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Etwas zerbrach in ihm in eben diesen Moment, in dem er seine Patentochter erstmalig auf den Arm nahm. Es war nicht etwa sein Herz, von dem er behauptete, dass es niemals brechen könnte, weil es ein Muskel war und Muskeln nicht „zerbrachen", sondern seine Maske. Seine Maske und alles, was dahinter steckte.

John Watson hatte ihm, Sherlock Holmes, seine Tochter Elizabeth Sherly in den Arm gedrückt. Und Sherlock war wie angewurzelt stehen geblieben und hatte leicht panisch auf das Neugeborene herab gestarrt, da er Bedenken hatte, er könne es fallen lassen. Aus Unachtsamkeit oder Unerfahrenheit. Oder einfach nur, weil er Sherlock Holmes war.

„Sie mag dich", gurrte John, offensichtlich noch im Glücksrausch der gerade erlebten Geburt.

„Unsinn, John. Sie ist 20 Minuten alt und somit..."

„Halt die Klappe, Sherlock!"

Mary schoß mit ihrem Handy ein Foto. Hieß es nicht, dass Frauen nach der Geburt müde seien und der Ruhe bedurften? Wieso hatte sie ihr Handy in Griffweite?

„Das bekommt einen Ehrenplatz in ihrem Babybuch. Dein Gesichtausdruck, Sherlock, ist einmalig!", Mary speicherte das Bild und schickte es auch gleichzeitig an Mrs. Hudson und Lestrade. So etwas hatte man noch nie gesehen:

Sherlock Holmes mit einem Baby auf dem Arm.

Was die frisch gebackenen Eltern nicht sahen, weil es sich tief in Sherlock abspielte, und seinen wohl geordneten Gedankenpalast nahezu in Stücke sprengte, war die Erkenntnis, dass von ihm nichts auf der Welt zurückblieb, wenn er irgendwann versterben würde. Er würde in totale Vergessenheit geraten, so, als hätte er niemals gelebt. John und Mary hingegen,...Elisabeth wäre der Beweiß ihrer Existenz und ihre Kinder...

Gefühle...?

Nein, er lebte immer nur im hier und jetzt, an die Zukunft verschwendete er kaum einen Gedanken, weil sie in seinem Weltbild nur eine geringe Rolle spielte.

Erleichtert atmete er auf, als John ihm das kleine Wesen wieder abnahm. Was auch immer gerade passiert war, Sherlock Holmes, verstand es nicht wirklich und war nahezu geschockt, überwältigt und verängstigt. Ein Zustand, der ihm so gar nicht gefiel und dem er rasch Abhilfe verschaffen musste. Allein schon das Aufräumen und Renovieren in seinem stark Einsturz gefährdeten Gedankenpalast bedurfte es wahrscheinlich unzählige Stunden. Und das alles nur wegen eines Babys!


Die Fakten:

Sherlock Holmes wollte ein Kind, jemanden, an dem er sein Wissen weitergeben konnte.

Sherlock Holmes war nicht gemacht für Beziehungen oder gar das Eheleben, und somit ein denkbar schlechter Kandidat für die Partnerwahl.

Sherlock Holmes verstand von Kleinkindern in etwa soviel wie Bienen von Atomphysik.

Fazit:

Der plötzliche Plan, sich fortpflanzen zu wollen, war im Prinzip dazu gezwungen, schon in der Keimzelle zu scheitern. Allein schon dem Mangel einer Eizelle inklusive dazugehöriger Wirtin war schwerlich Abhilfe zu leisten!


„Ah, Molly! Genau die Person, die ich gesucht habe!"

Molly fuhr erschrocken zusammen, als Sherlock Holmes am frühen Morgen mit wehendem Mantel durch die Türen der Leichenhalle kam. Es passierte nur noch selten, dass er sie derart kalt erwischte, aber wer rechnete schon um halb fünf mit Besuch? Selbst für Sherlock war diese Zeit ungewöhnlich.

„Guten Morgen?", brachte sie heraus, mehr fragend als grüßend.

Sherlock blieb direkt vor ihr stehen. Er musterte sie von oben bis unten mit seinen alles durchdringenden Augen.

Molly hatte sich nach wenigen Momenten wieder gefasst und wartete darauf, dass Sherlock den Grund seines Erscheinens kund tat, doch er schwieg, blickte sie nur an. Sie seufzte.

„Was kann ich für dich tun? Ich sage es lieber im Vorfeld, ich habe keine interessante Leiche für dich. Nur gewöhnliche Suizide und natürliche Todesfälle."

„Deswegen bin ich nicht hier."

„Oh? Nun, solltest du nach weiteren Experimentiermaterial fragen wollen, ich habe nichts Neues hereinbekommen, seitdem du heute,...uhm, gestern morgen mit einer Kühlbox aufgebrochen bist."

Sherlock blinzelte und trat noch einen Schritt näher auf Molly zu. Die junge Frau, die hinter einem Mikroskop saß und Proben begutachtete und auswertete, begann sich Unwohl zu fühlen. Es war nicht ungewöhnlich für Sherlock, ihr so nah zu treten, doch das tat er immer nur dann, wenn er etwas von ihr wollte. Dann flirtete er und machte ihr Komplimente. Und wenn er dann hatte, was er begehrte, Leichenteile, einen Blick auf ein Opfer, eine Probenauswertung zu nächtlicher Stunden, wurde er eiskalt und rüde. Es war stets das gleiche Spiel. Manipulation. Darin war Sherlock Holmes ein Meister. Und Molly ein perfektes Opfer. Sie konnte ihm selten, eigentlich nie, etwas abschlagen.

Sherlock begann zu sprechen, als Molly einige Petrischalen neben dem Mikroskop neu zu ordnen begann, um seinen Blick aus zu weichen.

„Molly, ich gedenke, mich mit dir fort zu pflanzen."