Chosen
Prolog
„Du bist wertlos!"
Das kleine Kind, das auf dem dreckigen Holzfußboden hockte, sah tränenüberströmt zu dem Mann mit der Glatze und dem vor Wut rot angelaufenen Gesicht auf.
„Nicht einmal einen Teller kannst du tragen, ohne ihn runterzuwerfen!"
„Das… das war keine Absicht, Vater!"
„Es ist mir egal, ob es keine Absicht war, du gehst sofort auf dein Zimmer!"
Der Junge erhob sich, am ganzen Körper zitternd.
„Wird's bald??"
Mit einem brutalen Stoß schubste der Mann das Kind vorwärts, die Holztreppe hoch.
Liebes Tagebuch.
Heute schreibe ich dir zum ersten Mal.
Hallo.
Ich heiße Albus Dumbledore und bin schon 10 Jahre alt. Ich hab eigentlich noch mehr Namen. Willst du sie hören?
Ich heiße noch Percival nach meinem toten Großvater, Wulfric nach meinem Vater und Brian nach meinem anderen Großvater.
Hört sich nicht so toll an, oder?
Ich lebe in einem Dorf in England. Mein Vater betreibt eine kleine Farm.
Meine Mutter ist Weberin.
Ich habe auch noch einen kleinen Bruder. Er heißt Aberforth.
Er ist 4 Jahre jünger als ich. Wir gehen zusammen in die Dorfschule.
Aber jetzt haben wir Sommerferien.
Wir müssen jeden Tag auf der Farm arbeiten. Das ist sehr anstrengend. Und Vater ist immer böse auf mich, ich kann tun was ich will.
Aberforth ist krank geworden. Er hat Fieber, aber Vater will immer noch, dass er arbeitet.
Ich habe Angst um Aberforth.
Mutter kümmert sich nicht um ihn. Sie gibt ihm keine Medizin und sie will auch nicht dass er lange schläft.
Ich habe heute einen Teller runter geworfen und Vater war sehr böse auf mich.
Ich habe das nicht absichtlich gemacht.
Ich habe in 4 Tagen Geburtstag, ich werde 11. Ich bekomme sicherlich nichts, weil meine Eltern von dem Geld einen neuen Teller kaufen müssen.
Aber Großvater kommt und ich freue mich schon sehr darauf.
Ich muss mich jetzt um Aberforth kümmern.
Bis bald, dein Albus.
Ich klappte das Tagebuch zu und erhob mich von meinem Schreibtisch.
In meinem Zimmer war sehr dunkel und kalt, durch das gesprungene Fenster und die zerschlissenen Gardinen fiel kaum Licht von draußen herein.
Ich wandte mich um und trat in den Flur und ging zu Aberforth, dessen Zimmer am anderen Ende des Flures lag.
Vom Flur aus konnte man in die Küche und unser Wohnzimmer sehen.
Mein Vater saß auf dem Sessel vor dem Kamin und trank mal wieder eine Flasche Wein.
Ich lief ein wenig schneller, weil er mich, wenn er zu viel trank, immer anschrie.
„Aberforth?"
Ich schob vorsichtig meinen Kopf zur Tür hinein.
„Hallo Albus", sagte eine schwache Stimme aus einem Berg Decken und Leinentücher.
Ich setzte mich zu ihm auf sein Bett. „Wie geht es dir?"
„Ganz gut", versicherte mein Bruder mir, doch angesichts seiner geröteten Wangen glaubte ich ihm nicht.
„Soll ich dir was zu trinken holen?", bot ich ihm an.
Er linste aus seinem Deckengewühl zu mir hoch. Auf seiner Stirn glänzte Schweiß. „Nein, da musst du ja nach unten gehen und ich habe gesehen, das Vater trinkt. Er wird dich schlagen wegen dem Teller!"
Ich lächelte schwach. „Wenn du Durst hast…"
„Nein, es ist alles in Ordnung."
Wundert euch nicht über unsere Angst, nach unten zu gehen.
Unser Vater ist Alkoholiker und Mutter hat zu große Angst, um uns zu helfen.
Wenn wir nicht gerade Teller zerdeppern und danach nach oben geschickt werden, arbeiten wir den ganzen Tag auf unserer Farm, Holzhacken, Hühner zusammentreiben oder ähnliches.
Es ist sehr anstrengend und ich weiß jetzt schon, dass ich später den Hof meines Vaters nicht übernehmen möchte.
Mein Geburtstag war für mich nie ein Grund zum feiern gewesen.
Ich freute mich auch nicht besonders, als ich am besagten Tag aufwachte.
Als ich die Holztreppe in die Küche hinunter stieg, saß meine Familie bereits am Tisch.
Niemand sagte ein Wort, mein Vater rauchte Pfeife und las die Tageszeitung, meine Mutter strickte und nur Aberforth stand auf und umarmte mich; eine stumme Geburtstagsgratulation. Am Frühstückstisch wird bei uns grundsätzlich nicht gesprochen.
Als mein Großvater in der Tür erschien, fühlte ich mich das erste Mal seit Tagen richtig glücklich.
Ich mochte meinen Großvater sehr.
Er war ein großer alter Mann, der immer für andere da war, der mir immer zuhörte, wenn ich mal traurig war und der immer einen passenden weisen Spruch parat hatte.
Wenn ich mal groß bin, will ich auch so sein wie er.
Er umarmte erst Aberforth und ging dann mit mir in mein Zimmer.
„Schau mal, ich hab mir was mitgebracht", sagte er und zog eine kleine Pappschachtel aus seinem schwarzen Reisemantel.
„Danke!"
Ich nahm die Schachtel und öffnete sie. Zwischen einem Berg Holzwolle kam ein faustgroßes goldenes Ei hervor.
„Was ist das?", fragte ich erstaunt.
Großvater lächelte. „Das ist ein ganz besonderes Ei und ich bin mir sicher, du wirst eines Tages große Freude daran haben."
„Muss ich es warm halten?"
Er lachte. „Du musst es mit Liebe ausbrüten, nicht mit Wärme!"
Ich sah ihn verständnislos an, dann das Ei in der Schachtel.
„Ich glaub, ich wickele es in Tücher."
Großvater grinste nur, als hielt er das für unnötig, aber ich war schließlich der Sohn eines Farmers und wusste, das Eier zum ausbrüten Wärme brauchen.
„Was ist das denn für ein Vogel?"
„Ein Vogel?", war die amüsierte Antwort.
Großvater und ich gingen spazieren.
Wir hätten Aberforth mitgenommen, aber er hatte zu starkes Fieber und hütete nun das Bett.
Ich versuchte ihn die ganze Zeit auszufragen, was für ein Tier aus dem Ei schlüpfen sollte, doch er lachte immer nur und redete über die schöne Landschaft.
