Hallo ihr Lieben,
die Grundidee für diese Geschichte stammt ursprünglich von meiner Ex-Freundin und ich war der Meinung, dass es nun Zeit ist, es aufzuschreiben. Die Handlung basiert hauptsächlich auf der Version von Susan Kay, wer das nicht mag, brauch gar nicht erst weiter zulesen. Ich beginne zu dem Zeitpunkt, an dem Erik noch nicht in Nischni Nowgorod angekommen ist und noch nicht auf Nadir getroffen ist.
Viel Spaß!
Und auch wenn ich es wünschte, nichts aus PdO gehört mir.
Kinder dieser Erde - Prolog
Kein Mond, keine Sterne waren am Himmel zu sehen. Eine dicke, undurchdringliche Schicht aus schwarz-grauen Regenwolken sorgte dafür, dass kein natürliches Licht die Nacht erhellte und der dichte Regen, der seit über einer Woche bereits den schwammigen Lehmboden aufweichte, machte jede Hoffnung auf ein wärmendes Feuer zu Nichte. Der zähe Schlamm, der zu besseren Zeiten eine Wiese gewesen war, gab bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch von sich.
Es klang fast so, als wolle er sich darüber beschweren, dass die in dicke Decken und Umhänge gehüllte Gestalt über ihn hinweg ging. Der, oder die Fremde, der vorerst nur als „Die Gestalt" bezeichnet werden wird, schlich sich in der Finsternis dieser Nacht sicheren Fußes über den durchweichten Lagerplatz der Schausteller. Die dicke Schicht aus Decken hatte sich bereits nach weinigen Schritten unter freiem Himmel mit dem Regen voll gesogen, der im Sommer in dieser Region Russlands typisch war, was dazu führte, dass die Gestalt wegen des Gewichts eine gebeugte Haltung einnahm, die es dem Betrachter unmöglich machte einzuschätzen, was sich unter der Verhüllung verbarg.
Handelte es ich um ein altes Zigeunerweib? Einen jungen Mann? Oder ein Bauernmädchen, das sich heimlich davongeschlichen hatte? Niemand vermochte dies zu sagen.
Mal davon abgesehen, dass es sowieso sehr ungewöhnlich war, sich bei diesem Wetter mitten in der Nacht draußen herum zu treiben, war noch etwas echt seltsam. Die Gestalt bewegte sich zwar gebeugt, jedoch schritt sie leichten Fußes, anscheinend unbeschwert und glücklich durch den bitterkalten Regen.
Ihr Ziel waren die provisorischen Tierstallungen der Zigeuner, wo sie zwei kleine Pferde losband. Es waren zwei kleine, weiße Stuten, die gehorsam ihrem Besitzer folgten, der sie zu einem nahe stehenden Planwagen führte und sie davor spannte. Das bescheidene Licht der Laterne, die am Wagen befestigt war, ließ den Schluss zu, dass die Gestalt allein reiste, denn der Karren maß kaum zwei Meter Länge und konnte höchstens Platz für eine Person bieten. Der Lichtschein ließ wage das Wort „Mondenkind" erkennen, dass in weißen Buchstaben, auf Französisch auf der blauen Plane des Wagens prangte.
Wäre ein vernünftig denkender Mensch zugegen gewesen, hätte er wohl versucht die Gestallt aufzuhalten, denn bei diesen Bedingungen war eine Weiterreise nicht gerade zu empfehlen. Die Straße, die nach Nischni Nowgorod führte, wo der Sommerjahrmarkt stattfinden sollte, war nicht mehr als ein kleiner, schlammiger Weg, gerade breit genug für ein Gespann und vom wochenlangen Regen teilweise zum Fluss geworden.
Diese Tatsache stellte auch die verhüllte Gestalt fest, als sie ihr kleines Gespann auf diese Straße lenkte. Die Gefahren missachtend setzte sie unbeirrt ihren Weg fort.
Auf ihrem Weg versanken die Räder des Planwagens einige Male so weit im Lehm, dass die beiden Tiere große Mühe hatten ihn wieder herauszuziehen, ohne selbst stecken zu bleiben. Rechts und links der Straße wurde der Weg von einigen bunten Zelten und Wagen gesäumt, deren Besitzer zweifellos ebenfalls zum Jahrmarkt unterwegs waren. Diese alljährliche Versammlung von Zigeunern, Schaustellern und anderen Halunken und Betrügern ließ man sich nicht entgehen.
Nach einer Weile ließ die Anwesenheit dieser Lebenszeichen nach und die Gestalt fuhr in völliger Einsamkeit weiter durch die Nacht. Doch nach einer weiteren Stunde kam, was schließlich kommen musste. In einem weiteren Schlammloch blieben die Räder stecken und auch mit den Bemühungen der Pferde bewegten sie sich keinen Millimeter vor oder zurück.
Mit einem Ausruf, den nur Schausteller und dergleichen überhaupt in den Mund nehmen würden, holte die Gestalt zwei Holzbretter aus dem Inneren des Wagens und legte die auf den Schlamm, bevor die vom Wagen herunter sprang. Dank des Holzes schaffte die Gestalt es, die Pferde vom Wagen loszumachen und sie an den Rand zu führen, wo der Boden weniger aufgeweicht war, ohne in der braunen Masse zu versinken.
Nun gab es zwei Möglichkeiten. Man könnte zurücklaufen, um bei den Zelten nach Hilfe zu fragen, die schon über eine Stunde Wagenfahrt zurücklagen, oder man könnte der Straße weiter folgen, in der Hoffnung bald auf Leben zu treffen. Auf Hilfe war die Gestalt so oder so angewiesen, denn sie hatte sicherlich nicht vor alle Habseligkeiten, die sich über die Jahre hinweg angesammelt hatten einfach zurück zulassen. Der kleine Planwagen stellte ihre gesamten Besitztümer und gleichzeitig ihr zu Hause dar.
Die Gestalt kämpfte sich also durch Schlamm und Regen, die beiden Tiere immer dich hinter sich. Die dunklen, grauen Umhänge und Decken, die unter anderem eigentlich die Nässe fern halten sollten, wurden immer schwerer vor Wasser und nahmen eine braune Färbung an.
Die gestallt wusste nicht, wie lange sie schon diesem Weg gefolgt war, sie wusste nur, dass ihr allmählich Nässe und Kälte in die Knochen zogen, begleitet von einer unbekannten Müdigkeit, mit der sie noch nie zu kämpfen gehabt hatte. Mit jedem erreichten Meter wurden die Schritte mühseliger und zu allem Überfluss schien es, als ob bald der Morgen dämmern würde. Sie war der Verzweiflung so nahe, wie schon seit Jahren nicht mehr.
An einem Punkt der totalen Erschöpfung angelangt, geschah etwas, was der Gestalt neue Hoffnung gab. Aus der Ferne drang eine sonderbare Melodie an ihr Ohr, gesungen von einer klaren Männerstimme von solcher Präsens, dass sie die Geräuschkulisse des Regens fast gänzlich in den Hintergrund treten ließ.
Der sanfte Klang des Liedes hatte eine erfrischende Wirkung auf die Gestalt, doch zugleich wirkte es auch auf eine beunruhigende Weise anziehend, lockend.
Ohne lange nachzudenken folgte die Gestalt dieser fesselnden Engelsstimme, wie in Trance versetzt, fast unbewusst. Nach wenigen Minuten endete die Verzauberung und die Gestallt fand sich vor einem großen, runden Zelt stehend vor. Der Gesang war verklungen und hinterließ das leise Verlangen nach mehr.
Mit einem Male war sich die Gestalt wieder ihrer Erschöpfung, der beißenden Kälte und der Nässe bewusst und machte sich daran den Eingang, der aus Bastmatten bestand, zu öffnen und in das Innere des Zeltes zu schleichen.
Sie betrat den Raum und wurde von schwarzen und roten Farben begrüßt, die den Raum dominierten. In der Mitte befand sich eine Konstruktion aus Eisen, worin ein kleines Feuer brannte, das den Raum angenehm wärmte. Unter der Zeltdecke hingen verschiedene bunte Glaslaternen, deren Licht angenehm dunkel war und die Person, die auf der gegenüber liegenden Seite auf einem Haufen großer Kissen saß, in ein mystisches Licht tauchte. Die Person, zweifellos ein Mann, vielleicht noch in jüngeren Jahren, saß aufrecht, mit einem Buch in der Hand da und musterte die Gestalt, die in sein Reich eingedrungen war.
Er war ganz in Schwarz gekleidet und machte nicht den Eindruck eines armen Zigeuners. Seine schulterlangen, schwarzen Haare fielen ihm widerspenstig ins Gesicht, verdeckten aber nicht ganz die Maske, die hell weiß auf der linken Seite seines Gesichts auffiel. Mit einer Mischung aus Neugierde und Feindseligkeit sah er zu der Gestalt auf.
„Es ist äußerst unhöflich ungefragt in die Räumlichkeiten anderer Leute einzudringen. Was wollen sie?", fragte dieser Mann mit der selben Engelsstimme, die zuvor mit ihrem Gesang lockte.
Doch dieses Mal schwang etwas mit, was man nur als Bedrohung auffassen konnte. Die Gestallt, die immer noch am Eingang stand, fühlte sich für einige endlose Minuten vollkommen unfähig überhaupt irgendetwas zu sagen.
