Kühler Wind pfeifft Neji kraftvoll ums glühende, schweißnasse Gesicht als wolle er dessen erhitzten Wangen zurück zu einer halbwegs normalen Temperatur verhelfen. Zumindest hat er es geschafft, einige Strähnen seiner glänzenden, schulterlangen Haare aus dem Stunden zuvor so akkurat gebundenem Zopf zu zerren. Die Strähnen, welche zu fest saßen, haben die heftigen wie geschmeidigen Bewegungen während des harten Trainings vom dunkelgrünen Gummi befreit, so dass der 17-Jährige Mühe hat, geradeaus zu gucken, weil sie ihm andauernd vor den bemerkenswerten, grauen Augen herumflattern. Zu seiner Schande hängt das Zopfgummi tatsächlich nur noch an einem dürren Zipfel von Haaren. Genervt fährt er sich durch den rebellischen Pony.

Nur noch ein Mal!

Schnaufend und mit bebendem Brustkorb nimmt Neji formvollendet Aufstellung am unteren Rande des Trainingsplatzes, über den die fortgeschrittene Dämmerung hereingebrochen ist, und ballt in wilder Entschlossenheit die Fäuste. Dass die Sicht wegen der aufgezogenen Regenwolken zusätzlich schlecht ist, stört den jungen Ninja nicht. Es ist viel zu wichtig, dass er diese Kata noch ein Mal vernünftig durchgeht!

Oder am besten noch hundert Mal, bis der Morgen da ist...

Außer ihm ist keiner mehr hier. Alle anderen Schüler, die morgen ebenfalls die Chu-Nin-Prüfung ablegen werden, sind längst nach Hause gegangen. Niemand von ihnen ist so versessen wie Neji. Gleichzeitig hat von denen auch keiner so viel zu verlieren wie er, wenn er diese Prüfung nicht besteht...

So hört der Junge vornehmlich das Rauschen des Windes, der um die Kronen der zahlreichen Bäume saust, welche an den Trainingsplatz grenzen und ihn jedes Mal bei ihrem Anblick an übermannsgroße Wachposten denken lassen. Hart beißt er die Zähne zusammen und gerade will er damit beginnen, die Formen zu laufen, da spürt Neji einen kleinen Regentropfen auf seiner Nasenspitze zerplatzen, der ihn sekundenlang zögern lässt. Gemeinsam mit einer gehörigen Menge Schweiß wischt er ihn mit dem schlapperigen Ärmel seines schwarzen Anzuges fort.

Tief atmet er durch. Dann hallt sein verzweifelter wie energiegeladener Schrei, mit dem er den klangvollen Namen der Kata über den Platz brüllt, vom Waldrand wider. Elegant hebt Neji die Arme über den Kopf, führt den vorgeschriebenen Stand perfekt aus. Dann wechselt er auf die andere Seite und wiederholt die katzenhaften Bewegungen im langsamen Tempo, ehe er innehält, nur um anschließend die Fäuste wie ein angreifender Tiger zu überkreuzen und mit einem kämpferischen Schritt nach vorn zu stürmen und einen starken Block zu performen, welcher einen tatsächlichen Gegner souverän in die Schranken gewiesen hätte.

Wie oft hat der 17-Jährige das heute schon geübt? Er hat nicht mitgezählt, aber geschätzt kratzt er sicherlich an die 50 Male.

Es ist nicht so, dass Neji glaubt, sein Können wäre dem eines Chu-Nins unwürdig. Seiner Meinung nach hätte er diesen Rang schon vor drei Jahren erreichen müssen. Leider sahen die Hokage Tsunade und sein Onkel Hiashi - zwei der drei Prüfer - das damals anders. Selbst sein Trainer - der dritte Prüfer - Gai vermochte es nicht, die Zwei vom Gegenteil zu überzeugen.

Wenn er daran nur denkt, überkommt den Jungen die Wut. Alle anderen, die seinerzeit mit ihm trainierten, kamen ohne Schwierigkeiten durch die Prüfung, obwohl er fand, dass zumindest zwei davon erheblich schlechter waren, als er. Das hat sogar der Trainer ihm bestätigt und konnte auch nicht erklären, warum man Neji den nächsten Rang versagte, den er ja verdiente!

Die Ungerechtigkeit, mit der er behandelt wurde, hat ihn im Laufe der Jahre charakterlich verändert. Früher war der Junge ein entspannter Mensch, der viel lachte, obwohl er es nie leicht gehabt hat. Aber diese offene Feindschaft von Seiten der Hauptlinie seiner Familie - allen voran der Onkel - weckte in ihm den Wunsch, es ihnen erst recht zu zeigen. Und dafür will er zu den besten Ninjas überhaupt werden. Für dieses Ziel stellt er alles andere hinten an und konzentriert sich wie ein Besessener darauf. Kaum jemand trainiert so oft und heftig wie er.

Keuchend stützt Neji die Handflächen auf die Oberschenkel, nachdem er die Kata durchlaufen hat, und schließt für einige Sekunden die grauen Augen. Morgen muss es klappen! Aus seiner Sicht gibt es nichts, was er noch verbessern könnte. Wenn es gerecht zugeht, wird er bestehen. Doch das hätte er eigentlich vor drei Jahren schon...

Natürlich hat Neji eine Idee, was wirklich der Grund gewesen ist.

Hiashi kann es einfach nicht ertragen, dass der 17-Jährige - der Sohn seines jüngeren Bruders - ein derart begabter Schüler ist und fühlt sich in seiner bisher unangefochtenen Stellung als Oberhaupt des Familienclans bedroht. Zu Recht. Denn der Junge hat sich seit dem Tod des geliebten Vaters geschworen, den verhassten Onkel herauszufordern, sobald er irgendwann stark genug ist. Vor dem gesamten Dorf will er ihn demütigen, denn allein Hiashi ist schuld, dass sein Vater nicht mehr lebt!

Ja, Neji sehnt den Tag wie keinen zweiten herbei, an dem er die verletzte Ehre seiner Eltern endlich rächen kann. Noch ist es allerdings nicht so weit. Einige arbeitsreiche, harte Jahre Training liegen noch vor ihm.

Rasch eilt er auf die andere Seite des Platzes. Mittlerweile hat sich der Regen verdichtet und die Tropfen sind komplexer geworden. Diese Gegebenheiten sind jedoch nicht verantwortlich, dass der Junge sein Training für heute beendet. Nein, er möchte sich ein paar Stunden ausreichenden Schlaf gönnen, damit er bei der morgigen Prüfung ausgeruht ist, um sich konzentrieren zu können.

Vor dem Stamm einer dicken, alten Eiche liegt seine schwarze Tasche mit den roten Henkeln. Aus dieser angelt sich Neji eine Wasserflasche. Sie ist mit noch etwa einem Drittel befüllt, welches er ohne Absetzen austrinkt. Gewissenhaf räumt er sie anschließend zusammen mit den Faust- und Beinschützern, welche er heute Nachmittag für die Partnerübung brauchte, zurück in die Tasche, in welcher sich zudem noch Handtücher, seine normale Kleidung, ein paar Pflaster, Taschentücher, Kekse und Waffen befinden.

Mit der großen Tasche über der Schulter verlässt Neji im stärker werdenden Regen den Platz, ohne sich vorher die Mühe zu machen, sich umzuziehen.

Etwa 10 Minuten hetzt der Junge den Waldweg entlang in Richtung Dorf. Dann umringen ihn die ersten Häuser von Konohas Straßen, allesamt Sozialbauten. Menschen begegnen ihm nicht. Sie haben sich bereits in ihre Unterkünfte zurückgezogen, um sich vor dem Herbstregen zu schützen. Neji ist vollkommen durchnässt und seine Tabis haben sich mit Wasser vollgesogen. Jedes Mal, wenn er auftritt, geben sie schmatzende Geräusche von sich und aus dem Stoff quellen schmale Bäche.

Wenig später steht der 17-Jährige unter der Überdachung vor der Eingangstür zu dem heruntergekommenen Wohnhaus, in welchem er mit seiner Mutter lebt, seit der Vater verstarb. Im Schein einer in der Nähe flackernden Laterne kann man gut erkennen, dass die vor Jahren aufgetragene rote Farbe sich in dünnen und breiten Streifen vom metallenen Untergrund der Tür löst. Mit klammen Fingern öffnet Neji den Reißverschluss seiner Tasche und wühlt kurz in den Sachen herum, ehe er den Hausschlüssel findet.

Seine Tabis hinterlassen feuchte Spuren auf den Stufen, während der junge Ninja nach oben in den dritten Stock steigt.

Völlig außer Atem kommt er schließlich zu Hause an und kickt die Tür hinter sich ins Schloß. Durch die Anstrengung des Trainings hört er noch immer den Puls in den Ohren hämmern und seine Beine fühlen sich leicht zittrig an. Gleichzeitig hat er die Gewissheit, alles ihm Mögliche getan zu haben, um die Prüfung zu bestehen und aus seiner Sicht gibt es keinen Grund, ihn durchfallen zu lassen.

Nein, Neji weiß, dass er gut ist!

Achtlos lässt er die Tasche vor der Tür liegen und will sich ins Bad verziehen, um heiß zu duschen und die Verspannungen in den Muskeln loszuwerden.

"Da bist du ja endlich!", ertönt da die aufgeregte wie erleichterte Stimme seiner Mutter, die gerade aus der Küche um die Ecke biegt, "Ich habe mir schon Sorgen gemacht."

"Warum das denn?", erkundigt sich ihr Sohn verwundert und wischt sich mit dem Handrücken das Regenwasser von den klatschnassen Wangen. Aus seinen schwarzen Haaren fallen Tropfen auf den Boden, was seiner Mutter einen kurzen, missbilligenden Blick entlockt.

"Du hast nichts mitbekommen?!", empört sich Lin und stemmt die Hände in Hüfte, "Klar, den ganzen Tag nur trainiert und das Geschehen um dich herum ausgeblendet... Am Rande des Dorfes wurden heute Mittag Mitglieder der Akatsuki-Bande gesehen und die Hokage vermutet, dass die auch hinter den zahlreichen Einbrüchen stecken, die es in den letzten Tagen gegeben hat. Deinem Onkel wurde eine wertvolle Schriftrolle gestohlen." Vielsagend zieht die schlanke Frau eine schmale Braue nach oben.

"Entschuldige, Mama...", murmelt Neji - zu müde und kaputt, um sich größere Gedanken zu machen, "Aber uns auf dem Trainingsplatz hat niemand was gesagt... Und ganz ehrlich, mir ist es auch egal. Hierher kommen die ohnehin nicht. Wir haben nichts, das für Akatsuki interessant ist... Außerdem hat Hiashi es nicht anders verdient." Den letzten Satz sagt er zwar leise, kann ein schadenfrohes Grinsen jedoch nicht unterdrücken.

Es passiert alle paar Monate mal, dass Dorfbewohner von Angehörigen der Akatsuki überfallen werden. Manchmal schleichen die sich auch verkleidet nach Konoha und brechen irgendwo ein und stehlen Schmuck oder Geld. Meistens jedoch rauben sie Schriftrollen von einflussreichen Familien, die geheimgehaltene Kampftechniken beinhalten. Neji weiß, dass sein Onkel Hiashi viele davon hat und schon oft hat er davon geträumt, selbst in deren Besitz zu gelangen. Wie viel schneller könnte er dann besser werden...!

"Lass' ihn das bloß nicht hören, Neji!", fährt seine Mutter auf und fuchtelt nervös mit den Händen in der Luft herum, "Der sucht doch nur nach Gründen, um dich wieder zu schlagen."

Aggression schwillt in ihrem Sohn, während Lin dies ausspricht und zum x-ten Male am heutigen Tag ballt er entschlossen die sehnigen Fäuste. "Das werde ich nie wieder zulassen!", faucht er, "Soll er es doch versuchen. Ich bin kein kleines Kind mehr." Noch vor einigen Jahren hat sein Onkel keine Gelegenheit ungenutzt gelassen. Da reichte oft schon ein zu unverhohlener Blick von Neji, weil Hiashi es einfach nicht erträgt, dass sein jüngerer Bruder nicht nur die Putzfrau ihrer Eltern geheiratet hat, die nicht einmal aus einem Ninja-Clan stammt, nein, er besaß die Frechheit, mit der auch noch ein Kind zu zeugen. Für ihn eine unerhörte Schande, die auf die ganze Familie Hyuuga zurückfällt und deren hohes Ansehen mindert!

Leise seufzt Lin und meint, dass es klüger ist, den impulsiven 17-Jährigen zu beschwichtigen. "Ich bin so stolz auf dich und dein Vater wäre es ebenfalls, wenn er dich so sehen könnte", erklärt sie überzeugt, "Du würdest diese Verbrecher von Akatsuki schon verjagen, wenn sie unsere Wohnung betreten." Mit einem Lächeln will sie ihn aufheitern. Er sollte sich derart knapp vor der Prüfung nicht aufregen.

"Genau, Mama", stimmt Neji zu und streift sich seine Tabis von den Füßen, "Sollen die ruhig herkommen." Zu ihrer Erleichterung grinst er sogar wieder über den eigenen Scherz. Dabei ist ihnen natürlich beiden klar, dass er auf seinem jetzigen Level keine Chance gegen die abtrünnigen Ninjas von Akatsuki hätte. Nicht umsonst werden sie landesweit gesucht und nicht umsonst ist dies schon seit Jahren ohne Erfolg geblieben. Nur die Besten werden in dieser Organisation aufgenommen und keine x-beliebigen Gauner...

In Wahrheit würde Neji gegen jeden von denen verlieren und es ist gut, dass er ihnen heute nicht begegnet ist. Sonst wäre er wohl nicht mehr am Leben.

"Gehst du duschen? Dann mache ich dir eine Hühnernudelsuppe fertig", schlägt Lin vor.

Wenig später steht die schwarzhaarige Frau in der Küche und befüllt den Wasserkocher aus dem Hahn. Anschließend holt sie eine viereckige grüne Schüssel aus dem Schrank unter der Spüle und öffnet eine Packung Instant-Nudelsuppe der Geschmacksrichtung Huhn. Die geballten, harten Nudeln haften aneinander und um sie zu trennen, zerbricht Lin sie mit ihren Händen in kleine Stücke, bevor sie sie in die Schüssel legt. Gewissenhaft schneidet sie das winzige, durchsichtige Päckchen, in welchem sich das Fett befindet, auf und träufelt es über die Nudeln. Nun fehlt noch die Würzmischung. Nachdem die Nudeln damit berieselt wurden, muss sie bloß noch warten, dass das Wasser kocht...

Obwohl Lin es vor ihrem Sohn zu verstecken versucht, ist auch sie schon seit Tagen unruhig und alles nur wegen der bevorstehenden Chu-Nin-Prüfung. Wenn Hiashi wieder dafür sorgt, dass Neji durchfällt, dann wäre das zweifellos der Anfang vom Ende. Noch so eine Demütigung würde der Junge nicht vertragen. Schon heute hält er die Peinlichkeit kaum aus, mit Trainingspartnern zu üben, die drei Jahre jünger sind als er. Zumal es auch nicht gerecht ist. Zwar versteht sie nicht allzu viel davon, weil sie keine Kunoichi ist, aber sie verlässt sich auf die Meinung ihres Sohnes und dessen Trainers, wenn die sagen, dass er den Rang eines Chu-Nin schon damals verdient hatte, weil sein Können tadellos ist. Ja, Neji wäre heutzutage sehr viel weiter fortgeschritten in dieser Kunst!

Alles bloß, weil Hiashi so ein Ekel ist. Nie grüßt er Lin, wenn er der Frau seines toten Bruders begegnet und sie hat es sich umgekehrt auch abgewöhnt, ihn zu grüßen. Und überall verbreitet er Schlechtes über ihren Sohn. Dass der unbegabt ist und nie ein guter Ninja aus dem wird! Verärgert gießt sie das heiße Wasser über die Nudeln. Da hört sie die Badtür aufgehen.

Neji fühlt sich richtig erfrischt nach seiner Dusche. Wasserdampf wabert in den Flur, als er das Bad verlässt und sich zu seiner Mutter an den Küchentisch setzt. "Morgen koche ich wieder", verspricht er ihr, "Zur Feier des Tages." Meistens ist er derjenige, der kocht, denn Lin arbeitet viel und ist eigentlich nicht vor 18 Uhr zu Hause. Außerdem hat sie einfach kein Händchen dafür.

"Ich habe gedacht, dass wir nach der Prüfung in ein Restaurant gehen. Das hast du dir wirklich verdient", erwidert sie.

Freudig leuchten Nejis graue Augen auf. "Danke, Mama", sagt er strahlend und eilt auf die andere Seite des Tisches, um sie kurz fest zu drücken. Oft können sie sich das nicht leisten.

"Schon gut, iss' lieber", meint Lin, "Und dann geh' schlafen. Es ist spät genug."

Nach einer halben Schüssel Suppe gibt Neji schließlich auf und verabschiedet sich in sein Zimmer. Mehr schafft er nicht, weil die Aufregung ihm nicht mehr gönnt. Ihr hat er es auch zu verdanken, dass er sich noch über Stunden im Bett herumwälzt oder mit weit aufgerissenen Lidern an die Decke starrt, ehe er endlich in den Schlaf findet, der von sinnlosen Traumbildern regiert wird.