E-Mail vom Weihnachtsmann

Oder: es muss so was wie Fügung geben!

1.

‚Puuuh, was für ein schreckliches Wetter!" Tim schüttelte sich, betrat das Postamt und hängte seine pudelnasse Jacke an die Gardarobe. „Ach komm Timmi! Aufregen bringt doch eh nix. Das Wetter muss man nehmen wie es ist." Tim hielt in seiner Bewegung inne und ein breites Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht. „Hey Rokko!", rief er erfreut aus. „Du bist also auch dieses Jahr wieder dabei." Er war auf Rokko zugegangen, der an einem Schreibtisch über einem Riesenstapel Briefe saß. „Na klar, was hast denn du gedacht!" Die beiden Männer begrüßten sich mit einem herzlichen Handschlag. „Hätte ja sein können, du hast doch deinen Deckel gefunden und hast vor lauter Verliebtheit was besseres zu tun!" Rokko lachte. „Ach Timmi, das hab ich doch schon lange aufgegeben!" „Aufgegeben?", Tim musterte Rokko mit einem verschmitzten Lächeln. „Als Mandy und ich so in der Krise steckten, Warst es da nicht du, der mir gesagt hat, aufgeben nimmer?" Rokko seufzte. „Ja, das könnte wohl ich gewesen sein.", entgegnete er. „Aber das heißt ja nicht, unrealistische Träume nicht beiseite legen zu dürfen!" „Ach Rokko! Wart nur ab, bei dir klappt das auch noch!" Tim Hatte sich inzwischen an einem anderen Schreibtisch niedergelassen. Auch darauf lag ein Stapel Briefe und er öffnete nun den ersten. Eine Weile lang arbeitete jeder der beiden für sich und im Raum herrschte konzentriertes Schweigen.

„Meine Güte!", unterbrach Rokko auf einmal die Stille und runzelte die Stirn. „Was die Kiddis heutzutage so für unverfrorene Wünsche äußern! Die müsste man alle mal für ein halbes Jahr nach Afrika schicken!" „Da hast du allerdings Recht!", pflichtete ihm Tim bei. „Ich hab hier grad den Wunsch für einen Umzug nach Paris, weil da Euro-Disney liegt!" „Oh je! Da bin ich ja noch harmlos, Hier will jemand lediglich eine ganze Etage als Kinderzimmer, damit er sich ein Legoland aufbauen kann.", gab Rokko ironisch zurück. Tim lachte. „Hm, das hätte ich mir wohl auch gewünscht, allerdings für meine Modelleisenbahn!" „Klar, dass du natürlich wieder Verständnis hast!", Rokko sagte das in so bitterernstem vorwurfsvollem Ton, dass Tim nicht anders konnte, als laut loszuprusten. „Ach Rokko, es ist doch jedes Jahr das Gleiche!" Rokko schmunzelte. „Mensch, seit 5 Jahren machen wir das jetzt schon!"

Bei diesen Worten erinnerte sich Rokko in lebhaften Bildern daran, wie Tim und er an ihrem allerersten Tag hier die Briefe sortiert hatten. Gleich, nachdem dieses ehrenamtliche Weihnachtsmannpostamt in Berlin eröffnet worden war, hatten beide dort angefangen. Rokko hatte zu dieser Zeit gerade wenig Aufträge und war nach zwei bitter gescheiterten Zweijahresbeziehungen auch sonst nicht unbedingt in bester Stimmung. Aber Selbstmitleid war noch nie seine Stärke gewesen. ‚Wenn ich schon nicht bei meinen eigenen Kindern Weihnachtsmann spielen kann, tue ich es eben für andere." Hatte er sich gedacht, als ihm die Werbeanzeige des Vereines mit dem schönen Namen „Kinderfreude e.V." ins Auge fiel.

Schon im ersten Jahr hatte es Rokko riesigen Spaß gemacht, die Briefe der Kinder an den Weihnachtsmann zu beantworten. Manchmal musste er sie von ihrem viel zu hohen Podest herunterholen und manchmal, gerade wenn kranke oder auch sonst tot unglückliche Kinder schrieben, rührte es ihn zu Tränen und entsprechend emotional und tröstlich fielen seine Antworten aus. Auch die Weihnachtsmannrunde am heiligen Abend hatte ihm sehr viel Freude bereitet. Da er eh keine große Lust hatte, die Zeit bei seinen sehr konservativen Eltern in Pinneberg zu verbringen und sich wieder ihren Unmut über seinen Lebenswandel anzuhören, war er Joanas Bitte, den Arbeitsamtsweihnachtsmännern unter die Arme zu greifen, nur all zu gerne nachgekommen. Besonders lebhaft erinnerte er sich zum Beispiel an diesen kleinen frechen Knirps, der ihn mit allen möglichen Namen seiner Verwandten anzusprechen versuchte. Nach Rokkos Auftritt glaubte der mit Sicherheit wieder an den Weihnachtsmann.

Im Nächsten Jahr hatte er dann extra einen Auftrag in den Januar verschoben, um seinen Urlaub dem Weihnachtsmannjob zu widmen. Reisen konnte er beruflich genug und Rokko war ein guter Zeitmanager, sodass er es sich auch nicht entgehen ließ, sich bei diesen Gelegenheiten sowohl etwas zu erholen, als auch Wissen über Land und Leute zu sammeln. Deshalb war der Weihnachtsmannjob eindeutig die Kontrastreichere Abwechslung für den Urlaub. Tim war auch wieder dabei, was Rokko ausgesprochen freute. Er mochte den kleinen drahtigen Mann mit der feuerroten Lockenpracht und den unauslöschlichen Sommersprossen. Wenn der als Weihnachtsmann auftreten würde, hätte er wohl kaum Chancen, den Respekt der Kids zu erwerben. „Nee nee! Das lass ich lieber!", hatte er zu Joana gesagt, als sie auch ihn für die Runde am 24 Dezember werben wollte. „Erstens hätte da Mandy mit Sicherheit was dagegen, und außerdem würden mich die Kinder höchstens auslachen. Ich bleibe lieber ohne Gesicht hinter meinen Worten versteckt!"

Als sie sich dann im dritten Jahr wieder auf dem Postamt trafen, war jedem der zwei Männer absolut klar, dass das hier für sie beide längst eine liebgewonnene Tradition geworden war. Und so saßen sie nun schon das fünfte mal ab dem ersten November in diesem Postamt, um den Kindern ihre Briefe zu beantworten.