~ Mayonaka Hitori ~
Mit einem Seufzer trete ich in den Flur.
Langsam und auf Zehenspitzen schleiche ich mich die Treppe hinunter, immer darauf bedacht, nicht das kleinste Geräusch zu verursachen.
Ich halte kurz inne um zu lauschen, ob sich oben etwas tut, doch Seiya und Taiki scheinen schon fest zu schlafen. Ein Glück; das letzte, was ich jetzt noch gebrauchen kann, sind ihre besorgten Blicke, wenn sie erfahren, das ich schon wieder nicht schlafen kann... sicherlich die zehnte Nacht in Folge.
Nicht, dass ich nicht müde wäre; wir haben wirklich genug zu tun, unsere Tage sind mit Schule, lernen, Proben, Konzerten, Kämpfen, Interviews und tausend anderen Sachen mehr als genug ausgefüllt. In der Schule fällt es mir auch zunehmend schwerer, die Augen offen zu halten und erst gestern bin ich im Tonstudio im Sitzen eingeschlafen.
Nachts aber gibt es zu vieles, dass mich wach hält oder mich höchstens für zwei, drei Stunden in einen leichten und nicht wirklich erholsamen Schlaf sinken lässt.
So wie heute wieder.
Ich schiebe mich vorsichtig durch den Spalt der Küchentür; so muss ich sie nicht aufmachen, sie knarrt immer so laut.
Mein Blick fällt auf die Uhr. Fast zwölf. Gerade zwei Stunden Schlaf waren mir also heute vergönnt worden und das auch nur, weil ich heute ausnahmsweise früh ins Bett gekommen bin, unser letzter Termin heute war am Spätnachmittag gewesen und es war seit langem der erste Abend, den wir frei hatten.
Die Möglichkeit, wieder einschlafen zu können brauche ich aber gar nicht erst in Betracht zu ziehen, die verbleibende Zeit bis zum Morgen werde ich irgendwie totschlagen müssen.
Langsam nehme ich die Kaffeekanne, fülle sie fast ganz mit Wasser und gieße das dann in die Kaffeemaschine. Ich lege einen Filter ein und angele ohne hinzusehen die Kaffeedose vom Regal, öffne sie, fische den Kaffeelöffel heraus und schaufele Kaffee in den Filter, sicherlich doppelt so viel, wie gesund ist. Die Kanne wieder darunter gestellt und ein kurzer Druck auf den Kippschalter der Kaffeemaschine, schon beginnt sie mit leisem Zischen mit der Zubereitung des Getränks.
Nachdem ich das verschüttete Kaffeepulver wieder hineingefüllt habe, stelle ich die Dose zurück an ihren Platz und trete zur Balkontür um mir die Sterne anzusehen; das tue ich in letzter Zeit noch öfter als gewöhnlich. Ich finde es hat etwas Beruhigendes, fast schon eine Art Meditation.
Allerdings ist es hier drinnen zu hell, im Fensterglas spiegelt sich nur mein eigenes, müdes Abbild.
Kurze Zeit starre ich mein Spiegelbild an; die zerwühlten Haare, die mir ungekämmt über die Schultern fallen, unter dem offenen Bademantel hervorlugend das zerknitterte T-Shirt und die Boxershorts, die nur erahnen lassen, was sich darunter verbirgt. Der Körper eines Mannes; oder eines Jungen, meinetwegen.
Letztendlich bleibt es gleich - gleich fremd.
Ich öffne die Balkontür. Der plötzliche Lufthauch lässt mich frösteln, trotzdem trete ich auf den geräumigen Balkon. Über mir funkeln die Sterne. Immer noch erschrecke ich mich leicht und muss mir erst wieder ins Gedächtnis rufen, dass der Sternenhimmel über der Erde anders aussieht, als von Kinmoku aus betrachtet.
Kinmoku. Der Planet, der meine Heimat ist. Oder war. Ich weiss ja nicht mal, ob dort überhaupt noch Leben existiert, oder ob Galaxia alles bis zum Letzten ausgelöscht hat.
Kinmoku. Der Planet, dessen Prinzessin wir so verzweifelt suchen.
Ich vermisse Kakyuu, gerade jetzt, in diesem Moment. Ich erinnere mich, wie sie und ich auf Kinmoku oft da gesessen und die Sterne angeschaut haben. In aller Stille, ohne viele Worte zu verlieren. Das zum Beispiel ging mit Seiya oder Taiki nicht. Taiki musste in einem fort über die chemische Zusammensetzung von diesem oder jenem Stern referieren und Seiya war meist einfach zu hibbelig um längere Zeit still sitzen zu können.
Ich lächele leicht, bei dem Gedanken an die vielen Abende, die wir zu viert auf dem Hügel hinter dem Palast verbracht hatten. Meist war ich die erste, die sich dort hinsetzte aber es dauerte eigentlich nie lange, bis Kakyuu auch auftauchte und sich rücklings ins Gras legte, um in den Himmel zu starren.
Fast immer kam dann nach einiger Zeit auch Taiki den kleinen Hügel hinauf, ausser Atem, weil sie mindestens zwei dicke Wälzer mit sich herumschleppte. Bis es dämmerte war es dennoch still, Taiki las und machte sich Notizen und Kakyuu und ich beobachteten den Abendhimmel, wo sich mit der Zeit immer mehr Sterne zeigten.
Schließlich war es dann so dunkel, dass Taiki beim besten Willen nichts mehr in ihren Büchern sehen konnte, und mit in den Himmel starrte. Lange dauerte es nie, bis sie dann mit dem Finger auf einen Punkt am Himmel deutete und begeistert anfing zu erzählen: "Kakyuu, Yaten ! Seht ihr den? Der ist ziemlich hell, aber trotzdem viel weiter entfernt, als man vermuten würde. Ungefähr...." Mit der Zeit haben wir ein beachtliches Geschick erwickelt, sie reden zu lassen und nur gelegentlich ein erstauntes "Ach!" oder "Nein, das ist ja unglaublich!" einfließen zu lassen.
Irgendwann, wenn es so dunkel war, dass die Sterne oben in ihrer ganzen Pracht strahlten, kam dann gewöhnlich auch Seiya noch zu uns, auch ausser Atem, denn abends hielt sie normalerweise ihr privates Kampftraining ab (zusätzlich zu unserem gemeinsamen Training am Vormittag, versteht sich). Von da an war es mit der Ruhe dann endgültig vorbei, aufgedreht vom Training wie Seiya war. Es fing dann ganz harmlos an, indem sie Taiki die unmöglichsten Fragen über irgendetwas stellte und diese so vollkommen aus dem Konzept für ihre Sternenvorträge brachte. Während Taiki dann noch nach ihrem roten Faden suchte, war Seiya immer schon dabei mich oder Kakyuu zu ärgern oder, über Taiki lachend, von ihrem Training oder sonst etwas "furchtbar wichtigem" zu erzählen.
Diese Nächte endeten meist damit, dass wir alle vier lachend im Gras lagen, ja, einmal waren wir sogar alle da draußen eingeschlafen und morgens um fünf von einem heftigen Regenschauer überrascht worden. Schöne Zeiten waren das, von denen jetzt nur noch Erinnerungen übrig sind.
Ich zittere jetzt am ganzen Körper, nicht nur, weil es so kalt ist. Tränen, die sich merkwürdig warm anfühlen, laufen mir über die Wangen. Ich lege den Kopf in den Nacken, sehe die Sterne und langsam hört der Fluss der Tränen auf. Das ging mir schon immer so, ich weine oft, ohne dass ich es eigentlich merke.
Auch jetzt, als Mann. Gerade als Mann.
Dieser Körper ist mir fremd, es ist, als steckte ich in eine Hülle, einem Kostüm, das ich nicht ausziehen darf.
Manchmal glaube ich, das ist das Schlimmste. Selbst in Momenten, wo wir nicht kämpfen müssen, keine Konzerte geben, sondern einfach versuchen "normal" (was ist das schon ?) für uns hinzuleben, werde ich durch dieses unbehagliche Gefühl nicht vollständig ich selbst zu sein, an all das Unglück, unseren Planeten und unsere Prinzessin erinnert.
Auch Taiki und Seiya wirken auf mich dann manchmal fremd, nicht wie die beiden Freundinnen, die ich seit Jahren kenne und die ich wie Schwestern liebe. Ihre Stimmen, ihre Körper, sogar ihr Verhalten sind teilweise so anders, dass es mir Angst macht.
Nervös gehe ich ein paar Schritte auf und ab, die Arme um mich zu wärmen, um den Oberkörper geschlungen. Ich weiss, dass ich so etwas nicht wagen sollte zu denken, aber.... Was, wenn wir unsere Prinzessin nicht finden ? Was, wenn wir für immer auf der Erde, so weit weg von unserem Zuhause bleiben müssen ? Was, wenn wir gezwungen wären, auf ewig so weiterzuleben wie jetzt ?
Ich schlucke und vergrabe meine Hände in den Taschen des Bademantels. Rechts trifft meine Hand auf etwas zunächst hartes, metallenes. Ich taste weiter und erfühle noch etwas weiches, flauschiges.
Die Berührung reicht aus, um in meiner rechten Hand ein unglaublich schönes, kalt prickelndes und zugleich auch heißes Gefühl hervorzurufen. Ich umschließe das Ganze fest mit meinen Fingern, ziehe es aus der Tasche und starre es an, als sähe ich es zum ersten Mal. Ein schneller Blick, ob ich irgendwelche unerwünschten Zuschauer habe, was, wie um halb ein Uhr früh erwartet, nicht der Fall ist.
Ich brauche nicht laut zu rufen; wir tun es normalerweise , weil es einem das Gefühl von Kraft und Stärke gibt, wie Seiya einmal den entrüsteten Palastbewohnern erklärt hatte, als wir uns mitten in der Nacht unüberhörbar zum Trainieren verwandelt hatten.
Jetzt ist die Nacht zu still und friedlich, als dass ich sie durch laute Stimmen kaputt machen wollte. Den glitzernden Gegenstand in meiner Hand anblickend flüstere ich die Worte in den Nachthimmel: "Healer Star Power, make up !"
Das Gefühl der Verwandlung, die Stärke, Macht, Zuversicht und Wärme, die einen dabei durchfließen und bis in jede Faser des Körpers vordringen, sind jedes Mal aufs Neue überwältigend und unbeschreiblich.
Zufrieden ausatmend stehe dann da, auf dem Balkon unseres Appartements, verwandelt unter den Sternen, die mir mit einem Mal glänzender vorkommen als noch vor einer Minute. Ich schaue erneut an mir herunter, aber statt des kantigen, fremden Körpers erblicke ich meine vertraute Uniform, die sich wie eine zweite Haut an meinen vertrauten Körper schmiegt.
Gerade so, wie es ist, fühlt es sich richtig an und ich meine fast, befreiter atmen zu können. Ich trete an die Balkonbrüstung, lehne mich darüber und schaue auf die stille, nur von vereinzelten Laternen beleuchtete Strasse. Lange stehe ich einfach nur da, die Hände auf das Geländer gestützt, den Blick auf irgend etwas nicht vorhandenes unten auf der Strasse gerichtet.
Mit der Zeit werde ich ruhig und fühle mich fast entspannt.
Sicher, ich kann nur kurz flüchten; jetzt, das ist nur ein einziger, kostbarer Augenblick.
Trotzdem will ich glauben, dass das, was wir tun letztendlich Erfolg hat, dass es nicht umsonst ist.
Alle Kraft, die ich habe werde ich einsetzen, damit wir Kakyuu so schnell wie möglich finden... möglicherweise, damit wir uns an Galaxia rächen können. Weglaufen können wir nicht noch einmal - wohin auch ? Ich zwinge mich, den Gedanken an die vielen geraubten Sternenkristalle, zerstörten Planeten, toten Menschen zu verdrängen; irgendwo ist wahrscheinlich bei jedem Menschen die Grenze gekommen, der Punkt, wo er seine ganzen Gefühle am liebsten abstellen würde um nur nicht dieses schmerzhafte, traurige Ziehen in der Brust verspüren zu müssen.
Ich muss mich auf das konzentrieren was vor mir - vor uns - liegt, auch wenn es hart ist und so viel Kraft - nicht physisch, aber psychisch - kostet.
Ein kurzes Aufblitzen lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Ich wende den Kopf in die Richtung aus der der Lichtblitz kam und sehe den Mond der Erde. So voll und weiß steht er am Nachthimmel und es kommt mir vor als hätte er, wie um mir Kraft zu geben, sein Leuchten noch verstärkt.
Ein wenig muss ich lächeln.
Wahrscheinlich ist es besser, wenn ich wieder rein gehe, es scheint tatsächlich noch kälter geworden zu sein.
Ungern und, wie mir scheint, langsamer als gewöhnlich, verwandele ich mich zurück in mein männliches Ich und schlurfe zurück in die Küche, schließe dann die Balkontür hinter mir. Der Kaffee ist schon längst fertig.
Ich muss mich ein wenig recken, die Kaffeebecher stehen nämlich im obersten Fach des Küchenschranks. Im Kühlschrank ist keine normale Milch mehr, weswegen ich wohl oder übel Dosenmilch nehmen muss; stark wie der Kaffee vermutlich ist würde ich ihn schwarz nicht hinunterbringen.
Mit dem gefüllten Becher in der Hand ziehe ich mir einen Stuhl heran und setzte mich an den Tisch. Ich schnuppere prüfend an dem - trotz reichlich Milch - immer noch verdächtig dunklen Gebräu und trinke schließlich einen Schluck. Mit verzogenem Mund schiebe ich die Tasse weit von mir, lege meinen Kopf auf die verschränkten Arme und liege so fast halb auf dem Tisch. Halb zwei sagt mir der Blick auf die Uhr, noch einige Stunden, bis Taiki aufstehen wird; Seiya schläft immer bis zur letzten Minute.
Starr ruht mein Blick auf der Uhr, der Sekundenzeiger läuft hektisch seine Runden und lässt bei jedem Schritt ein Ticken hören. Jetzt, um diese Zeit und so allein, kommt mir dieses Geräusch viel lauter vor, als sonst; laut und eintönig....
Ich schrecke aus meinem Dämmerzustand auf, als die Küchentür knarrt und Taiki gähnend den Raum betritt. Drei nach halb sieben, pünktlich auf die Minute, das ist mein erster Gedanke.
"Morgen...", murmele ich und strecke die Arme über den Kopf, gähne. Taiki´s dunkle Augen fallen stumm und besorgt auf mich, der Blick sagt alles. Trotzdem ist er sensibel genug mich nicht darauf anzusprechen, sondern greift sich den Kaffeebecher und trinkt einen großen Schluck und würgt den Kaffee dann unter sichtlichen Anstrengungen hinunter. "Ich mach, glaub ich, mal neuen", sagt er.
Sein prüfender Blick streift mich erneut und er hält kurz inne, als wolle er etwas sagen, überlegt es sich dann aber anders und wendet sich der Kaffeemaschine zu.
Ein neuer Tag beginnt. Und ich seufze.
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Hach, was soll ich hierzu schon noch sagen? Mein "Erstling", schon uralt und unbearbeitet reposted.
Danke fürs Lesen! Mikou
