Die gesprengte Tür
Mr. und Mrs. Granger, wohnhaft in Downshire Hill, Haus Nummer 4, London, waren bekannt dafür, die besten Zahnärzte weit und breit zu sein. Präzise und stets pünktlich, zu jedem Anlass angemessen gekleidet und freundlich wie sie waren, waren sie allerseits beliebt.
Mr. Granger war gross und schlank und sein Haar begann sich nun, da er unmittelbar vor den Vierzigern stand, etwas zu lichten. Mrs. Granger war zierlich, hatte buschiges braunes Haar und haselnussbraune Augen. Die Grangers hatten ein Mädchen namens Hermine und in ihren Augen gab es nirgendwo ein prächtigeres Kind. Anständig und sehr intelligent war sie und bereits jetzt, da sie die ersten Noten nach Hause brachte, waren Mr. Und Mrs. Granger davon überzeugt, dass ihre Tochter in ihre Fussstapfen treten und Medizin studieren würde.
Unsere Geschichte beginnt an einem kühlen, wolkenbehangenen Herbsttag. Die achtjährige Hermine eilte den Weg zu ihrer Schule entlang und murmelte beflissen ein Gedicht vor sich hin, welches sie auswendig gelernt hatte. Sie sah ihrer Mutter unglaublich ähnlich, besass die gleichen haselnussbraunen Augen und ihre Haare waren sogar noch buschiger. Ihre Vorderzähne waren etwas zu gross, weshalb sie von ihren Klassenkameraden oftmals aufgezogen wurde. Beliebt war sie nicht. Ihr Vater meinte, die anderen Kinder seien eifersüchtig. Bereits bei ihrer Einschulung konnte Hermine schreiben und einfache Bücher lesen. Sie war nicht nur schlauer, sondern auch fleissiger als ihre Mitschüler, die Lehrer liebten sie und dass das bei ihren Mitschülern nicht gut ankam, liess man sie deutlich spüren. So lauerten ihr auch an diesem Morgen zwei Mädchen vor der Schule auf. Sie waren deutlich grösser als die zierliche Hermine und grinsten breit, als die Brünett an ihnen vorbeiging. Sie packten sie von hinten und rissen sie an der Schultheke zurück. «He, was soll das!», beschwerte sich Hermine. «Guten Morgen, Hasenfresse», kicherte eines der Mädchen. «Hast deine Hausaufgaben schön brav gemacht, wie immer, hmm?» Sie hielt Hermine im Klammergriff fest, während das andere Mädchen ihre Theke öffnete und einen säuberlich reingeschriebenen Aufsatz herauszog. «Na, was haben wir denn da?», fragte sie spitz und schwenkte das Stück Papier vor Hermines Augen hin und her. «NEIN!», schrie Hermine und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als das Mädchen begann, ihren Aufsatz zu zerreissen und zerknüllen, die Fetzen in eine Pfütze warf und drauftrat. Das andere Mädchen schubste Hermine zu Boden, wo diese hart aufschlug, und gemeinsam lachend gingen die beiden davon. «Nein», wiederholte Hermine schluchzend, betrachtete hilflos die durchnässten Papierfetzen und ihre kaputten Hosen. Was würde der Lehrer sagen, wenn sie so eintrat, ohne Aufsatz? Sie würde bestraft werden, das wusste sie. Verzweifelt schlug sie die Hände vor ihre Augen und wünschte sich sehnlichst, ihr Aufsatz möge wieder ganz sein. Vielleicht, wenn sie nur fest genug daran glaubte… Sie kniff die Augen zusammen und plötzlich spürte sie, wie etwas an ihren Händen kitzelte. Sie nahm sie von den Augen und direkt vor ihr, zehn Zentimeter vor ihren Augen, schwebte ihr Aufsatz, wieder ganz, trocken und so sauber geschrieben, wie er zuvor war. Voller Begeisterung kreischte Hermine auf und packte den Aufsatz. «Das gibt es doch nicht», flüsterte sie, doch bevor sie sich einen Reim darauf machen konnte, was gerade geschehen war, klingelte es. Hermine rappelte sich auf und rannte aufgeregt zur Schule.
«Das kann doch nicht-», rief das Mädchen, welches Hermine im Würgegriff hielt, fassungslos, als diese mit dem Aufsatz in der Hand reingestürzt kam. Sie und ihre Freundin durchbohrten Hermine mit wütenden Blicken, die sie erschaudern liessen.
«Wie hast du das getan?!», schrie eines der Mädchen Hermine an. Sie hatten sie in der Pause auf dem Mädchenklo abgefangen und stellten sie nun zur Rede. «Ich – i-ich habe gar nichts getan!», stotterte Hermine verängstigt. «Es war einfach so wieder ganz.» «Einfach so, wie durch Zauberei, ja?», kreischte das andere Mädchen und packte Hermine an den Haaren. «Aaau, das tut weh! Lass los!», schrie Hermine und stiess das grössere Mädchen um. In dem Moment ging die Tür auf und zu Hermines Schrecken kam die grössere Schwester eben dieses Mädchens herein. «Was ist denn hier – he!», fauchte sie, als sie sah, wie ihre Schwester am Boden lag. «Bist du völlig bescheuert?», schrie sie Hermine an. Diese, fast einen Kopf kleiner, sagte gar nichts. «Hast du vergessen, wie man spricht? Red schon!» «Ich – sie hat mich zuerst…» Das grosse Mädchen stiess Hermine in eine der Kabinen und knallte die Tür zu. «Los, hol den Besen aus dem Schrank da drüben!», befahl sie und Hermine hörte es rumpeln, als die Mädchen einen Besen verkehrt unter die Klinke stellten, damit die Tür verriegelt war. «Mal sehen, was unser Lehrer sagen wird, wenn du nicht aufkreuzt», höhnte die kleine Schwester. «Nach der Schule bist du dran!» Nun wurde Hermine wütend. «Ich habe euch doch gar nichts getan», rief sie und hämmerte gegen die Tür. «Lasst mich RAUS!» «Oh, klein Häschen hat Angst», lachte die grosse Schwester. «Vielleicht bringen wir dir ja ein paar Karotten mit…» «Ich habe KEINE ANGST! LASST MICH RAUS!», schrie Hermine, ihre Wangen vor Wut gerötet. Sie hörte, wie die Mädchen lachend davongingen. «Na wartet», flüsterte sie und schloss die Augen. Sie wusste nicht, wie sie es vorhin gemacht hatte. Sie stellte sich vor, dass die Tür sich öffnen würde, einfach so. Doch konnte sie ihre Wut nicht kontrollieren. «Mach schon!», fauchte sie. In dem Moment knallte es enorm und Hermine fiel vor Schreck beinahe in die Kloschüssel. Dort, wo vorhin die Tür der Toilettenkabine war, klaffte nun ein grosses Loch. Überall lagen rotlackierte Holzsplitter, die Türfalle hatte eine Delle in den Holzboden geschlagen. Der Besen war entzwei, das Holz rauchte noch immer. «Was war das?», hörte Hermine eines der Mädchen rufen. Als sie kurz darauf hereingestürzt kamen und Hermine und die gesprengte Tür sahen, wurden sie leichenblass. «Aber, w-wie-», stammelte die jüngere Schwester.» «Rennt», flüsterte Hermine gefährlich. «Na los.» Ohne auch nur ein Wort zu sagen, rannten die Mädchen davon.
«SPRENGSTOFF?!», donnerte Mr. Granger. Er ging im Büro des Schulleiters auf und ab, während eine verängstigte Hermine tief im Sessel sass, neben ihr Mrs. Granger, die die Stirn besorgt in Falten gezogen hatte. Der Schulleiter, welcher hinter einem grossen, säuberlich aufgeräumten Holztisch aus Eiche sass, wischte sich den Schweiss von der Stirn. «Sie können doch nicht ernsthaft glauben, meine ACHTJÄHRIGE Tochter bringt Sprengstoff mit zur Schule?! Von wo hätte sie den denn haben sollen? Das ist ja lächerlich!» Der Schulleiter räusperte sich. «Nun ja, Mr. Granger, ich verstehe ja ihre Aufregung aber – Sie müssen auch Verständnis für uns haben, wir müssen das Ganze aufklären, und Sprengstoff scheint uns die einzige Möglichkeit zu sein, die Tür derart zu – beschädigen.» Er holte tief Luft und fuhr fort: «Obwohl wir keine Rückstände von Sprengstoff gefunden haben, weisen die Beschädigungen laut einem Experten eindeutig auf-» «KEINE Rückstände gefunden? Solche sollten aber definitiv vorhanden sein, oder nicht?» «Nun ja, nicht, wenn man sie beseitigt hat» «Sie denken also, meine Tochter sprengt eine Tür direkt vor ihrer Nase in die Luft, beseitigt die Spuren und bekommt selbst nicht den kleinsten Kratzer davon ab? Haben Sie jeglichen Bezug zur Realität verloren?» Vor lauter Fassungslosigkeit darüber, dass man seiner perfekten Tochter eine solch ungeheurere Geschichte anhängen wollte, war Mr. Granger ganz blass geworden. «Wir hören uns das nicht weiter an, wir – wir gehen jetzt!», sagte er, packte seine Tochter am Arm und verliess, Mrs. Granger im Schlepptau, das Büro, bevor der Schulleiter überhaupt noch etwas erwidern konnte. Hermine wusste, dass dies ein Nachspiel haben würde.
«Bitte, erklär uns doch, was passiert ist», sagte Mrs. Granger und fuhr ihrer Tochter durch die buschigen Haare. Sie und Hermine sassen am Küchentisch, während Mr. Granger erneut auf und ab ging und sich ein Reim auf die ganze Sache zu machen versuchte. «Ich weiss es nicht», piepste Hermine kleinlaut, «ich wollte einfach, dass die Tür aufging, und da war dieser Knall…» «Das waren die anderen Kinder, nicht wahr?», knurrte Mr. Granger, seufzte dann und liess sich auf einen Stuhl fallen. «Hermine, Kleine, du musst keine Angst haben, uns zu sagen, was passiert ist. Wir werden schon dafür sorgen, dass sie dir nichts antun.» «Das mit der Tür waren sie nicht», beteuerte Hermine. «Ja, sie haben mich eingesperrt, aber sie haben die Tür nicht gesprengt.» Sie dachte an die erschrockenen Gesichter der Mädchen. «Das war ich.» «Und wie?», fragte Mrs. Granger nach. «Mit meinen Gedanken», versuchte Hermine zu erklären und war sich dabei wohl bewusst, wie unglaubhaft dies klang. Mr. Granger seufzte frustriert. «Du bist durcheinander, Kleines. Bitte geh ins Bett, es ist schon spät.» Obwohl erst acht Uhr abends war, beschwerte Hermine sich nicht und ging nach oben. Sie konnte ihre Eltern hören, wie sie sich flüsternd unterhielten.
Es war bereits 01.00 Uhr früh, doch Hermine konnte nicht schlafen. Ihr geisterten die Bilder vom gestrigen Schultag im Kopf umher. Wenn Hermine eines hasste, dann war es, keine logische Erklärung für etwas zu finden. Bereits mit ihren acht Jahren glaubte sie weder an den Weihnachtsmann, noch an den Osterhasen oder sonstigen Unsinn. Bei den Grangers gab es nur eines: Naturwissenschaftliche Logik. Und das, was heute passiert war, entzog sich dieser leider komplett. Da sie wusste, sie würde nicht schlafen können, bis sie der Sache auf den Grund gegangen war, schlich sie sich leise in die Bibliothek ihrer Eltern. Sie umfasste hunderte von Büchern. Die meisten waren medizinische Sachbücher, doch es gab auch Shakespeare, Goethe und Krimis wie Sherlock Holmes und Agatha Christie. Hermine durchstöberte Reihe um Reihe, auf der Suche nach etwas, das brauchbar für ihr Problem war. Mindestens eine Stunde stand sie da, musste sich aber schliesslich eingestehen, dass es nichts brachte: Es gab in der Bibliothek ihrer Eltern nichts, was erklären würde, wieso die Tür in die Luft gesprengt wurde ohne jegliche äusseren Faktoren. Enttäuscht schlich Hermine zurück in ihr Zimmer und mit dem Gedanken, am nächsten Tag in die Zentralbibliothek zu gehen, schlief sie schliesslich unruhig ein.
Als Hermine am darauffolgenden Morgen in die Küche trat, sah sie ihre Eltern stirnrunzelnd über einen Brief gebeugt, während die Haushälterin Maria bereits Spiegeleier mit Speck und Toast zubereitete. Mr. Granger, der Hermine aus dem Augenwinkel heraus erblickt hatte, erstarrte kurz, faltete den Brief und legte ihn zurück in den Umschlag. «Wir sind spät dran, Schatz», meinte er zu seiner Frau gewandt. Hermine blickte auf die Uhr. Tatsächlich fuhren die beiden normalerweise bereits zehn Minuten früher los, Hermine bekam sie morgens selten, und wenn dann nur kurz zu Gesicht. «Was steht in dem Brief?», fragte Hermine neugierig. «Ach nur ein Patient, der mit seiner Behandlung offenbar nicht zufrieden ist», sagte ihre Mutter mit einer wegwerfenden Handbewegung. «Wieso ruft der Patient denn nicht einfach in der Klinik an?» Ausserdem ging die Post von Patienten auch direkt in die Klinik. «Das macht doch überhaupt keinen Sinn?» «Ja, wer weiss, was der sich gedacht hat», knurrte Mr. Granger und legte den Brief in das oberste Küchenfach, an das Hermine nicht so einfach drankam. Dann verabschiedeten sie sich, küssten Hermine auf die Stirn und waren auch schon verschwunden. «Komisch», dachte Hermine und betrachtete nachdenklich das oberste Küchenfach. Maria brutzelte frischfröhlich vor sich hin, als Hermine auch schon einen Plan fasste. Sie ass ihr Frühstück und als sie bald darauf ihre Schultheke nach oben holen ging, stiess sie scheinbar zufällig eine rote, kitschig verzierte Vase, die auf dem Fenstersims stand, um. «Oh, nein!», schrie sie laut, laut genug, damit sie Maria hören konnte. Diese kam sogleich heraufgestürmt. «Hermine, pass doch auf!», rief sie, als sie die Scherben sah. «Deine Eltern werden nicht erfreut sein!» Das bezweifelte Hermine sehr. Die Vase war ein Geschenk von ihrer Tante Helene gewesen und stand nur da aus Höflichkeit. Hermine wusste, dass ihre Eltern beide nicht viel für sie übrig gehabt hatten. «T-Tut mir wirklich leid!», sagte sie gespielt schuldbewusst, «ich hole gleich den Besen!» Sie rannte wieder nach unten in die Küche, schob einen Stuhl vor das Küchenfach, in welchem der Brief lag, und steckte ihn sich schnell unter die Bluse. «Hermine, was treibst du denn?», hörte sie Maria schon rufen, stellte schnell den Stuhl zurück, schnappte sich den Besen, der sich in der Kammer hinter der Küche befand und rannte hinauf. «Ich mach das schon!», scheuchte Maria sie und schnappte sich den Besen. «Los jetzt, ab in die Schule!» Hermine gehorchte, doch sobald sie um die Ecke des Quartiers verschwunden war, holte sie den Brief wieder hervor. Kein Absender stand drauf, nur den Namen ihrer Eltern und die Adresse. Ebenso war keine Briefmarke draufgeklebt. Mit zitternden Händen öffnete Hermine den Brief.
Sehr geehrte Mr. und Mrs. Granger
Wir haben uns um das Problem mit der Toilettenkabinentür gekümmert. Sehen Sie die Angelegenheit als erledigt an. Wir werden Ihnen heute in Ihrer Zahnarztklinik einen Besuch abstatten.
Keine Unterschrift. Hermine stand eine Weile nur da, las den Brief wieder und wieder. Sehen Sie die Angelegenheit als erledigt an. Sie biss sich auf die Unterlippe. Was hätte sie darum gegeben, zu wissen, wer den Brief geschrieben hat. Die Schule konnte es nicht gewesen sein, sie hätte den Brief samt Briefmarke geschickt und bestimmt unterschrieben. Plötzlich wurde Hermine bewusst, dass sie zu spät kommen würde, wenn sie noch weiter trödelte. Sie steckte den Brief in ihre Theke und rannte zur Schule.
Was immer sie erwartet hatte, das nicht. Normalerweise wäre die Sache mit der gesprengten Tür wochenlang das Gesprächsthema Nummer 1 gewesen, doch schien es keinen zu interessieren. Im Gegenteil: Niemand erwähnte die Angelegenheit gegenüber Hermine auch nur. Selbst die beiden Mädchen, welche Hermine eingesperrt hatten, behandelten sie nicht übler als sonst. Hermine beschloss, dass dies ihr nur recht sein konnte und verlor so auch kein Wort darüber. Doch insgeheim wunderte sie sich schon ein bisschen…
Direkt nach der Schule eilte sie, wie sie es sich vorgenommen hatte, in die Zentralbibliothek. Es würde nicht auffallen, wenn sie Bücher nach Hause schleppen würde, das wusste sie. Seit sie einigermassen lesen konnte, hielt sich Hermine mehrmals pro Woche in der Bibliothek auf. Sie fühlte sich schon längst an, wie ein zweites Zuhause. Hermine beschloss, zuerst die Sachbücher über Physik und Chemie durchzublättern, in der verzweifelten Hoffnung, doch noch eine logische Erklärung für die gesprengte Tür zu finden. Sie verstand noch nicht wirklich viel über Physik, musste sich aber bald eingestehen, dass sie wohl nicht fündig werden würde. Mit klopfendem Herzen ging sie über zu der Abteilung mit der Aufschrift «Transzendentales und Religion». Hier war sie noch nie gewesen, da ihre Eltern alles, was mit Übersinnlichem zu tun hatte, für reinen Unfug hielten.
Als sie die Bibliothek verliess hielt sie drei Bücher in den Händen. Die Überschriften hiessen «Telepathie – die Macht, Gegenstände mit den Gedanken zu steuern», «Unerklärbares in der Weltgeschichte» und «Hexenverbrennung im Mittelalter», ein Buch, welches sie in der historischen Abteilung gefunden hatte.
Zuhause angekommen, schloss sie sich sogleich in ihr Zimmer ein und fing damit an «Telepathie – die Macht, Gegenstände mit den Gedanken zu steuern» zu überfliegen. Zu ihrer Enttäuschung wurden nur spektakuläre Ereignisse mit wenigen Zeugen und keinen wissenschaftlichen Belegen erläutert. Unter anderem soll ein Mann gesichtet haben, wie ein anderer Mann in einem geheimen Labor Dinge umherschweben liess. Begierig darauf, trotzdem etwas zu finden, was ihr helfen würde, vergass Hermine völlig die Zeit. Erst als sie die schwere Haustüre knarren hörte, wurde ihr klar, dass sich der Brief noch immer in ihrer Schultheke befand. Erschrocken steckte sie ihn zurück in ihre Bluse und rannte nach unten, doch ihre Eltern standen bereits im Flur. «Hallo, Hermine», rief ihr Vater strahlend, nahm seine Tochter in die Arme und schwang sie in der Luft herum. «Hattest du einen schönen Tag?» Hermine war verwirrt. Woher plötzlich die allzu gute Laune? «Jaah», sagte sie zögernd. «Und ihr?» Sie konnte ja schlecht danach fragen, ob sie denn Besuch in der Klinik bekommen hatten. «Unser Tag war ganz wunderbar. Wir hatten einen süssen Dreijährigen, der eine Zahnfüllung benötigte, ich sage dir, so blaue Augen hast du noch nie gesehen!», meinte ihre Mutter und lächelte. Hermine schwieg. Sicherlich würde bald eine Bemerkung zur gesprengten Tür fallen? Doch nichts kam. «Gibt es gar keinen Ärger?», fragte sie behutsam. «Ärger? Wieso denn? Wegen der Vase? Maria hat uns schon angerufen», erklärte er, als er Hermines verwirrten Blick sah. «Mach dir keine Sorgen, die Vase war sowieso schrecklich. Gottseidank sind wir das Ding los», lachte ihre Mutter. «Und der Brief?», fragte Hermine. «Was ist jetzt mit diesem unzufriedenen Patienten?» «Welcher unzufriedene Patient? Heute waren alle glücklich. Ja, man könnte sogar sagen, heute waren wir in Topform!» Mr. Granger hob seine Hand und Mrs. Granger schlug ein. «Aber was ist denn jetzt mit der gesprengten Tür?», fragte Hermine, nun sehr verärgert. Das Verhalten ihrer Eltern war doch nicht normal! «Was für eine Tür?», fragte ihr Vater verwundert. «Die, die ich gestern in die Luft gesprengt habe!», rief Hermine aus und war geschockt, als ihre Eltern begannen, laut loszuprusten. «Du? Eine Tür in die Luft gesprengt? Hahaha, ein guter Witz!» «Das ist kein Witz!», keifte Hermine nun, mit geröteten Wangen. «Wahrscheinlich hast du das nur geträumt, Liebling», meinte ihre Mutter besänftigend. «Weisst du, ich habe mal geträumt, wir hätten einen Hund, und habe den ganzen Morgen nach Hundefutter gesucht, weil der Traum so real war.» Sprachlos stand Hermine da. Ein Traum? «Geh dir die Hände waschen, Liebling, gleich gibt's Nachtessen. Riechst du, Maria hat Spaghetti Bolognese gemacht. Lecker!»
Nach dem Nachtessen ging Hermine nachdenklich in ihr Zimmer. Ein Traum? Das konnte doch nicht ernsthaft ein Traum gewesen sein? Hermine konnte den Brief unter ihrer Bluse spüren und zog ihn heraus. Nein, ein Traum war das nicht gewesen. Aber was dann? Was auch immer es war, Hermine schwor sich, dieser Sache auf den Grund zu gehen.
