Irgendwie fühle ich mich unwohl, wenn wir uns so gar nicht kennen. Also. Hallo. Ich heiße Darlene Lee. Und ihr? Hehe, was rede ich, das interessiert hier keine Sau. Das ist meine Geschichte, richtig?
Wie gesagt, ich bin Lee. Obwohl auch der Rest meiner näheren Verwandtschaft mit dem Nachnamen Lee geschmückt ist, bin ich die Einzige, die so genannt wird. Keine Ahnung wieso, aber ich schätze mal zu mir passt der Name einfach so gut. Ich habe einen wundervollen Charakter, eine liebende Familie, einen Golden Retriever und einen glänzenden Schulabschluss mit goldenen Sternchen. Jaja schon klar. Sicher nicht. Ich stell euch erst mal alles vor. Im Moment befinde ich mich in meinem Zimmer und mache mir Gedanken um viel nichts, bin dann aber über irgendeinen Umweg hier gelandet. Es ist der soundsovielte Juli, irgendetwas gen Anfang August, etwa drei Uhr Nachmittags. Die Wetterbedingungen sind perfekt, um eine Runde auf dem Besen zu drehen und Wasserbomben auf Nachbarn zu werfen. Würde ich normalerweise auch machen, aber irgendwann wollte ich ja meine Geschichte festhalten. Unten lästern meine Mutter und mein Bruder Marc höchstwahrscheinlich gerade über irgendeine Nachbarin bei einer Tasse Tee oder beim Bügeln oder was weiß ich. Ich will ehrlich gesagt keine weiteren Vermutungen anstellen, also folgt einfach der Erzählung.
Ich stehe auf und spaziere mit einer Packung Bertie Botts den Gang weiter ins Zimmer meines anderen Bruder, Lyle, dreizehn Jahre. Keine weiteren Kommentare nötig, oder? Wenn er nicht gerade dabei ist, zu versuchen mich in meinen Streichen zu übertrumpfen, hängt er entweder irgendwo in der Luft auf seinem Besen oder schlägt die Zeit mit Essen tot. Wir sind uns sehr ähnlich. Er schläft noch, der Mund speerangelweit offen, auf das Kissen sabbernd, die blonden Haare in alle Richtungen abstehend. Die Wände sind mit Qudditchpostern verhangen und allgemein kann ich hier drinnen, von der Unterwäsche mal abgesehen, keinen Unterschied zu meinem Zimmer finden. Kleiderhaufen, Streichartikel, Tellerstapel.
Weiter gehts zu Marc, fünfzehn Jahre. Hier liegt nur schwules Zeug rum, aber irgendwo zwischen den rosafarbenen Stoffballen kugelt auch noch das Quidditchbuch rum, dass Lyle und ich ihm letztes Jahr Weihnachten geschenkt haben. Irgendwo in seinem verwinkelten Mädchenhirn schlummert auch noch ein kleiner Junge, der aus der Plätzchen backen und Barbiepuppenwelt ausbrechen will, um endlich mal richtige Männersachen zu machen!
Also, das wars mit meinen Brüdern, mehr hab ich zum Glück nicht, das wär ja unter aller Sau noch mehr von der Sorte ertragen zu müssen. Meine Eltern sind richtig scheiße, klipp und klar gesagt. Deshalb sind wir alle auch so verkommen. Ich hasse meine Mutter und mein Vater nervt mich eigentlich nur. Damit wäre das Thema auch abgehakt.
Ach ja, ich wohne übrigens in Texas. Nicht mehr lange, aber ein paar Stunden schon noch. Das liegt an meiner unglaublichen Eigenschaft, Lehrer zu verärgern und von Schulen geworfen zu werden. Ich bin nämlich ne richtige Hexe, mit Zauberstab, Besen und dem ganzen Drum und Dran. Und da es nun mal nicht so viele Hexenschulen gibt und mich in Amerika keine mehr nimmt, hatte ich vor kurzem ein ziemlich großes Problem. Natürlich hatten meine Eltern Anfang der Ferien ne ganz brillante Idee… chrrmchrrm Sarkasmus… nämlich mich auf so ne Internatsschule in Britannien zu stecken, wo auch irgendwelche Verwandten von uns sind. In meine Halloho!, das geht ja gar nicht! Solche verbohrten Spießergören sind echt das Letzte, was ich mir jetzt wünsche, aber da hab ich nach wie vor keine Wahl. Alles was ich weiß: Die Familie, zu der ich ziehen werde, um mich an Britannien zu gewöhnen, sind zu dritt, die Mutter ist meine Tante hundertsten Grades oder so, mit irgendeinem spießigen Ehemann und Kind. Wahrscheinlich soll ich Babysitten oder so nen Scheiß, aber dann können sie ihrem Kind auch gleich ein Grab schaufeln, denn als Sitter bin ich noch mieser als Marc in Sport. Wie auch immer, bis jetzt hat keine Ausrede gewirkt, warum ich nicht nach Europa sollte und langsam wirds eng für mich. Es scheint doch tatsächlich so, dass heute mein letzter Tag im normalen Amerika ist!
Aber ich denk jetzt lieber an nichts Unschönes. Also gehts weiter ins Bad, wo ich mich vollkommenes und perfektes Ding im Spiegel betrachten kann. Hehe, so eingebildet bin ich gar nicht. Für meine mageren Sechzehn Jahre bin ich natürlich schon was Besonderes. Botox–Lächeln, Brustimplantat, Nasen–OP's, Fett absaugen, jaja ich hab schon alles machen lassen, ohne bringt mans in der heutigen Gesellschaft ja zu nichts mehr, ne? Chrrrm… und jetzt ernsthaft. Rote Haare, fetter Grinser, strahlend weiße Beißerchen, schlanke, irgendwie hagere Figur und das wars auch schon. Ach ja, da sind noch die unzähligen Narben, die vor allem meine Knie zieren, mein rechtes Schlüsselbein, die Außenseite meiner rechten Hand, meinen Hüftknochen und noch einige andere, kaum bemerkbare. Stammt eigentlich alles von Quidditch- und Fahrradunfällen und als ich mit einigen Muggel–Freunden in den Ferien unterwegs war. Ist schon ein paar Jahre her.
Ich grinse noch mal in den Spiegel und rede mir selber gut zu und alles passt und ich bin wieder die coolste Person der Welt und es ist scheißegal, dass ich nach Europa muss. Ja, so ist das.
