ERSTES KAPITEL: EIN UNGEWÖHNLICHER BESUCH

Ein neuer Tag begann, leuchtend erhob sich die Sonne über der Johto-Region. David Newman aus Viola City gähnte und blieb noch ein paar Minuten liegen, bevor er zu der Ansicht kam, dass es nun Zeit war, aufzustehen. Er duschte rasch und schlüpfte in seine Lieblingsklamotten, ein paar schwarze Shorts, ein rotes T-Shirt und dunkle Turnschuhe. Als er fertig angekleidet war, sprintete er die Treppe hinunter. Er war noch nicht ganz unten, als ihm ein Teddiursa und ein Haspiror entgegenkamen und ihn freudig begrüßten. David beugte sich zu ihnen hinunter und streichelte sie sanft.

„Na? Auch so gut geschlafen wie ich?" fragte David. „Sollen wir unsere tägliche Runde machen?"

Als Antwort bekam er ein zustimmendes „Teddi, Teddiursa!" und ein „Haspiror!"

„Okay, dann kommt!" sagte David. Bevor er das Haus verließ, rief er schnell in die Richtung der Küche: „James, ich gehe mit meinen Pokémon spazieren!"

„Gut", bekam er als Antwort. „Aber sei vorsichtig! Dieser Tage laufen draußen ziemlich viele wilde Pokémon herum."

„Aber die sind doch immer draußen", erwiderte David.

Davids Onkel James, ein älterer Mann mit kurzen bläulich grauen Haaren kam aus der Küche gelaufen und blickte David eine Weile an. „Sei' trotzdem vorsichtig, okay? Sie sind nämlich nicht alle freundlich, wie du immer glaubst..."

„Ich werde vorsichtig sein, ich verspreche es", sagte David und verließ das Haus gemeinsam mit Teddiursa und Haspiror.

David atmete die frische Luft tief ein und machte sich auf den Weg. Sein erstes Ziel war nicht weit entfernt. Es war das Nachbarhaus. Dort wohnte das Mädchen, das schon seit vielen Jahren mit David befreundet war. Und in der letzten Zeit häuften sich die Gerüchte, dass sie nun ein Paar waren, was beide allerdings vehement bestritten.

David drückte bei Familie Litton auf die Klingel, und es verging nicht einmal eine Sekunde, bis ein Mädchen mit langen, grünen Haaren die Tür öffnete. Sie trug ein langes weißes Kleid, so dass sie von weitem eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Guardevoir hatte.

„Whoa! Das ging aber schnell!" staunte David.

„Ich habe ja auch schon auf dich gewartet", antwortete Julia. „Kann es losgehen?"

„Von mir aus gerne", sagte David.

Julia drehte sich noch einmal kurz um und rief: „Endivie, komm!" Und wenig später kam das kleine grüne Pokémon mit dem einzelnen Blatt auf dem Kopf heraus. Und wie immer wurde David sofort von Endivie stürmisch begrüßt.

„Ja, ist ja schon gut", sagte David. Er fand es immer wieder erstaunlich, wie ein solch kleines Wesen so viel Kraft aufbringen konnte.

„Hey, Endivie, das reicht jetzt!" sagte seine Besitzerin halb scherzend und halb tadelnd. „Wenn du so weiter machst, erdrückst du ihn noch!"

„Endivie!" rief das Pokémon und kehrte an die Seite seiner Besitzerin zurück.

Julia Litton war schon immer in Blumen und Pflanzen vernarrt gewesen. Als ihre Eltern ihr endlich erlaubt hatten, Pokémon zu halten, hatte sie sich natürlich sofort dafür entschieden, Pflanzen-Pokémon zu trainieren. Und als sie dann auch noch ein Endivie von ihren Eltern geschenkt bekam, war sie sofort sprichwörtlich Feuer und Flamme gewesen.

„Wohin wollen wir?" fragte Julia, während Endivie sich an ihren Körper schmiegte.

„Lass' uns zur Route 32 gehen", sagte David.

„Einverstanden!" sagte Julia „Wie wär's, wenn wir um die Wette laufen?"

„Ich bin bereit", sagte David und setzte zum Sprint an. „Wer zuletzt da ist, ist ein lahmes Enton!"

PKMN

Sie brauchten für den Weg zu ihrem Zielort eine halbe Stunde. Natürlich war David wie immer schneller, aber er ließ Julia kurz vor dem Ziel aufholen, um dann gemeinsam die Route 32 zu betreten. Hier verlangsamten sie ihr Tempo und schlenderten eine Weile nebeneinander her.

„Ich freue mich schon riesig auf unsere Reise", sagte Julia und machte einen kleinen Hüpfer.

„Ja, so geht es mir auch", sagte David.

Er war erst vor einigen Wochen sechzehn geworden. Wenn er ehrlich war, fand er es reichlich spät, um die Pokémon-Reise zu beginnen. Der Große Ash Ketchum aus Alabastia war bereits mit elf Jahren in die große weite Welt gezogen, oder war es mit zehn? Doch James hatte fest darauf bestanden, dass David erst einmal seine Ausbildung auf der Pokémon-Schule in Viola City abschloss, bevor er fortging.

Am Anfang hatte David seinen Onkel für diese Entscheidung gehasst. Doch mittlerweile wusste er, dass er es nur gut mit ihm gemeint hat. Sollte er nämlich gegen seinen Erwartungen feststellen, dass der Job als Trainer doch nichts für ihn war, hatte er die Möglichkeit, Züchter zu werden. Das war natürlich nicht ganz uneigennützig, denn James war selbst ein bekannter Pokémon-Züchter, dessen Aufsätze über die Aufzucht von Pokémon preisgekrönt waren.

„Richard und Michael haben ihre Reisevorbereitungen gerade abgeschlossen", sagte Julia beiläufig.

„Michael soll bloß nicht den Proviant vergessen", ermahnte David. „Ich sehe es schon vor mir, wenn er und sein Pichu als erstes vor Hunger jammern."

Julia lachte laut auf. „Du hast ja so Recht!" sagte sie.

Mittlerweile waren die zwei Teenager mit ihren Pokémon am Ende des Waldweges angelangt und gingen ein Stück lang am Straßenrand. Von weitem näherte sich ein roter Sportwagen. Und ein paar Momente später fuhr es an ihnen vorbei. Am Steuer konnten die beiden Teenager eine Frau mit blonden Haaren erkennen.

„Hast du gesehen, wer das war?" fragte David, der stehen geblieben war.

„Das war doch Rachel Mc Crane", antwortete das Mädchen. „Sie ist nicht nur eine Schönheit, sondern auch Arenaleiterin von Oliviana City. Sie ist ein Vorbild für jeden Trainer, der sich auf Feuer-Pokémon spezialisieren will. Was will denn eine solche Persönlichkeit in Wurzelheim?"

„Ich weiß es nicht", antwortete David und kehrte um. „Komm, finden wir es heraus!"

PKMN

Als David und Julia wieder in Wurzelheim ankamen, sahen sie den roten Sportwagen vor dem Haus stehen. Fast im selben Moment kam die Fahrerin aus dem Haus heraus. James folgte ihr nach, und nachdem sie noch ein paar Worte miteinander gewechselt hatten, verabschiedeten sie sich voneinander. Während James wieder ins Haus ging, lief Rachel zu ihrem Wagen. Genau in dem Augenblick erblickte sie die zwei Teenager.

„Hi", begrüßte sie den Jungen. „Du musst wohl David sein."

„Ja", antwortete David zögerlich.

„Dein Onkel hat mir viel von dir erzählt", sagte die blonde Frau und wandte sich seiner Begleiterin zu. „Und du musst Julia sein. Ich bin Rachel Mc Crane."

„Ich weiß", sagte David. „Ich habe Sie schon oft im Fernsehen gesehen." Nach einer kurzen Pause fragte er: „Kennen Sie meinen Onkel schon lange?"

„Kann man wohl sagen", antwortete Rachel mit einem Lächeln. „Wir sind alte Freunde..." Es folgte wieder eine kurze Pause. „Ich muss jetzt leider wieder gehen. Es hat mich sehr gefreut. Wir werden uns bestimmt noch sehen." Mit diesen Worten stieg sie in ihren Wagen und fuhr weg.

„Wir sehen uns auch nachher, ja?" sagte Julia.

„Klar", sagte David und sah zu, wie Julia und Endivie in ihr Haus verschwanden. Dann sagte er zu seinen Pokémon: „Kommt, wir machen uns jetzt Frühstück, okay?"

David setzte sich in der Küche und löffelte eine Schüssel Cornflakes mit kalter Kuhmuh-Milch, während sich Teddiursa mit einem Glas Honig vergnügte und Haspiror einen Pokériegel bekam. Von James war nichts zu hören. Das war durchaus nicht ungewöhnlich. Wahrscheinlich hatte er sich in seine Bücherkammer zurückgezogen und arbeitete an irgendwas. Er hatte immer etwas zu tun, seitdem ein paar seiner Ratgeber zur Pokémon-Aufzucht zu Bestsellern geworden waren.

„David, kann ich kurz mit dir sprechen?" Völlig unbemerkt war James hereingekommen, so dass David unwillkürlich zusammenfuhr. „Oh entschuldige, ich habe dich erschreckt."

„Nein, ist schon gut", sagte David. „Worüber wolltest du mit mir reden?"

James setzte sich auf einen der anderen Stühle. „Du bist jetzt ein großer Junge", begann er. Seine Stimme klang fast ein wenig traurig. „Und du gehst schon bald auf die Reise deines Lebens. Genieß diese Zeit, sie kommt nie wieder."

„Das werde ich", sagte David.

„Ich hätte dich gerne auf den Weg gebracht und dich verabschiedet", fuhr James fort. „Doch ich fürchte, es ist etwas dazwischen gekommen."

„Was ist los?" fragte David, der sich plötzlich ein wenig unwohl fühlte.

„Ach, es ist nichts", beschwichtigte James. „Nur eine kleine Sache, bei der ich um Rat gefragt wurde. Deshalb werde ich heute noch abreisen müssen."

„Heute noch?"

„Ja", antwortete James. „Aber es ist keine große Sache. Es besteht kein Grund zur Sorge."

„Wohin musst du denn?"

„Vorerst nach Oliviana City. Ich wurde gebeten, mir etwas anzusehen", antwortete James. „Aber das ist nicht der einzige Ort, den ich besuchen werde. Ich mache also auch eine Reise durch die gesamte Region, genauso wie du. Mein Zug fährt in drei Stunden." Als er das gesagt hatte, stand er auf, klopfte David zweimal auf die Schulter und verließ die Küche. David setzte sein Frühstück fort, doch aus irgendeinem Grund fühlte er sich beklommen. Und das Gefühl blieb für den Rest des Tages.

PKMN

„Pichu, Donnerschock!"

„Ausweichen, Teddiursa!" rief David hastig, doch es war zu spät; bevor sich Teddiursa mit einem Sprung in Sicherheit bringen konnte, wurde es von der Attacke des kleinen Elektro-Pokémon getroffen. Kurz taumelte es noch, und dann fiel es um. David rannte mit großen Schritten zu Teddiursa. „Hey, Teddiursa, bist du okay?"

Als Antwort bekam er ein schwaches „Teddi..."

David holte Teddiursa zurück in seinen Ball und stapfte wütend auf den Pichu-Trainer zu. „Bist du verrückt geworden?" schrie er ihn an. „Wie konntest du nur mit der Stärke angreifen? Du hättest mich genauso treffen können!"

„Was meinst du?" fragte der Pichu-Trainer unschuldig. Es war ein Junge mit einer blonden Stachelfrisur. Er hatte sich mit David auf einen spontanen Kampf verabredet. „Das war eine ganz normale Donnerschock-Attacke. Außerdem ist die Genauigkeit meines Pichu ziemlich hoch. Du wärst auf keinen Fall getroffen worden."

„Trotzdem!" widersprach David. „Du solltest dein Pichu besser kontrollieren, Michael!"

Michael lachte trocken. „Willst du mir jetzt Vorschriften machen, wie ich meine Pokémon zu trainieren habe? Was ist überhaupt los mit dir? Wieso bist du heute so gereizt?"

David hielt eine Weile inne. „Entschuldigung, ich weiß auch nicht, was los ist."

„Entschuldigung angenommen", sagte Michael breit grinsend und legte einen Arm um Davids Schulter. „Ich kann dich ja durchaus verstehen. Das nennt man Dorfkoller, das bekommen alle in unserem Alter. Aber manche haben es noch schlimmer als wir! Es soll nämlich tatsächlich Leute geben, die in Neuborkia wohnen!"

„Ja, genau", sagte David und schmunzelte.

„Keine Sorge, noch zwei Tage, und dann sind wir weg aus diesem Kaff. Und ich weiß, was dich wieder aufmuntern wird", sagte Michael. „Wir gehen ins nächste Café und bestellen uns einen schönen Eisbecher."

„Nein danke", erwiderte David.

„Hmm, bist du dir sicher?"

„Ja", antwortete David. „Ich werde jetzt heimgehen und noch ein bisschen meine Sachen für die Reise vorbereiten. Aber danke trotzdem."

„Kein Problem", erwiderte Michael. „Und falls du deine Meinung ändern solltest, ein Anruf genügt!"

David nickte. Dann trennten sich ihre Wege. Schon seit seiner frühen Kindheit war er mit Michael befreundet. Was ihm so gut gefiel, war Michaels frohe Natur. Er war immer optimistisch und gut gelaunt, und David hatte ihn nur ganz selten unglücklich erlebt. Doch in diesem Augenblick wollte er nicht in seiner Gesellschaft sein. Viel zu sehr beschäftigte ihn das seltsame Verhalten und der plötzliche Aufbruch seines Onkels.

Ein sich nahendes Autogeräusch riss David aus den Gedanken. Als er sich umdrehte, erblickte er den roten Wagen, den er schon am Morgen gesehen hatte. Er hielt direkt neben ihm an, und ein Fenster öffnet sich.

„Ich muss mit dir reden!" sagte die Fahrerin.

„Mein Teddiursa muss ins Pokémon-Center", erwiderte David.

„Steig' ein!" forderte Rachel ihn auf. „Ich bringe dich hin!"

David zögerte kurz und stieg in den Wagen. „Also? Worüber müssen Sie mit mir reden?

„Dein Onkel, hat er sich in letzter Zeit merkwürdig benommen?"

„Wie meinen Sie das?"

„Na ja, hat er Dinge getan, die er vorher nicht getan hat?" fragte Rachel.

„Nein, nicht dass ich wüsste", antwortete David. „In den letzten Wochen schien er mir etwas verstreut. Vielleicht lag es daran, dass er so sehr beschäftigt war..."

„Womit war er beschäftigt?"

„Er hat sich sehr viele Nachschlagewerke gekauft und ausgeliehen. Ich glaube, er hat für ein neues Buch recherchiert", sagte David.

„Was waren das für Nachschlagewerke?"

„Was weiß ich?" erwiderte David, der die Fragerei nicht mehr aushielt. „Herrgott, ich spioniere doch nicht meinem Onkel hinterher!"

„Entschuldige", sagte Rachel. „Ich wollte dir nicht zu nahe treten."

„Ist schon gut", antwortete David. Nach einem kurzen Schweigen fragte er: „Ist James in Schwierigkeiten?"

„Warum fragst du das?" fragte Rachel und warf einen kurzen Blick auf David, bevor sie sich wieder auf die Straße konzentrierte.

„Er hat sich heute ziemlich seltsam benommen, nachdem Sie da waren", sagte David. „Und dann ist er auch noch so plötzlich aufgebrochen..."

„Er ist weg?" wurde er von Rachel unterbrochen.

„Ja, aber ich dachte, das wüssten Sie!" sagte David.

„Nein, davon hat er mir nichts erzählt. Ich bin heute nur zufällig vorbeigekommen, aber ich habe eine eigenartige Entdeckung gemacht, über die ich mit dir reden wollte", sagte Rachel und bog nach links ab.

„Hey, zum Pokémon-Center geht es in die andere Richtung!"

„Ich weiß", antwortete Rachel. „Aber zuerst will ich dir etwas zeigen."

In weniger als fünf Minuten waren sie am Ziel angekommen. Als Rachel das Haus betrat, steuerte sie zielstrebig auf einen Glasschrank im Wohnzimmer zu, in dem James die acht Orden von Johto aufbewahrt waren, die er sich einst verdient hatte.

„Es ist noch da", stellte sie mit Erleichterung fest.

„Was meinen Sie?" fragte David.

„Hat James dir jemals etwas darüber erzählt?" fragte Rachel, während sie mit dem Finger auf einen der Orden zeigte und sorgsam darauf achtete, dass sie ihn nicht berührte. Dieser lag neben den acht regulären Orden, wie die anderen war es ein Anstecker, doch während in die anderen alle ein bestimmtes Muster eingraviert worden war, war dieser völlig blank. Es war nur ein Stück glänzendes Metall mit einer Nadel auf der Rückseite.

„Er nannte es seinen Glücksbringer", fragte David. „Aber alles, was ich darüber weiß, ist, dass er ihn geschenkt bekommen hat. Ich weiß nicht einmal, von wem."

„Er sagte mir heute, dass er ihn dir für deine Reise geben wollte, damit er dir Glück bringt", sagte Rachel.

„Echt? Davon weiß ich nichts." In der Tat hatte James nie etwas Derartiges erwähnt. Fast behandelte er den kleinen Gegenstand wie ein Heiligtum, niemals hätte er ihn aus der Hand gegeben. Umso seltsamer fand David, dass er nun ohne ihn aufgebrochen war.

„Hm, das ist seltsam. Wieso hat er dir nichts gesagt?" murmelte Rachel nachdenklich. „Es sei denn..."

„Es sei denn, was?"

Doch Rachel antwortete ihm nicht. Statt dessen sagte sie: „Ich muss jetzt gehen. Aber ich werde in drei Tagen wiederkommen, spätestens in vier. Versprich' mir, dass du nicht abreist, nicht bevor ich wieder da bin. Versprichst du es mir?"

„Hab' ich eine Wahl?" fragte David.

„Ich fürchte, nein. Aber du musst mir vertrauen", antwortete Rachel lächelnd. Sie verließ das Haus, stieg in ihren Wagen und fuhr los.

„Hey, Sie wollten mich noch ins Pokémon-Center bringen!" rief David ihr hinterher, doch ihr Wagen war schon am Horizont verschwunden."