„Du hast doch... Du... Es kann nicht sein, dass..." Wilsons Gesichtsausdruck wechselt langsam von purem Entsetzen zu einem breiten Grinsen, und er zeigt mit dem Finger auf seinen Freund: „Okay, du hast es geschafft. Einen Moment dachte ich tatsächlich, du..."

„Ich mein's ernst." House schluckt eine Vicodintablette und verzieht dabei in gewohnter Manier das Gesicht. Wilson starrt ihn einen Moment mit offenem Mund an. „Du hältst niemals Reden. Deine letzte war eine Katastrophe."

„Die Vogler-Rede? Die war doch..." House wirft Wilson einen unschuldigen Blick zu und klaut ihm seine letzten beiden Pommes Frites vom Teller.

„...ein Desaster!"

„Okay, ich hatte nicht meinen besten Tag." Er steckt sich die beiden frittierten Kartoffelstifte in den Mund. „Die sind kalt."

„Nun mal im Ernst. Wenn du..."

„Es ist mein Ernst. Dieser Chemiecocktail ist gut. Es gibt keinen Grund, weshalb er im ganzen Rest der Welt zugelassen und hier nicht."

„Natürlich ist das Zeug gut. Aber das ändert nichts daran, dass..."

„Alles Geschäftemacherei. Es ist keine amerikanische Firma, also ist das Gebräu scheiße. Das kann's nicht sein."

„Ich bin vollkommen deiner Meinung. Aber warum willst du einen Vortrag halten?"

„Man hat mich lieb gebeten."

„Dich bittet jeden Monat jemand lieb, einen Vortrag zu halten. Du hast seit ... du sagst nie zu. Du sagst noch nicht mal ab! Du ignorierst sie einfach."

„Cameron schreibt Absagen. Sie hält das für höflicher."

Wilson schüttelt den Kopf. „Dich zwingt nicht zufällig wieder jemand? So à la Vogler? ‚Halte den Vortrag oder wir bringen Steve um?'"

„Hör endlich auf. Den Grund hab ich dir genannt. Mich zwingt niemand, ich habe vollkommen freiwillig zugesagt."

Wilson verdreht die Augen, streckt die Hand aus und bewegt seine Finger in einer ‚Gib-her-Bewegung'. House reicht ihm das Einladungsschreiben. Wilson überfliegt den Text und stutzt auf einmal. „Der Kongress ist in Europa!" Er ist sich inzwischen sicher, dass House ihn nur auf den Arm nimmt.

„Ich war lange nicht in der alten Welt."

Wilson kommen wieder Zweifel. „House! London. England. Europa!!"

Und?"

„Du schaffst es nicht durch einen Film mit Überlänge, aber du willst dich in ein Flugzeug nach Europa setzen? Weißt du, wie lange die Dinger fliegen?"

„Ziemlich lange."

„Ja, ziemlich lange. Und wenn dir irgendwann aufgeht, dass du nicht mehr sitzen kannst, kannst du nicht einfach aufstehen und rausgehen wie im Kino."

„Der Film gestern war blöd."

„Red dich nicht raus, bitte. Du hast den Film ausgesucht, er war gut, du konntest nicht mehr sitzen. Zurück zum Thema: Wie stellst du dir das vor?"

„Es ist ein Nachtflug. Die Firma hat Business Class gebucht. Ich werde schlafen wie ein Baby."

„Ja, klar."

„Du bist sauer? Du solltest dich für mich freuen! Ein Gratisflug nach Europa erster Klasse. Ein 10-Minuten-Vortrag ist ein guter Preis, oder nicht?"

„Du lenkst ab. Erinnerst du dich an den Flug nach Chicago? Das ist ungefähr ein Drittel der Strecke! Es ging dir tagelang dreckig!"

„Zu wenig Platz in der Economy Class, nerviger Onkologe neben mir, zu wenig Vicodin – such dir einen Grund aus."

„Es ging dir tagelang dreckig!"

„Hab aus meinen Fehlern gelernt."

„Offensichtlich nicht, sonst würdest du..."

„Diesmal fliege ich erster Klasse, Onkologen müssen in Jersey bleiben, Vicodinvorrat wird aufgestockt." Damit erklärt House die Diskussion für beendet und steht auf. Er überlässt es Wilson, die beiden Tabletts abzuräumen und macht sich auf den Weg zurück in sein Büro. „Muss arbeiten. Lauter sterbende Leute.", murmelt er.

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Wilson hat ihn zum Flughafen gebracht, und nach der Diskussion im Auto ‚Du willst wirklich nur mit einem Rucksack nach London fliegen?!' ist House froh, seine Ruhe zu haben. In der Business Class ist es ruhig und angenehm. Man reicht ihm Getränke und Extrakissen, die Flugbegleiterin ist Deutsche und sicher ein paar Nummern hübscher als die in der Economy Class, denkt House zufrieden. G. Stelling steht auf ihrem Namenschildchen. Sogar das hat Klasse. Nicht wie die Namenschilder auf den Caféangestelltenschildern in Amerika. Da findet man höchstens Mindy und Mandy und Sandy und so was. Das hier ist eine ‚Dame', sie hat einen Vornamen mit einem einzelnen Buchstaben und einem Punkt: G. House überlegt. Wie heißt man in Deutschland, wenn man mit einem G anfängt? Gretchen? „Ich hätte gern noch ein Extrakissen, Gretchen.", versucht er sein Glück, als sie zu einem Kontrollgang vorbeikommt. „Gern.", sagt sie lächelnd und reicht ihm eins. „Und mein Name ist Gudrun."

House' Mund bleibt offen stehen bevor er sich zu einem amüsierten Grinsen verzieht.

„Das kann kein Name sein!"

„Ist es aber." Sie lacht und ist verschwunden, ehe er sich weiter über sie lustig machen kann.

„Gudrun. Pff. Ich bin sicher, dass sie eigentlich Gretchen heißt.", sagt er zu seinem Sitznachbarn auf der anderen Seite des Gangs, der mit einem breiten Grinsen antwortet. House beschließt, ein wenig die Augen zu schließen und zu versuchen zu schlafen. Der Sitz ist bequemer als alle Flugzeugsitze, auf denen er in seinem bisherigen Leben gesessen hat, aber es ist eben ein Flugzeugsitz und kein Bett. Tatsächlich döst er immer wieder kurz ein bis sich nach zweieinhalb Stunden sich sein Bein deutlich bemerkbar macht. Zeit für eine extra Vicodin, und ein bisschen auf und ab zu gehen wäre jetzt genau das richtige. Gretchen ist sofort zur Stelle. „Kann ich helfen?", flüstert sie. Rings herum sind die Lichter bis auf wenige Leselampen gelöscht, und die Fluggäste schlafen oder dösen.

„Nein danke. Brauche nur ein bisschen Bewegung."

„Bewegung?" Ihre Augen weiten sich.

„Keine Angst, ich bin nicht auf ne Joggingrunde aus. Nur mal kurz den Gang rauf und runter."

Gretchen wirft ihm einen besorgten Blick zu. Er hasst diese Blicke, aber bei Krankenschwestern und Flugbegleitern gehören sie zum Job, also wird er nicht wirklich sauer. Erst als andere besorgte Blicke derjenigen Passagiere dazukommen, die gerade nicht schlafen und ihn beim Auf- und Abgehen mehr oder weniger offensichtlich beobachten, fühlt er die Wut wie einen Klos im Hals aufsteigen. Aber in einem vollbesetzten Flugzeug mitten über dem Atlantik gibt es nicht besonders viele Fluchtmöglichkeiten, also schluckt er seinen Zorn hinunter, hinkt noch ein paar weitere Male ungelenk den Gang hinauf und wieder hinunter, legt einen Zwischenstopp auf der Toilette ein und setzt sich schließlich wieder.

Bei der Zwischenlandung in Frankfurt fühlt er sich wie gerädert und hätte am liebsten gleich in irgendeinem Flughafenhotel eingecheckt anstatt im nächsten Flieger nach London. Wilsons Worte klingen ihm noch in den Ohren. ‚Es ging dir tagelang dreckig'. Natürlich hat er recht. Ein Langzeitflug ist nichts für jemanden, der nicht lange sitzen kann, das Umsteigen auf einem riesigen Flughafen ist nichts für jemanden, der nicht lange laufen kann, und das Warten an Abfertigungsschaltern ist nichts für jemanden, der nicht lange stehen kann. Aber er ist tatsächlich wieder in Europa. Zum ersten Mal seit über 10 Jahren. Auf dem Flughafen in Frankfurt herrscht ein Stimmengewirr, das ihm trotz der Schmerzen ein kurzes Lächeln aufs Gesicht zaubert. Nicht das übliche amerikanische Gemisch aus 99 Prozent Englisch und 1 Prozent Spanisch, sondern eine Mi­schung aus Sprachen, von denen er nur ein Bruchteil überhaupt einordnen kann, geschweige denn versteht.

Der Flug nach London ist kurz, nicht viel länger als Spielfilmlänge, und der Flieger landet pünktlich um Viertel vor elf in Heathrow. House sehnt sich nach einer heißen Dusche und danach, sich ein paar Minuten auf einem richtigen Bett auszustrecken. Nachdem er die Passkontrolle hinter sich gebracht und seinen Rucksack vom Gepäckband gefischt hat, geht er durch den Ausgang ins Flughafengebäude, wo bereits ein dunkelhäutiger Mann mit indischen Gesichtszügen und einem Schild „Dr. House" in der Hand auf ihn wartet. Sein Akzent bei der Begrüßung bestätigt die indische Herkunft. „Haben Sie kein Gepäck, Sir?", fragt er erstaunt.

House dreht sich halb herum, um den Blick auf den Rucksack freizugeben. „Doch. Hier."

Der Inder runzelt erstaunt die Stirn, behält jedoch jeden weiteren Kommentar für sich. Der Weg in die Stadt ist weit, und von Minute zu Minute fühlt House sich unwohler. Er überlegt, ob er den Fahrer bitten soll, einen Moment anzuhalten oder ob er die Zähne zusammenbeißen und durchhalten soll.

„Ist alles okay?", fragt der Fahrer, dem die verkrampfte Sitzhaltung und die veränderten Atemgeräusche seines Passagiers aufgefallen sind. „Ist Ihnen schlecht? Soll ich anhalten?"

„Wie weit ist es noch?", fragt House durch zusammengepresste Zähne.

„Wenn's weiter so gut läuft, vielleicht noch 10 Minuten. Ich kann aber gern anhalten. Soll ich?"

„Keine Angst, ich werde Ihnen nicht das Taxi vollkotzen. Fahren Sie zu." House hat beschlossen durchzuhalten. 10 Minuten. Das ist absehbar. Keine Viertelstunde. Kaum länger als 5 Minuten. Im Grunde müssten seit seiner Frage schon wieder 2 Minuten vergangen sein. 8 Minuten also. Das ist wirklich kaum länger als 5 Minuten. Sind hier eigentlich alle Ampeln immer rot? Die da hinten wird sicher auch gleich umspringen. Na bitte. Wieder eine halbe Minute. Scheiße. Ein Krampf im Oberschenkel. Auch das noch.

Immer wieder sieht der Fahrer besorgt hinüber. Sein Fahrgast hält seinen rechten Oberschenkel mit beiden Händen in einer eisernen Umklammerung und ist kreidebleich im Gesicht. Er kann ihn nicht schon wieder fragen, ob alles okay ist. Außerdem ist es offensichtlich, dass nicht alles okay ist. Aber wenn der Kerl nicht will, dass er anhält, kann er nur zusehen, dass er ihn so schnell wie möglich am Hotel absetzt, um die Verantwortung loszuwerden. Da vorn ist es schon. „Da vorn ist es. Das hohe weiße Gebäude mit den Flaggen davor."

House bringt kein Wort heraus und kann nur nicken. Direkt vor dem Haupteingang stellt der Inder den Motor aus und wirft einen skeptischen Blick auf seinen Fahrgast, der nicht so aussieht, als könne er allein aus dem Wagen steigen.

„Ich, äh... Kann ich...?" Der Fahrer weiß nicht recht, was er sagen oder tun soll.

„Geben Sie mir eine Minute, okay?" House ist kaum zu verstehen, aber der Fahrer nickt. Es ist offensichtlich, dass der Mann Schmerzen hat. Nach etwa fünf Minuten, in denen sich House keinen Millimeter bewegt und keiner von ihnen etwas gesagt hat, holt der Fahrer tief Luft und sagt zögernd: „Brauchen Sie einen Arzt?"

„Ich bin Arzt.", kommt postwendend die wütende Antwort des Amerikaners. Der Fahrer beißt sich auf die Lippe. Weitere fünf Minuten vergehen, und allmählich entspannt sich House' verkrampfte Haltung. Seine Atmung wird ruhiger, und er schließt erleichtert die Augen. Der Krampf ist vorüber. Er atmet noch ein paar Mal tief durch, schluckt eine Vicodin und öffnet dann die Autotür. Im Handumdrehen steht der Fahrer neben ihm. „Kann ich helfen?"

House wirft ihm einen tödlichen Blick zu. Das fehlte gerade noch. Er wird wohl noch in der Lage sein, allein aus einem Auto auszusteigen. Vorsichtig dreht er sich nach links und hebt sein rechtes Bein nach draußen. Mit dem vollen Gewicht auf dem linken Bein und mit der Autotür und dem Stock als Stütze kommt er schließlich zum Stehen. Ihm ist ein wenig schwindlig, und er bleibt kurz stehen, um sein Gleichgewicht zu finden. Er probiert aus, wie viel Gewicht das rechte Bein tragen kann. Nicht viel. Auf seinem langsamen Weg durch den Haupteingang des Hotels hinüber zum Empfang stützt er sich hart auf seinen Stock. Der Taxifahrer trägt ihm den Rucksack hinterher.

„Muss ich etwas bezahlen?", fragt House, als er den Rucksack an der Rezeption entgegennimmt.

„Nein, ich brauche nur eine Unterschrift von Ihnen, Sir."

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Nach einer heißen Dusche, zwei weiteren Vicodin und anderthalb Stunden Halbschlaf im herrlich komfortablen Hotelbett fühlt House sich fit genug, den Rest des Tages in Angriff zu nehmen. Der Kongress beginnt am späten Nachmittag, und es ist noch Zeit für ein spätes Mittagessen, bevor man ihn um viertel vor fünf abholt, wie auf der Willkommenskarte im Hotelzimmer stand.

„Dr. House, Mr. Gentry ist hier, um Sie abzuholen."

„Danke." House legt den Hörer auf, rückt den unbequemen Schlips ein wenig zurecht, wirft sich den leichten Mantel über den linken Arm und macht sich auf den Weg nach unten in die Lobby. Erleichtert stellt er fest, dass es seinem Bein wesentlich besser geht als noch vor ein paar Stunden. Mr. Gentry ist leicht untersetzt, grauhaarig, grauäugig und trägt einen grauen Anzug. Er geht ihm entgegen und streckt lächelnd die Hand aus. „Dr. House. Wie schön, dass Sie gekommen sind."

House zwingt sich zu einem Lächeln. Da beide Hände beschäftigt sind – links der Mantel, rechts der Stock – ignoriert er die Hand seines Gegenübers und nickt stattdessen zur Begrüßung.

„Paul Gentry.", stellt der Engländer sich vor und steckt die Hand verlegen in die Hosentasche. „Hatten Sie einen angenehmen Flug?"

„Zwei."

„Bitte?"

„Zwei Flüge. Ein bisschen lang aber okay."

Gentry lacht. „Lang ist es wirklich. Sind Sie zum ersten Mal im Vereinigten Königreich?"

„Nein."

Gentry wartet auf eine Erklärung, die jedoch nicht kommt. Offensichtlich ist sein Gegenüber nicht an Small Talk interessiert. Dass House ein schwieriger Zeitgenosse ist, hat er bereits gehört. Jeder, mit dem er bisher über dessen Besuch gesprochen hat, hat ihm versichert, dass er sich allein auf die Zusage schon etwas einbilden kann. ‚House hält keine Reden', hieß es aus allen Richtungen. In Amerika scheint der Diagnostiker so eine Art Übermensch zu sein. Beim Erwähnen seines Namens bekommen sämtliche amerikanischen Ärzte so einen verträumten Blick und scheinen vor Ehrfurcht schier zu erstarren. Seine Erscheinung ist wirklich beeindruckend, das kann man nicht abstreiten. Er ist groß, sicher um die 1,90 m, und schlank, und er wirkt trotz seiner Behinderung erstaunlich athletisch. Die extrem blauen Augen sind wach und der Blick intensiv.

„Wir hatten ein paar kleinere Programmänderungen,", erklärt Gentry auf der kurzen Fahrt zum Kongresszentrum, „aber Ihr Vortrag ist davon nicht betroffen. Morgen früh um 10 Uhr, gleich als erstes."

House nickt und dreht den Knauf seines Stocks in den Händen. Londoner Taxis sind wahrhaftig komfortabel. Selbst für Leute seiner Größe.

„Ist das Hotel in Ordnung, Dr. House?"

„Bis auf die geschmacklose Einrichtung mit diesen plüschigen Teppichen kann ich nicht klagen."

Gentry lacht höflich. „Wir hatten Glück, dass wir die Zimmer für unsere Gäste so frühzeitig gebucht haben. In London herrschen diese Woche chaotische Zustände. Drei internationale Kongresse, zwei große Messen und außerdem noch einige Sportveranstaltungen und Konzerte. Meine Sekretärin hat vor zwei Wochen versucht, noch ein weiteres Zimmer für einen Gast aus der Schweiz dazuzubuchen, aber ganz London ist ausgebucht. Das nächste freie Zimmer in einem einigermaßen anständigen Hotel war in Cambridge."

House gibt sich wirklich Mühe nicht allzu gelangweilt zu wirken, doch das Geplapper seines Gastgebers fängt recht bald an, ihm ziemlich auf die Nerven zu gehen. Glücklicherweise ist der Weg nicht lang.

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Der Kongress ist eine große Sache. Die Redner sind aus unterschiedlichen europäischen Ländern angereist, und nicht alle von ihnen halten die Vorträge auf Englisch, weswegen den Gästen Kopfhörer für die Übersetzungen ausgehändigt werden. Journalisten und Fernsehteams sind ebenfalls vor Ort, und der Saal ist voll belegt. Nach der Begrüßung und dem ersten Vortrag folgt nur noch das Abendessen, das im selben Gebäude, allerdings in einem anderen Flügel stattfindet. Mr. Gentry stellt ihm Kollegen und Geschäftsfreunde vor, und House lässt sich sogar auf ein wenig inhaltsloses Geplänkel mit ihnen ein. Es gibt ein Buffet, und das Essen ist wirklich gut. Allerdings ist der Weg zwischen den sich biegenden Buffettischen und seinem Platz weit, und am Buffet herrscht ein ziemliches Gedränge. Bei seinem ersten Gang hat er sich einen unabsichtlichen aber schmerzhaften Stoß seines Vordermannes eingefangen, der sich in der Warteschlange aus unerfindlichen Gründen abrupt umdrehte, und House beschließt, es bei dem einen Gang zu belassen.

„Kann ich Ihnen ein Dessert mitbringen?", fragt Gentry, der seine Gedanken zu lesen scheint.

„Danke nein.", antwortet er schnell, denn die Blöße wird er sich nicht geben. Er mag ein erbärmlicher Krüppel sein, aber sich eine Schüssel mit Eis holen, würde er wohl noch selbst hinbekommen. Wenn er wirklich wollte.

Nach dem Essen bittet er Gentry um ein Taxi ins Hotel und lehnt dankend dessen persönliche Begleitung ab. Er fühlt sich matt und ausgelaugt, und er hat keine Lust noch länger auf dem Eröffnungsempfang zu bleiben, wo jetzt das Buffet abgebaut wird. Ein Vorhang wird zur Seite geschoben, und dahinter erscheint eine gigantische Bar und eine Tanzfläche mit einer Band, die zu spielen beginnt, als man House eröffnet, sein Taxi sei da.

Die Hotellobby ist voller als am Nachmittag, obwohl es wirklich schon recht spät ist. House wartet an der Rezeption, um seinen Schlüssel abzuholen. Vor ihm steht eine Gruppe von 5 Japanern, die sich lauthals über westländische Technik lustig machen im Glauben, dass niemand außer ihnen selbst sie versteht. Wenn er nicht ganz so müde wäre und sein rechter Oberschenkel ihn im Moment nicht so verdammt nerven würde, hätte House ein paar spitze Bemerkungen über unzureichende japanische Fischzubereitung auf Lager, doch er hält den Mund in der Hoffnung, dass er so am schnellsten in den Besitz seines Zimmerschlüssels gelangen wird.

Erst jetzt versteht er, worum es eigentlich geht. Die Fahrstühle im Hotel sind ausgefallen. Die Japaner nehmen es mit Humor, doch mit House hat der sichtlich überforderte Nachtportier kein so leichtes Spiel.

„Ich brauch ein anderes Zimmer.", antwortet House, als der Nachtportier auch ihm eröffnet, dass die Fahrstühle leider ihren Geist aufgegeben haben – selbstverständlich in angemessen vornehm britischer Formulierung.

„Es tut mir sehr leid, Sir,", der verzweifelte Blick des Portiers bettelt um Verständnis, „wir sind restlos ausgebucht, und es haben bereits alle Gäste eingecheckt. Es besteht keine Möglichkeit mehr zum Tausch."

„Dann lassen Sie sich mal etwas einfallen." House wirft einen Blick hinüber zu den Treppen. Sein Zimmer ist auf der achten Etage. Vollkommen unerreichbar für ihn.

„Es tut mir wirklich leid, aber..."

House unterbricht ihn. „Dass es Ihnen leid tut, nützt mir nichts. Wenn Sie kein Zimmer im Erdgeschoss oder auf der ersten Etage frei haben, besorgen Sie mir ein anderes Hotel."

„Ganz London ist ausgebucht, Sir. Es wird vollkommen unmöglich sein, ein..."

„Wie Sie meinen. Die Sofas vor dem Frühstücksraum sehen ganz bequem aus. Aber glauben Sie nicht, dass ich für das Zimmer auch nur ein Pfund..."

„Entschuldigung? Sir?"

House dreht sich um, um zu sehen, wer ihn unterbrochen hat. Die junge Frau lächelt schüchtern.

„Was?" House merkt selbst, dass sein Ton ein gehöriges Stück zu unfreundlich ist.

„Ich, ähm... Mein Zimmer ist auf der ersten Etage. Ich hab heute Nachmittag mein Gepäck reingestellt, aber ich habe das Zimmer nicht benutzt. Wenn Sie mögen, könnten wir tauschen."

House ist einen Moment sprachlos und bleibt mit offenem Mund stehen. Einen Rettungsanker ahnend erkundigt sich der Nachtportier nach der Zimmernummer des weiblichen Gastes und verzieht enttäuscht das Gesicht. „Ihr Zimmer ist ein kleines Einzelzimmer in der Kapitänskategorie. Ihres dagegen,", er nickt House zu, „ist ein großes Twin-Admiral."

„Ihre Seemänner sind doch völlig zweitrangig.", grummelt House und wendet sich der Frau zu. „Sie würden wirklich tauschen?"

„Sicher, gern."

„Erste Etage?"

„Ja, und ganz nah an der Treppe.", fügt sie hinzu.

House überlegt. Der Tausch ist vermutlich seine einzige Chance auf ein richtiges Bett in dieser Nacht. Er erinnert sich noch an Gentrys Bemerkungen über die Buchungssituation der Londoner Hotels. Nicht lange überlegen, sagt er sich und nickt schließlich. „Okay.", sagt er kaum hörbar. Der Nachtportier kann sich einen erleichterten Seufzer nicht verkneifen und holt die beiden Schlüssel aus dem Bord. Auf dem Weg hinüber zu den Treppen versucht House, nicht ganz so invalid zu wirken, wie er sich im Moment fühlt, aber sein Bein lässt sich nicht überlisten. An der Treppe angekommen wirft er der tauschwilligen Dame einen verschämten Blick zu.

„Kann ich irgendwie...?". Sie lächelt unsicher. House schüttelt den Kopf. „Ich werde bloß eine Weile brauchen, fürchte ich."

„Okay, dann hol ich Ihnen vielleicht einfach schon mal das Gepäck runter?"

Einfach schon mal, denkt House verbittert und bekommt Lust, etwas zu schlagen, nickt dann aber, dankbar dafür, dass sie ihm so bei seinem beschwerlichen Aufstieg nicht beobachten wird.

Auf dem ersten Treppenabsatz muss er eine Pause einlegen. Sein linkes Bein zittert vor Anstrengung nach dem langen Tag, sein rechtes strahlt Schmerzen in alle Richtungen aus, und er schüttelt die letzte Vicodintablette aus der Dose. Nachdem er sie geschluckt hat, wartet er noch einen Augenblick und setzt die Kletterpartie fort. Die zweite Treppe schafft er nicht in einem Stück. Zweimal muss er unterbrechen, und er hasst alle anderen Gäste, die leichtfüßig in beide Richtungen an ihm vorbei laufen und mitleidige Blicke für ihn übrig haben. Ein junger Mann mit grausam französischem Akzent fragt, ob er helfen kann, doch ein einziger Blick von House schlägt ihn in die Flucht. Die Frau kommt ihm aus dem Zimmer entgegen.

„Ich hab den Rucksack auf den Kofferbock gestellt."

„Was ist mit der Kulturtasche?"

„Ich hab die Sachen aus dem Bad zusammengesucht und die Kulturtasche in den Rucksack gepackt."

House atmet durch eine Schmerzwelle und lehnt sich an den Türrahmen.

„Hier ist Ihr Schlüssel." Sie hält ihm die Schlüsselkarte entgegen.

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Das Zimmer ist noch nicht einmal halb so groß wie sein Zimmer auf der achten Etage, aber House hätte auch ein Bett in einer Kellernische genommen. Alles, was er braucht, ist eine weiche Matratze, eine Vicodin und vielleicht ein bisschen Musik.

Als ihn die Schmerzen zwei Stunden später wecken, liegt er noch vollständig bekleidet auf dem Bett. Aus seinem iPod ist leise Klaviermusik zu hören. Er ist eingeschlafen ohne das Licht vorher auszumachen. Es ging dir tagelang dreckig! Wilsons Stimme klingt ihm in den Ohren. Warum muss Wilson eigentlich immer Recht haben, wenn es um solche Dinge geht? House setzt sich vorsichtig auf und bringt sein rechtes Bein mit Unterstützung beider Hände hinunter auf den plüschigen Teppich. Die Vicodindose ist leer, daran erinnert er sich. Die beiden Notfallvicodin aus der Hosentasche mussten kurz vor dem Einschlafen dran glauben. Also muss die neue Dose herhalten. Die aus der Kulturtasche. Vorsichtig hinkt er die drei Schritte hinüber zum Kofferbock, auf den die tauschwillige Dame seinen Rucksack abgestellt hat, fischt die Kulturtasche heraus und hinkt die drei Schritte wieder zurück. Sein Stock rutscht von der Wand ab, an den er ihn lehnt und fällt fast geräuschlos auf den Langhaarteppich. Eine Minute später sitzt House verzweifelt vor dem Inhalt der Kulturtasche, den er nach nervöser aber ergebnisloser Suche schließlich neben sich aufs Bett gekippt hat. Keine Tablettendose. Er ist sich sicher, dass er eine Dose in der Kulturtasche hatte. Sie kann nicht auf einmal verschwunden sein! Er hat sie sogar... Jetzt fällt es ihm wieder ein. Er hat sie oben im anderen Zimmer zusammen mit den anderen Dingen aus der Kulturtasche ausgepackt. Die Dose hat er auf das Regal mit den Handtüchern gestellt. Seine Tauschpartnerin muss sie beim Packen übersehen haben. Das heißt, wenn sie keine Drogensüchtige ist, die den Fahrstuhl manipuliert und ihm dann den Tag über gefolgt ist, um eine Gelegenheit abzuwarten, ihn zu bestehlen. House muss trotz der Schmerzen über seine wirren Gedankengänge grinsen. Ohne lange nachzudenken greift er hinüber zum Telefonhörer und wählt seine ehemalige Zimmernummer. Es dauert eine halbe Ewigkeit, bevor der Hörer abgenommen wird. Einen Moment hat er schon befürchtet, mitten in der Nacht einen verschreibungswilligen Arzt auftreiben zu müssen.

„Hallo?", die Stimme seiner Tauschpartnerin klingt verschlafen und im Gegensatz zu vorher auf einmal völlig unbritisch.

„Sie haben meine Tabletten im Bad vergessen."

Er hört nichts außer Atemgeräuschen und hakt noch einmal nach: „Hallo? Meine Tabletten."

„Tabletten?"

„Ja. Eine Tablettendose. Sie muss im Bad auf dem Regal mit den Handtüchern stehen."

„Oh."

„Ich, ähm... ich brauch sie."

Stille... Schließlich: „Jetzt?"

„Ja, jetzt. – Bitte." Erst jetzt wird ihm klar, dass er sie wahrscheinlich aus dem Tiefschlaf geholt hat, und wenn er nicht will, dass sie verärgert den Hörer aufknallt, sobald sie begreift, was hier eigentlich vor sich geht, sollte er zumindest versuchen, ein bisschen höflicher zu sein, als ihm gerade zumute ist.

„Okay. Moment.", sagt sie schließlich, und er legt erleichtert auf.

Eine Ewigkeit passiert nichts, und er ist kurz davor, noch einmal anzurufen, da er befürchtet, dass sie nach dem Auflegen wieder eingeschlafen sein könnte, als es endlich an der Tür klopft. Mühsam bückt er sich nach seinem Stock und hinkt hinüber zur Tür. Auf dem Flur steht seine Tauschpartnerin. Das zuvor hochgesteckte dunkelblonde Haar fällt ihr jetzt lockig über die Schultern, und sie trägt eine dunkelblaue Strickjacke, die bis zur Hälfte ihrer Oberschenkel reicht. Die Beine darunter sind nackt, ebenso die Füße. Ein Anblick, den House trotz der Schmerzen zu schätzen weiß und ihn zu einem schiefen Grinsen verleitet. Sie schüttelt die Pillendose. „Diese hier?"

House nickt und hält die Hand auf.

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Es klopft immer hartnäckiger, und House rollt mit den Augen. Vor der ersten Vicodin des Tages kann man unmöglich von ihm verlangen innerhalb von Sekunden an der Hoteltür zu sein, wenn man ihn mit Klopfen aus dem Schlaf holt. Endlich an der Tür angekommen, reißt er sie auf. „Was ist?", fragt er scharf. Der junge Mann in Anzug und Schlips starrt ihn mit offenem Mund an. „Oh, ähm... tschuldigung, ich glaub ich hab mich in der Zimmertür..." Er starrt auf House' verschlafene Erscheinung in zerknittertem T-Shirt und ausgeleierten Schlafanzughosen und vergleicht dann die Zimmernummer mit der Nummer, die auf einem kleinen Zettel steht, den er in der Hand hält. Sie sind identisch. House versteht und grinst. „Nein, ich glaub, Sie sind schon ganz richtig."

„Ähm... Aber... Wo ist Silja?"

„Sie war hungrig und ist schon runter zum Frühstück." House zwinkert dem Mann zu, der aussieht, als hätte ihn der Schlag getroffen.

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