Eine schlechte Nachricht kommt selten allein
Klick, Klick...
Harry schrak aus dem Schlaf hoch. Es war dunkel im Zimmer. Nur die Straßenlaterne vor dem Fenster warf einen fahlen Lichtstrahl auf Harrys Bett. Harry sah sich um. Alles schien so zu sein, wie immer. Neben dem Bett stand sein großer Koffer und auf dem Nachttisch lagen etwas durcheinander Pergament, Feder, seine Brille und ein aufgeschlagenes Buch. Harry schaltete seine Nachttischlampe ein und setzte die Brille auf. Sein Blick fiel auf den Hedwigs leeren Käfig und er erinnerte sich an das Geräusch, das ihn geweckt hatte.
Gähnend stand er auf und schlurfte zum Fenster um es zu öffnen, und tatsächlich flog Hedwig, seine Schneeeule kurz darauf ins Zimmer. Sie setzte sich auf seinen Arm und knabberte zärtlich an seinem Finger. An ihrem Bein war eine zerknitterte Pergamentrolle befestigt. Harry löste sie mit zittrigen Fingern. Der Anblick dieses Briefes verursachte ihm ein flaues Gefühl im Magen. Harry war jetzt plötzlich hellwach. Endlich hatte er das Pergament entrollt. Die Schrift war krakelig und an einigen Stellen verschmiert.
Harry,
Todesser haben meine Eltern entführt. Bin auf dem Weg zu dir. Bitte hilf mir.
Hermine.
Harry's Kopf fühlte sich schlagartig leer an. Er starrte völlig entgeistert auf den Brief. Das konnte einfach nicht wahr sein. Hermine's Eltern hatten doch mit der Zauberwelt nicht wirklich viel zu tun. Was wollten die Todesser von ihnen?
Wie im Trance ging er zum Fenster und starrte in die Nacht. Es war immer noch stockdunkel. Aus dem Zimmer nebenan drang ein kurzes lautes Grunzen von Onkel Vernon. Als hätte dieses Geräusch Harry wieder in die Gegenwart zurückgeholt, begannen seine Gedanken sich nun langsam wieder zu bewegen. Hermine hatte ihn um Hilfe gebeten. Wie konnte er ihr am besten helfen? Wie konnte sie unbemerkt zu ihm gelangen? Hoffentlich ist ihre Eule von niemandem abgefangen worden. Doch diesen Gedanken verwarf er wieder, denn Hedwig sah gesund und munter aus.
Harry atmete tief durch. Er musste jetzt ruhig bleiben um richtig handeln zu können. Er kramte eine alte Uhr ohne Armband aus der Tasche. Seine bisherige Armbanduhr hatte die zweite Prüfung des Trimagischen Turniers in seinem vierten Schuljahr nicht überlebt. Es war 1.45 Uhr. Wenn Hermine schon unterwegs war, sollte sie auf jeden Fall vor Sonnenaufgang bei ihm sein. So konnte er sie empfangen, ohne dass die Dursleys etwas merkten. Doch wie sollte es dann weitergehen?
Wieder ermahnte Harry sich zur Ruhe. ‚Lass Hermine erstmal ankommen, dann werden wir schon weitersehen'
Er zog sich schnell einen Pullover über, nahm seine Schuhe in die Hand und schlich sich barfuß aus dem Zimmer. Vorsichtig stieg er die Treppe hinunter, wobei er mit einem großen Schritt die knarrende Stufe ausließ. Als er im Flur angekommen war, zog er die Schuhe an und schlüpfte schließlich durch die Eingangstür ins Freie. Dann legte er noch einen kleinen Stein in die Tür, damit sie nicht zufiel, denn die Dursleys würden ihm niemals einen Schlüssel anvertrauen.
Er entschloss sich in dem Blumenbeet auf Hermine zu warten, von dem aus er im letzten Jahr versucht hatte, die Nachrichten zu hören. Von diesem Beet aus konnte man die Straße gut einsehen, würde jedoch selbst nicht gesehen. Also machte Harry es sich so bequem wie möglich auf dem harten, ausgetrockneten Boden. Vorsichtshalber legte er seinen Zauberstab bereit. Jetzt konnte er nur noch abwarten.
Die Zeit verstrich quälend langsam und Harry spürte immer stärker, wie die Müdigkeit zurückkehrte. Wieder zog er seine Uhr hervor. 4.20 Uhr. Im Osten begann der Himmel bereits blass zu werden. Nervös strich Harry sich durchs Haar. Hoffentlich tauchte Hermine bald auf.
„KRACH" Harry fuhr erschrocken zusammen. Direkt vor dem Haus der Dursleys war der Knight Bus gelandet. Wenige Augenblicke später stieg eine völlig aufgelöste Hermine aus. Harry beugte sich soweit aus seinem Versteck, dass sie ihn sehen konnte und winkte sie zu sich.
„Hallo Harry", sagte sie mit erstickter Stimme „Danke, dass ich zu dir kommen durfte" Nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Harry stand ein wenig hilflos vor ihr. Zögerlich nahm er sie in den Arm „Wir finden schon einen Weg, wie wir deinen Eltern helfen können." Hermine sah ihn dankbar an.
Es war inzwischen fast hell geworden. „Komm, wir gehen lieber erstmal rein. Ich hoffe der Bus hat die Dursleys nicht aufgeweckt", flüsterte Harry. Doch im Schlafzimmer von seinem Onkel und seiner Tante war immer noch alles ruhig und dunkel.
Vorsichtig schlichen die beiden sich in Harry's Zimmer. Leise schloss Harry die Tür und bedeutete Hermine, sich aufs Bett zu setzen. „Nun erzähl doch erstmal, was passiert ist", sagte er, als er sich neben sie setzte.
Ohne ihn anzuschauen begann Hermine leise und stockend zu erzählen: „Ich bin heute Nacht aufgewacht, weil ich Geräusche gehört habe, als wäre jemand bei uns im Haus. Ich habe meinen Zauberstab genommen und bin ins Schlafzimmer meiner Eltern gegangen, um sie zu wecken. Aber die Betten waren leer. In diesem Moment hab ich unsere Eingangstür klappen gehört und bin nach unten gerannt. Es war niemand mehr da. In der Küche hab ich dann das gefunden."
Sie hielt Harry ein zerknülltes Pergament hin, das sie wohl die ganze Zeit in ihrer Faust gehalten hatte.
Schlammblut, lass dich nie mehr auf Hogwarts sehen, oder du siehst deine Eltern nicht wieder!
Harry starrte erst den Zettel und dann sie an. Das war doch unmöglich! Das war unverschämt! Er fühlte eine dumpfe Wut in sich aufsteigen. Wie konnten diese hinterhältigen Schweine es wagen, Zauberer von der Schule fernzuhalten, indem sie ihre unbeteiligten Muggeleltern kidnappten.
„Wir müssen unbedingt mit Dumbledore reden. Aber ich denke, wir sollten keine Eule schicken. Sie könnte abgefangen werden"
Hermine sah ihn erschrocken an. „Daran hatte ich gar nicht gedacht. Meinst sie wissen jetzt, dass ich bei dir bin? Nur als ich völlig fertig in der Küche saß, kam plötzlich Hedwig angeflogen und ich war nur froh, dass ich dir eine Nachricht schicken konnte"
„Ich denke nicht, dass Hedwig aufgehalten worden ist. Ihre Federn waren glatt und übermäßig aufgeregt war sie auch nicht", versuchte Harry sie zu beruhigen.
Hermine war erleichtert, doch dann verdüsterte sich ihr Gesicht wieder. „Wie sollen wir denn zu Dumbledore Kontakt aufnehmen? Du hast ja bestimmt kein Flohpulver da, oder?"
Harry lächelte, „Nein, hab ich nicht, aber ich kenne jemanden hier in der Gegend, der welches hat..."
In dem Moment hörte er die Zimmertür der Dursleys klappen und bedeutete Hermine erschrocken, still zu sein. „Ich muss runter, Frühstück machen. Am besten du bleibst hier und verhältst dich ruhig. Die Dursleys kommen eigentlich nicht in mein Zimmer. Aber nimm dir vorsichtshalber den Tarnumhang. Er liegt in meinem Koffer gleich oben auf. Ich bring dir dann was zu Essen mit hoch." Dann beeilte er sich, in die Küche zu kommen.
Jetzt als Harry gegangen war, fühlte Hermine plötzlich, wie müde sie war. Sie fühlte sich so hilflos, wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie war es gewohnt, selbst Lösungen für ihre Probleme zu finden. Doch was sollte sie in einer solchen Situation tun? Hermine war unendlich froh, dass sie Harry um Hilfe gefragt hatte. Gemeinsam würden sie einen Weg finden, ihren Eltern zu helfen. Sie streckte sich auf Harry's Bett aus und starrte an die Decke. Trotz aller Müdigkeit konnte sie nicht einschlafen. Zu groß war die Sorge um ihre Eltern und immer wieder gingen ihr die Szenen der letzten Nacht durch den Kopf.
Harry beeilte sich, das Frühstück vorzubereiten. Er war froh, dass sein Onkel und seine Tante nicht viel Wert darauf legten, dass sie gemeinsam aßen. Als er die schweren Schritte seines Onkels auf der Treppe hörte, stopfte er noch schnell ein paar Toastscheiben und etwas Schinken unter seinen Pulli – gerade rechtzeitig bevor Onkel Vernon die Küche betrat. Harry murmelte ein „Morg'n", schob sich an seinem Onkel vorbei und hastete die Treppe wieder hoch.
Hermine fuhr leicht zusammen, als sich die Tür öffnete, doch als sie sah, dass es nur Harry war, entspannte sie sich wieder. Dankbar nahm sie die Toastschnitten und den Schinken entgegen. Als sie fertig war mit dem Frühstück fragte sie Harry, wer denn hier in der Gegend Zauberer wäre.
„Nun, Zauberer gibt es hier keine, außer mir. Aber du kannst dich doch noch an letzten Sommer erinnern, als die Dementoren mich angegriffen hatten. Damals hat sich unsere Nachbarin, zu der mich die Dursleys früher manchmal gebracht haben, als Squib geoutet. Ich glaube von ihr aus können wir zu Dumbledore Kontakt aufnehmen."
„Ja, ich erinnere mich. Du hattest von ihr erzählt. Das war doch diese katzenvernarrte Frau, oder"
„Ja, genau die. Tante Petunia wollte mit Dudley heute Vormittag einkaufen gehen. Dann können wir Mrs Figg besuchen."
Nach circa einer Stunde gingen Tante Petunia und Dudley aus dem Haus. Harry lugte vorsichtig aus seinem Zimmer um zu sehen, ob die Luft rein war. Er hörte den Fernseher aus dem Wohnzimmer, also nahm er an, dass von Onkel Vernon keine Gefahr ausging, entdeckt zu werden. Er winkte Hermine zu sich herüber und gemeinsam schlichen sie sich aus dem Haus.
Bis zum Haus von Mrs Figg war es nicht weit, und so standen nach wenigen Minuten vor ihrer Haustür und klingelten. Ein leises Miauen war zu hören, gefolgt von kleinen Trippelschritten. Dann ging die Tür auf und Mrs Figg stand vor ihnen. Einige Lockenwickler hingen in ihrem recht dünnen, grauen Haar. Zuerst schaute sie Harry und Hermine verblüfft an, doch dann lächelte sie.
„Harry, komm doch rein. Das ist aber nett von dir, dass du mich mal besuchst. Und deine Freundin hast du auch mitgebracht. Warte, Mädchen, dich hab ich irgendwo schon mal gesehen. Sag nichts, ich komm schon drauf...nein hilf mir mal auf die Sprünge."
„Das ist Hermine Granger. Sie geht mit mir auf Hogwarts"antwortete Harry etwas ungeduldig.
„Hermine! Komm rein. Ich hab schon viel von dir gehört" Mit diesen Worten schob sie die beiden in ihre kleine Wohnung.
Es roch nach Katzenfutter, und die Wohnung war ein bisschen schäbig eingerichtet, aber Harry hatte sie schlimmer in Erinnerung. Während Harry und Hermine im Flur ihre Schuhe auszogen, eilte Mrs Figg ins Wohnzimmer um die Sofakissen noch ein wenig zu richten. Nun folgten die beiden ihr in die Stube und setzten sich nebeneinander auf das niedrige Sofa.
„Möchtet ihr etwas trinken? Vielleicht kann ich euch einen Tee anbieten? Ich habe wunderbar leckeren Himbeertee."
„Ja, vielen Dank, Mrs Figg", antwortete Hermine und zwang sich zu einem Lächeln. Mrs Figg verschwand in der Küche.
„Denkst du, dass sie uns wirklich helfen kann?"fragte Hermine eigentlich nur um das belastende Schweigen zu brechen. „Ich hoffe es."
Mrs Figg kam mit einem Tablett zurück auf dem eine große Kanne voll dampfend heißem Tee, drei Tassen, Milch und Zucker standen. Sie stellte das Tablett auf den Tisch und holte noch Kekse dazu.
„Na dann erzählt mal, Kinder. Wie waren denn eure Ferien bis jetzt?..." Doch als sie den Gesichtsausdruck von Harry und Hermine sah, brach sie ab. „Wenn ich euch irgendwie helfen kann, ..."fügte sie leiser hinzu.
Hermine standen wieder Tränen in den Augen, doch sie hielt sie tapfer zurück. „Wir müssen unbedingt mit Professor Dumbledore sprechen. Hätten Sie vielleicht Flohpulver im Haus?"
Mrs Figg, die bemerkte, dass die beiden wirklich eine dringende Angeledenheit auf dem Herzen hatten, wuselte aus dem Zimmer und kam kurz danach mit einer kleinen, schlichten Dose zurück.
„Hier, ich benutze das Zeug nicht oft, aber ich habe noch ein bisschen was da. Ihr wisst ja, wie das funktioniert. Dort ist mein Kamin."
„Danke, Mrs Figg"sagte Hermine und diesmal war ihr Lächeln etwas freier.
„Kein Problem. Fühlt euch ganz wie zu Hause. Falls ihr mich braucht, ich bin in der Küche." Mit diesen Worten trippelte sie hinaus und ließ sie allein.
Harry und Hermine gingen an den Kamin. Harry, der schon einmal über Flohpulver kommuniziert hatte und wusste, wie unbequem das mit der Zeit werden konnte, zog sich seinen Pullover aus und legte ihn unter seine Knie. Dann schaute er Hermine fragend an.
„Was meinst du, ob Dumbledore auch in den Ferien in Hogwarts anzutreffen ist?"
„ Ich hab keine Ahnung. Darüber hab ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Probier doch einfach, nur seinen Namen zu sagen."
„Na hoffentlich erreichen wir ihn", sagte Harry etwas zweifelnd. Trotzdem nahm er eine Prise Flohpulver aus der Dose, sagte laut und deutlich „Professor Dumbledore"und schob seinen Kopf in die Flammen. Ihn erfasste ein komisches Schwindelgefühl, doch nach wenigen Sekunden konnte er in ein gemütliches kleines Zimmer sehen.
Die Wände waren mit Holz vertäfelt und zwei große Ledersessel standen links und rechts von einen flachen Holztisch auf dem eine Schale voll mit Äpfeln stand. In einem der beiden Sessel saß ein alter Mann mit einem langen weißen Bar, der in die Lektüre des Tagespropheten vertieft war.
Harry räusperte sich. „Entschuldigen Sie, Professor Dumbledore."
Der Schulleiter von Hogwarts schaute überrascht auf. Als er Harry's Kopf im Kamin sah, nahm sein Gesicht einen besorgten Ausdruck an.
„Harry, sei mir willkommen, auch wenn ich ahne, dass der Anlass deines Besuches wenig erfreulich ist."
„Ich bin froh, dass ich sie erreiche Professor. Hermines Eltern sind entführt worden", sprudelte es völlig aufgeregt aus Harry heraus.
Ein düsterer Schatten legte sich über Dumbledores Augen. „Ja, so etwas hatte ich fast befürchtet. Im ganzen Land häufen sich die Entführungen von Familienangehörigen muggelstämmiger Zauberer. Die Auroren machen seit Wochen Überstunden, aber die Todesser haben sich inzwischen drastisch vermehrt, so dass die ganze Sache außer Kontrolle geraten ist."
Harry sah ihn erschrocken an. „Aber das kann...das ist doch..."
Dumbledore sah so ernst aus, wie Harry ihn selten gesehen hatte. „Harry, die Lage in Großbritannien ist derzeit sehr kritisch."
Harry hätte es nicht für möglich gehalten, dass sich das Gesicht Dumbledores noch weiter verfinstern könnte. Ein flaues Gefühl schlich sich in seine Magengegend.
„Harry, ich weiß, dass du im Moment genug von schlechten Nachrichten hast...aber Ronald Weasley ist auch entführt worden"
Eine eisige Leere machte sich in Harry breit. Seine Beine knickten unter ihm ein. Wieder erfasste ihn der vertraute Schwindel und er fand sich vor dem Kamin von Mrs Figg wieder. Er spürte wie Hermine ihn anstarrte, doch er reagierte nicht. Alles kam ihm so unwirklich vor. Wie aus weiter Ferne hörte er, wie Hermine etwas sagte, doch er verstand nicht was. Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon regungslos auf dem Boden vor dem Kamin gesessen hatte und ins Feuer gestarrt hatte, als plötzlich Albus Dumbledores Kopf in den Flammen erschien.
Der Professor sah Harry besorgt und mitfühlend an. „Harry..."
Harry hob langsam den Kopf. In seinen Augen spiegelten sich Fassungslosigkeit und Wut. „Sie machen alles kaputt, was die Zauberwelt zu einem lebenswerten Ort macht."
Er stand auf und begann, wie ein gefangenes Tier im Zimmer herumzulaufen. ‚Warum Ron? Seine Eltern sind keine Muggel.' Schließlich blieb er wieder vor dem Kamin stehen und seine Augen hatten einen entschlossenen Ausdruck angenommen.
„Professor, ich möchte in den Orden des Phönix eintreten. Ich möchte nicht länger hilflos zusehen, wie meine Welt um mich herum zusammenfällt."
Harry hatte sehr leise, doch nachdrücklich gesprochen. Dumbledore nickte verständnisvoll.
„Ja, das habe ich durchaus erwartet. Wir werden noch darüber reden. Doch zuerst geht es darum, wie wir Hermines Eltern und Ron befreien können. Ich schlage vor, ihr kommt mit ins neue Hauptquartier des Ordens. Dort können wir in Ruhe reden."
