der sich eben an der Kaffeemaschine bediente.

"Sie ist tot", flüsterte Jennifer. Sie hatte Tränen in den Augen. "Sie muss gestern Abend in irgend so eine Todessersache reingeraten und von einem Zauber getroffen worden sein."

"Todessersache?", fragte Martin fassungslos. "Die Alte hat doch gesagt, dass sie über dieses Thema ohnehin nichts druckt! Was sollte Laurie denn da gesucht haben?"

"Das wissen wir auch nicht. Sieht ihr auch gar nicht ähnlich, so was zu machen. Vor allem, weil sie doch nächsten Monat nach Paris gehen sollte!", sagte Sarah, und vielleicht fiel nur Peter der Hauch eines neiderfüllten Untertons auf.

"Weiß man was Genaueres?", fragte Martin und überlegte offenbar, ob er sich angesichts dieses Trauerfalls überhaupt Kaffee eingießen konnte.

"Die Brigaden haben sie gefunden, irgendwo in einem Kaff draußen bei Oxford. Angeblich hat da eine Gruppe Todesser randaliert. Als die Brigaden kamen, waren alle weg – nur Laurine lag da, tot."

Peter hatte sich derweil an seinen Tisch gesetzt. Sein Plan war also aufgegangen. Er hatte nicht direkt ihren Tod gewollt. Nur irgendwas, das sie hier aus dem Weg schaffte oder ihr zumindest ordentlichen Ärger einhandelte. Wenn es hier jemanden gab, dem dieser Posten in Paris zustand, dann war das einzig und allein er. Leider sah die Chefin das anders. Aber jetzt – jetzt mussten die Karten ja wohl neu gemischt werden, oder?

Eine kleine, anonyme Notiz hatte ausgereicht, die eifrige Laurine mitten hinein ins Gemetzel zu locken. Sie war auf solche rätselhaften Sachen spezialisiert gewesen und ziemlich gut darin, das musste er zugeben. So gut, wie man eben sein kann, wenn man nicht über die besonderen Fähigkeiten eines Animagus verfügte.

Peter schnickte einmal mit seinem Zauberstab über seinen Schreibtisch, und die Zettel und Prospekte und was sonst noch da lag – okay, Schokoladenpapiere, eine leere Tüte, die Lila Lollies enthalten hatte, und auch ein, zwei fettige Schachteln, in denen Halloween-Burger gewesen waren (die gab es immer schon ab Mitte Oktober) – all der Kram ordnete sich zu netten kleinen Stapeln rund um die Schreibfläche. Er ließ das Blatt der Konkurrenz darauf fallen.

Den Prophet bestimmte heute nur ein Thema, das in Balkenlettern von der Titelseite klotzte.

"PURGE NEUER ZAUBEREIMINISTER!", verkündeten die.

Peter seufzte tief und öffnete die Zeitung. Er begann den Artikel zu lesen, über dem auch seine Mutter am Frühstückstisch gebrütet hatte.

"Der neue Minister für Zauberei heißt Berengar Purge. Seine Konkurrentin Millicent Bagnold hatte in den vergangenen Wochen stetig an Popularität verloren, nicht zuletzt wegen ihres Eintretens für den vorherigen Minister, Hieronymus Fenwick, der wegen der so genannten Veela-Affäre seinen Rücktritt einreichen musste.

Purge hat angekündigt, sein in den letzten Wochen vorgestelltes Programm zur Rückbesinnung auf die Werte der Zauberergemeinschaft in aller Konsequenz durchzuführen. Der Minister, der kein Hehl daraus macht, dass er den Ideen der Erneuerungsbewegung um Trudy Nott nahe steht, betont,"

So weit war er gekommen, als jemand hinter ihn trat.

"Weißt du, Peter", sagte Sarah mit dieser falschen, betroffenen Stimme, die er nicht ausstehen konnte, "das ist so ein Grund, weshalb du es dir hier unnötig schwer machst."

Er drehte sich zu ihr um und schenkte ihr seinen besten Unschuldsblick.

Sie sah nur ein teigiges, ungesund aussehendes Schmollgesicht mit kleinen Augen, in denen sie immer nach Anzeichen für die Verschlagenheit suchte, die sie in seinem Verhalten andauernd spürte.

"Was meinst du denn? Weil ich den Prophet ganz offen lese?"

"Quatsch", entgegnete sie verächtlich. "Weil es dir anscheinend völlig egal ist, dass wir eine Kollegin verloren haben, noch dazu auf so schreckliche Weise!"

"Entschuldige mal, was willst du denn von mir? Es liegt mir nun mal nicht, hier offen herumzuflennen! Ich mochte Laurie gern, und es tut mir sehr leid für sie. Aber ich bin sicher, dass in zehn Minuten Madam Walpurga persönlich reinschneit und wissen will, warum hier niemand arbeitet! Noch dazu angesichts dieser Nachricht hier!", sagte er heftig und schlug auf das Titelblatt.

Wieder fühlte er seinen Herzschlag viel zu stark. Paris! Was hätte er dafür gegeben, dahin versetzt zu werden! Weg von London! Weg von diesem Nerven zerreibenden Doppelleben hier! Weg von – ihm.

Er wagte nicht einmal an ihn zu denken.

"Ich hab den Artikel über Purge schon fertig", warf Martin friedfertig wie immer ein. Er hatte sich inzwischen doch Kaffee genommen und kam nun auch zu ihnen herüber. Über Peters Schulter warf er einen Blick auf die Titelseite des Prophet.

"Eigentlich unglaublich, dass der alte Spinner das geschafft hat", fuhr er mit ehrlichem Erstaunen fort. "Wie hat er die Leute und vor allem den Wizengamot bloß auf seine Seite bringen können, wo doch bekannt ist, was für Ideale er vertritt?"

Sarah schnaubte. "Wo lebst du eigentlich, Martin? Ist dir nicht klar, wie viel Zulauf die Erneuerungsbewegung in letzter Zeit hatte? Vor allem seit Umbridges Muggel-Studie? Und seit diese Leute da ihre eigene Schule eröffnen wollten?"

"Muggelstämmige, Sarah", korrigierte Gerald, der damit seinen ersten Beitrag an diesem Morgen leistete. "Kritische Untersuchung zur Muggel-Stämmigkeit, so hieß dieses Ding, bevor alle Welt es nur noch Muggel-Studie nannte."

"Jerry hat Recht. Wir sollten sie nicht auch noch Muggel nennen", sagte Jennifer leise.

"Das ist doch alles Blödsinn", sagte Gerald. "Der Kram von der Umbridge ist reine Hetze. Muggelstämmige sind schlechtere Zauberer –anfälliger für Wahnsinn – erhöhte Kriminalitätsrate unter Muggelstämmigen – ich bitte euch! Statistiken kann man immer so präsentieren, dass das gewünschte Ergebnis dabei rauskommt! Aber weil sie Zahlen genannt hat, glaubt das jetzt alle Welt."

"Ich kann jedenfalls gut verstehen, dass sie ihre eigene Schule wollten", sagte Jennifer. "Wenn sie in unserer Gesellschaft öffentlich und ungestraft derart diffamiert werden dürfen, dann sollten sie das Recht haben, ihre eigenen Schulen zu gründen."

"Das treibt den Keil doch nur noch tiefer! Es müsste was dagegen unternommen werden, dass es überhaupt jemand wagt, Muggelstämmige öffentlich anzugreifen."

"Da kannst du lange warten", sagte Peter boshaft. "Vor allem jetzt, wo Purge Minister ist."

"Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob die Erneuerung nicht auch in gewissem Umfang Recht hat", überlegte Sarah laut. "Wir sind doch tatsächlich eine aussterbende Gesellschaft. Wir sollten uns auf die Macht besinnen, die wir tatsächlich haben und die sehr viel größer ist als unsere Anzahl."

"Eben weil wir aussterben, sollten wir ganz schnell damit aufhören, von Reinblütigkeit auch nur zu reden!", entgegnete Gerald kalt. "Und ich bin immer wieder überrascht, mit welcher Einfalt Leute wie du – Leute, die es eigentlich besser wissen sollten! – einfach zu vergessen scheinen, wer wirklich hinter dieser Bewegung steht!"

"Das ist doch nur ein Gerücht!", sagte Sarah heftig. "Es gibt keinerlei Beweise dafür, dass – dass da eine Verbindung besteht zu – na, eben das, was du immer behauptest! Und wenn ich dich daran erinnern darf: Es ist erst ein paar Monate her, dass sämtliche Anklagen gegen angebliche Todesser fallen gelassen werden mussten. Auch gegen diesen – diesen Screen, der dir ja so verdächtig –"

"Verdächtig? Ich hatte Zeugenaussagen dafür, wer Screen in Wirklichkeit ist!", erwiderte Gerald, dessen Gelassenheit nun doch zu bröckeln begann.

"Die alle zurückgezogen wurden! Hör zu, Gerald, das ist Hetze! Die Leute leiden an einem Todesserwahn, obwohl seit Monaten nichts mehr passiert ist. Bis gestern zumindest. Wir sollten die allgemeine Hysterie nicht weiter anheizen. Screen ist nur ein alter Spinner."

"Es gibt auch gar nicht so wenige Leute, die vehement dafür eintreten, dass Voldemort selbst nichts mit den Todessern und ihren greulichen Taten zu tun hat", sagte Gerald schließlich und kümmerte sich nicht um das Zusammenzucken seiner Kollegen. "Ich bin sogar überzeugt davon, dass diese Ansicht demnächst immer mehr Anhänger finden wird. Aber wahrer wird sie dadurch nicht. Und noch habe ich sogar die Freiheit, das so zu sagen."

Peter krümmte sich innerlich an seinem Schreibtisch. Wie konnten sie nur so daherreden? Sie wussten nichts, gar nichts! Diese Dummköpfe hatten doch gar keine Ahnung, von wem sie da redeten! Nur die Tatsache, dass der Dunkle Lord schon seit dem Sommer irgendwo im Ausland weilte, verhinderte, dass Peter einen Panikanfall bekam – sonst war das meistens seine erste Reaktion auf die Nennung seines Namens.

Er hörte nicht weiter zu, denn diese Debatte wurde – wenn auch nicht in solcher Deutlichkeit – hier alle Tage wieder geführt. Erstaunlich, wie schnell das Schicksal der armen Laurine darüber in den Hintergrund gerückt war!

Seine Gedanken hatten, spätestens seit der gefürchtete Name gefallen war, endgültig eigene Wege eingeschlagen. Während er vorgab, den Prophet zu lesen, konnte er doch nichts anderes tun, als wieder einmal darüber nachgrübeln, wie es so weit hatte kommen können mit seinem Leben –

Peter erkannte ganz klar die Sache, mit der alles seinen Anfang genommen hatte. Dumm war er nicht. Er war aber auch nicht schlau genug gewesen, um den Abschlussprüfungen in Hogwarts damals mit Gelassenheit entgegensehen zu können.

Wochenlang quälte ihn die Angst, kläglich zu versagen. Während um ihn herum James und Sirius dauernd den großen Mann machten – die müssen sich keine Sorgen machen, die schütteln das alles aus dem Ärmel, dachte er in hilfloser Wut – und ihre Zeit mit Quidditch und Mädchen verbrachten, saß er selbst Abend für Abend im Gemeinschaftsraum und plagte sich mit Wiederholungen und Auswendiglernen.

Oft saß auch Remus mit am Arbeitstisch. Der war zwar ziemlich gut, aber er machte da kein solches Trara drum, und vor allem hatte er den Anstand, auch jetzt noch zu lernen. Man konnte ihn eine Menge fragen, aber Peter hatte trotzdem nicht das Gefühl, dass es besser wurde. Sein Kopf schien einfach nichts mehr aufnehmen zu wollen. Und wenn er dann noch James sehen musste, wie er da mit breitem Grinsen auf der Fensterbank saß und von seinen Zukunftsplänen schwadronierte, einen Arm um seine Lily gelegt – die schien er gar nicht mehr loszulassen, seit es ihm endlich gelungen war, sie für sich zu erobern – dann konnte er schon verzweifeln.

Peter hasste es, an jene letzten Wochen in Hogwarts zu denken, in denen seine Vorstellung von sich selbst so gnadenlos ins Bröckeln geraten war. Jahrelang hatte er in der Sicherheit gelebt, die ihm die Freundschaft der Marauders bot. Die Aussicht, demnächst auf eigenen Füßen stehen zu müssen, behagte ihm gar nicht, und auf einmal erkannte er die Brüchigkeit seiner Beziehungen, erkannte, dass er nicht wirklich zu ihnen gehörte.

Sie hatten ihn gnädig bei sich aufgenommen und ihn meistens mitmachen lassen. Aber unter der dünnen Tünche ihrer Kumpelhaftigkeit lauerte die Verachtung, bei Sirius ganz offen, bei James durch eine gewisse angeborene Freundlichkeit besser versteckt, aber zuzeiten nicht weniger deutlich erkennbar. Remus war anders, vielleicht weil er eben wirklich anders war. Peter war sich sicher, dass Remus ihn nicht verachtete. Aber er war sich nicht sicher, ob er selbst nicht Remus verachtete – weil der seinem Schicksal so hilflos ausgeliefert war. Weil er nicht mal dagegen aufbegehrte. Und seine Sanftheit hielt er für Schwäche.

Auf jeden Fall wurde Peter Pettigrew in diesen letzten Wochen in Hogwarts bewusst, dass er eigentlich ziemlich weit unten auf der Popularitätsskala stand. Nicht so tief wie Sniv vielleicht, aber viel fehlte jedenfalls nicht daran.

Und dann, als er sich schon mit dem Gedanken vertraut machte, dass er bei den Prüfungen wohl durchfallen würde, da geschah das Wunder. Er entdeckte eine Möglichkeit, sich in drei besonders gefürchteten Fächern die Prüfungsfragen zu besorgen. Als Ratte kam man eben doch weiter! Einen Moment lang überlegte er, ob er James, Sirius und Remus an seinem Wissen teilhaben lassen sollte, aber wirklich nur für einen Moment. Wozu brauchten die die Fragen – die konnten ja sowieso alles, oder? Und zumindest James und Remus hatten eine in mancher Hinsicht etwas komplizierte Vorstellung von Ehre –

Während also Peter wenigstens die letzten drei Tage vor Beginn der Prüfungen ruhig schlief, nahm das Unheil seinen Lauf. Denn die Ironie des Schicksals wollte es, dass er nach mehr als zwei Jahren als unentdeckter Animagus ausgerechnet bei jener außerplanmäßigen Verwandlung – und seinem folgenden heimlichen Weg – gesehen worden war. Und das auch noch von einem Mitschüler, einem Slytherin namens Vincent Nott.

Nicht nur sein neu erworbenes Wissen musste Peter jetzt mit ihm teilen: Noch in der Prüfungswoche verlangte Nott Schweigegeld – die erste Summe von vielen, die noch folgen sollten und die immer höher wurden. Eines Tages stand der verzweifelte und zum Äußersten entschlossene Pettigrew ohne Geld, aber mit einer hässlichen kleinen Waffe ausgestattet an dem verabredeten Übergabeort.

Natürlich ging sein Plan nicht auf. Nott lachte den zitternden Peter aus, der im entscheidenden Moment seine Unwissenheit im Bezug auf Muggelwaffen einsehen musste. Aber dann machte er ihm einen überraschenden Vorschlag. Er müsse nicht weiter zahlen. Stattdessen solle er ihm, Nott, Informationen liefern ...

Das war beinahe ein ganzes Jahr später, im Mai 1979. Seltsame Fragen waren das, auf die Nott da Antworten suchte. Aber was hätte Peter tun sollen? Und irgendwie machte es ihm sogar Spaß, als Ratte herumzuschnüffeln. Es bot eine willkommene Abwechslung zu der schrecklichen Langeweile seines Zuhauses. Wenn nur die Drohung nicht dahinter gestanden hätte!

Also, was hätte er tun sollen? Er beschaffte die Antworten und versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken. Die Alternative – endlich seinen Betrug einzugestehen und mit den Konsequenzen zu leben – kam für ihn gar nicht in Betracht.

So verging fast ein ganzes weiteres Jahr. Inzwischen hatte Peter es geschafft, eine Stelle als Reporter bei der Hexenwoche zu bekommen. (Dabei hatte die Tatsache, dass die Chefredakteurin Madam Walpurga eine Kundin seiner Mutter war, eine gewisse Rolle gespielt.) Durchschnittlich einmal in zwei Monaten traf er Nott in einer aufgegebenen Fabrikhalle in einem Londoner Randbezirk und versorgte ihn mit den gewünschten Informationen. Zweimal hatte er den Namen der Person, die seine Informationen betroffen hatten, wenig später im Zusammenhang mit einem schrecklichen Unglücksfall gehört.

Der spärliche Kontakt mit seinen alten Freunden war indessen nie ganz abgerissen, und gegen Ende 1979 erfuhr er eine richtige Wiederaufnahme: James feierte im November seinen zwanzigsten Geburtstag und lud eine Menge alte und neue Freunde in sein Elternhaus in Godric's Hollow ein. Es schien die erste größere Feier seit seiner und Lilys Hochzeit damals im August 1978 zu sein. Der Grund für die lange Pause war der tragische Tod seiner Eltern in der Zwischenzeit. Im Herbst 1978 war seine Mutter ermordet worden, sein Vater wenige Monate später gestorben.

Auf dieser Geburtstagsfeier – bei der Remus übrigens fehlte, weil wieder einmal Vollmond war – fragten James und Sirius ihn, ob er sich nicht ebenso wie sie dem Orden des Phönix anschließen wolle. Vielleicht geschah das nur aus einer weinseligen Laune heraus, das letzte Wort hatte da sowieso Dumbledore, aber Peter war ganz überwältigt. Hielten sie also doch etwas von ihm?

Ihn persönlich hatte die ganze Aufregung über die Aktivitäten der Todesser und ihren vermutlichen Anführer nie besonders interessiert. Solange seine Rattenwege nicht in Gefahr waren, kümmerte ihn die Lage der Nation herzlich wenig. Er dachte also nicht lange darüber nach. Vielleicht war es der Wunsch, aus der Einsamkeit in seinem neuen Leben in London herauszukommen, wieder Teil von etwas Heldenhaftem zu sein – auf jeden Fall bat er nach seiner Rückkehr darum, der Gruppe beitreten zu dürfen. Und weil James für ihn bürgte, wurde er aufgenommen.

So kam 1980. Nachdem er Mitglied im Orden des Phönix geworden war, konnte er sich zwei Einsichten nicht länger verschließen: dass nämlich die Informationen, die Nott von ihm wollte, mit Politik zu tun hatten, und dass Nott aus dem Gegenlager kam.

Irgendwie gelang es ihm, seine beiden Welten voneinander getrennt zu halten – sich bei den Versammlungen des Ordens freundlich und harmlos zu verhalten, mit seinen alten Freunden zu reden, Lily und Alice nach dem Verlauf ihrer Schwangerschaften zu fragen und ihnen wohlgemeinte Ratschläge seiner Mutter weiterzugeben (die allerdings annahm, es handle sich um seine Arbeitskolleginnen) und im Allgemeinen ein unauffälliger Teil des Ganzen zu sein. Er genoss das sogar. Die meisten Leute kannte er noch von Hogwarts her, und so war es ein bisschen wie die Rückkehr in den Schoß einer schon vermissten Familie.

Aber nach den Treffen konnte er durchaus den Versammlungsort verlassen, sich in der nächsten stillen Seitenstraße verwandeln und dann seiner Rattenwege gehen, damit er seinen dunklen Kunden zufrieden stellen konnte. Etwas in ihm genoss auch das und den Wechsel von einer in die andere Welt. Und lachte über die ernsthaften Tröpfe, die sich da in Kellerräumen versammelten, die Welt verbessern wollten und ihn für ein harmloses Männchen hielten.

Aber dann war jene Nacht im Juni gekommen, als ihn nicht Nott in der alten Fabrikhalle erwartet hatte, sondern – nun, ein anderer.

Seither hatte sein Leben alle Gemächlichkeit verloren. Hatte er bis dahin einen gewissen Gefallen an seinen geheimen Wegen und seiner kleinen, heimlichen Bösartigkeit gefunden – in dem Moment, als Voldemorts Stimme damals seinen Namen ausgesprochen hatte, war es damit vorbei gewesen. Peter war ein schlauer Junge, und darum wusste er genau, dass er jetzt mit Haut und Haar und Leib und Seele jemandem gehörte, dessen Name allein ihn schon erzittern ließ.

Peter seufzte und griff automatisch nach einer der Tüten, die um den Prophet auf seiner Schreibtischplatte herumlagen. Verdammt. Alles leer. Und weil er vorhin so spät dran gewesen war, hatte er nicht mal neuen Vorrat besorgen können. Was hätte er jetzt für ein paar Schokofrösche gegeben!

Er öffnete die Schubladen seines Schreibtisches und durchwühlte sie hastig, was ihm einen weiteren kritischen Blick von Sarah eintrug, die leider am Nebentisch saß. Am Rande hatte er mitbekommen, dass Martin mit seinem Purge-Artikel eben zur Chefin bestellt worden war.

Da – ganz hinten und halb zerdrückt lag noch eine Tüte mit ein paar uralten Schokofröschen! Er musste sie dort vor längerer Zeit vergessen haben. Was für ein Glück! Ohne Rücksicht auf die sich vertiefenden Runzeln auf Sarahs Stirn packte er den einen der drei bröckeligen Frösche aus und streute sich die Stückchen in den Mund.

Sarah wandte sich mit angewidertem Gesicht wieder ihrem Schreibblock zu. Ein wilder Hustenanfall von Peters Platz her ließ sie Sekunden später beinahe aufspringen. Der feiste Blödian hustete sich die Seele aus dem Leib. Knallrot angelaufen, mit hervorquellenden Augen krümmte er sich über seine Tischplatte und hustete Schokokrümel überallhin.

"Meine Güte, was ist denn los, Pete?", fragte Jennifer und beugte sich über die dünne Stellwand, die ihre Schreibnischen voneinander trennte. "Hast du 'nen Frosch verschluckt, oder was?"

"Sehr – witzig –", keuchte Peter. "Glotzt nicht so! Ich hab mich nur verschluckt!"

Langsam beruhigte er sich wieder und kippte einen Schluck des kalt gewordenen Kaffees. Dann sah er noch mal auf die Stelle im Prophet, die ihm beinahe einen Herzanfall beschert hatte – wenn man dem Theater glauben durfte, das sein Herz gerade aufführte.

"Thomas Screen zurück in England", stand da, ganz unten auf der Seite und in den kleinen Lettern, die für die Neuigkeiten am Rande reserviert waren. Trotzdem – wie hatte er das die ganze Zeit übersehen können? Mit zitternden Händen strich er die Seite glatt und versuchte, den Artikel durch die tanzenden Flecken vor seinen Augen zu lesen.

"Nach mehrmonatiger Abwesenheit ist der Kunst- und Wissenschaftsmäzen Thomas Screen anscheinend wieder im Lande. Der Mitbegründer der Akademie für Geheime Künste musste sich im Mai wegen angeblicher enger Verbindungen zur radikalen Geheimorganisation der Todesser vor Gericht verantworten und wurde freigesprochen. Am Freitagabend ließ er sich erstmals wieder in der Öffentlichkeit sehen, als er am Festakt zur Eröffnung der internationalen Tagung "Verkannte Genies, verkannte Wissenschaften" teilnahm, die seine Akademie in dieser Woche ausrichtet.

Wie von dort verlautete, weilte Screen seit dem Sommer zu Studienzwecken in Frankreich, Italien und Rumänien."

Enge Verbindungen! Peter schnaubte verächtlich. Ob die wirklich so blöd waren, dass sie den Kram glaubten, den sie da schrieben? Er wusste ganz genau, wer sich hinter dem unauffälligen Namen Thomas Screen verbarg, und dazu hatte er nicht einmal Geralds Zeugenaussagen gebraucht. Wie er von seinen Schnüffeltouren her wusste, amüsierten sich die Angehörigen gewisser Kreise köstlich über die Blindheit der übrigen Bevölkerung. Oh ja, der Dunkle Lord war schlau und stellte es sehr geschickt an, aber konnte einem aufmerksamen Beobachter denn tatsächlich entgehen, wer dieser Screen in Wirklichkeit war? Gleichgültig, wie kleinlaut die Abteilung für Magische Strafverfolgung ihre Klagen der Reihe nach wegen nicht ausreichender Beweislage hatte fallen lassen müssen!

Allerdings interessierte es Peter auch nicht besonders, was die anderen denken oder wissen mochten. Was die Säure in seinem Magen jetzt brodeln ließ, war der Gedanke, dass er nun wieder jederzeit zu ihm gerufen werden konnte. Der Schweiß brach ihm aus. Er schob verstohlen den Ärmel seines Umhangs ein wenig hinauf und starrte auf die Tätowierung auf der Innenseite seines Unterarms. Sah sie anders aus als sonst? Und fühlte er nicht schon ein Brennen dort?

"Mr Pettigrew!"

Er wäre fast vom Stuhl gesprungen. Madam Walpurga stand im Raum wie ein düsteres Schlachtschiff, und wie es schien, starrten sie alle nur ihn an.

"Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit, Mr Pettigrew", sagte sie scharf. "Nun, wie Sie gehört haben werden, haben wir einen Verlust zu beklagen. Laurine Adams ist gestern ermordet worden. Ich erwarte, dass Sie alle zu ihrer Beerdigung erscheinen, die für Samstag angesetzt ist. Ich habe eben mit Laurines Vater gesprochen.

So schrecklich diese Tragödie auch ist, die Arbeit muss weitergehen. Ich werde in den nächsten Tagen beschließen, wer von Ihnen an Laurines Stelle nach Paris gehen wird. Sie, Martin – oder Sie, Jennifer."

Bitte – lassen Sie mich gehen, dachte Peter flehentlich, aber dann wurde ihm klar, dass ihm das auch nicht helfen würde. Er, dessen Namen er nicht einmal denken mochte, würde ihn nicht gehen lassen. Jetzt nicht mehr.

Instinktiv fühlte Peter, dass sich das Blatt für den Dunklen Lord heute endgültig gewendet hatte.