„Auf dem Grabstein dieser Welt wird dereinst stehen: ‚Ein jeder von Ihnen hatte nur das Beste gewollt – für sich selbst!'"
Náin, Sohn des Grór * 2665 D.Z. – † 2799 D.Z.*
Prolog
Dol Lorn / Dunland, 2790 D.Z.
Die Sonne stand bereits tief und die Schatten des Nebelgebirges fielen weit über die Ebenen des Dunlands, wenngleich es noch früh am Abend war. Der Winter nahte, ungnädig und unaufhaltsam. Mit ihm würde die Kälte kommen und das öde Land in Enedwaith mit einem Schleier aus Düsternis und Dumpfheit überziehen.
Thorin schmeckte den nahen Schnee in der Luft und roch den Nachtfrost, der über das graue Gebirge gekrochen kam. Sein Blick ging zu den Hängen des Esgal hinauf, an dessen Fuß die Menschenstadt Dol Lorn lag – einsam und vergessen in den kargen Hügeln des Dunlands. Schnee lag auf dem Gipfel des steinernen Riesen. Es würde eine unwirtliche Nacht werden. Die erste von vielen, denn die Winter im Dunland waren lang und dunkel.
Unwillkürlich zog er den fellbesetzten Umhang enger um seine Schultern, als er sich vom Anblick des schneebedeckten Berges abwandte und die Tür aufstieß, vor der er Halt gemacht hatte. Trockene Hitze schlug ihm entgegen, während stinkender Rauch in seine Nase stieg und sich in seine Kleider zu setzen begann. Und doch erschien ihm nichts so behaglich und vertraut, wie der Geruch des Feuers in der Esse und die Hitze des glühenden Eisens, das nur darauf zu warten schien, dass er ihm eine neue Form gab, einen neuen Zweck.
Tulesch stand an der Esse und trieb mit einem Balg Luft in die Glut, um sie auf die richtige Temperatur zu bringen. Er blickte auf, als Thorin die Tür hinter sich schloss. Das Gesicht des blutjungen Zwergs glänzte von Schweiß und auf seinen glutroten Wangen und der Stirn hatte er Schlieren von Ruß. Er war sichtlich außer Atem, als er anhielt sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Balg zu werfen, um einen kräftigen Luftstrom zu erzeugen. „Wo ist Frerin?", fragte er keuchend und wandte sich wieder dem Feuer zu.
„Nicht hier", antwortet Thorin knapp zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Ich brauche Holz, oder das Feuer wird bald ausgehen", erwiderte Frerin, der kurz von seiner Arbeit abließ, um sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn zu wischen und mit einem Kopfnicken auf den fast leeren Holzkorb zu seinen Füßen deutet.
„Er wird schon kommen", gab Thorin scharf zurück, als er die Fibel seines Umhangs öffnete. Es hätte nicht deutlicher sein können, dass er nicht über seinen Bruder sprechen wollte, hätte er es ausgesprochen. Er zog den schweren Wollstoff von seinen Schultern und wollte ihn auf einen Haken zur Linken der Tür hängen, als ihn eine helle, nur zu vertraute Stimme zusammenfahren ließ.
„So, dann wagt es also am Ende doch einer gegen den Herrn Thorin, Sohn des Thráin und Enkel des großen Thrór aufzubegehren!"
Sie hatte unter dem Fenster neben der Tür auf einem Schemel gesessen, so dass Thorin sie nicht gesehen hatte, als er herein kam. Als er sich umwandte, um seinen Umhang aufzuhängen, hatte sie plötzlich vor ihm gestanden, Stolz und Eigensinn in den grauen Augen und mit einem Grinsen im Gesicht, das von einem Ohr zum anderen reichte.
Ohne etwas auf die Worte des Mädchens zu erwidern hing er seinen Umhang weg, trat auf Tulesch zu und packte ihn grob am Arm. „Was tut sie hier?", zischte er, sichtlich wütend. „Du weißt, dass ich sie hier nicht haben will."
Verwirrt blickte Tulesch zu dem deutlich größeren Thorin auf. Der junge Zwerg mochte klein sein, doch war er kräftig und keinesfalls hager. Dennoch traute er sich nicht gegen seinen Herrn aufzubegehren und wandte sich in dessen kräftigem Griff. „Was soll ich denn tun?" stammelte er, „Mutter wollte, dass ich auf sie achtgebe und sie hat darauf bestanden, dass ich sie mit hernehme. Und ihr wisst doch, warum sie kommt. Ignoriert sie einfach."
Zornig stieß Thorin Tulesch von sich. „Auf sie Acht geben?" fragte er herablassend und zeigte mit einer wischenden Bewegung seiner Hand auf das Mädchen, dass mit vor der Brust verschränkten Armen die beiden Männer stumm beobachtete. „Nun ja, sie ist schließlich meine Schwester", sagte Tulesch.
„Der Wechselbalg ist fünfzehn Jahre alt. Ich habe mir sagen lassen, dass das auch für einen Menschen ein Alter ist, in dem man getrost ein gewisses Maß an Vernunft von ihm erwarten kann. Also schaff sie mir aus den Augen, oder ich tue es."
Aufgebracht griff Thorin nach einem der Schürhaken, die neben der Esse hingen, trieb ihn heftig in die Glut und ließ die Funken nur so aufstoben. Mit glühenden Augen starrte er auf seinen Gehilfen. Tulesch hielt sich den Arm, als wolle er den Schmerz fort reiben, den Thorins Griff hinterlassen hatte. „Naja, genau genommen ist sie kein Mensch", stammelte Tulesch.
„Und doch ist dieser vorlaute Bastard ganz sicher keiner der unseren", Thorin Stimme zitterte vor Zorn. „Was durch die Adern dieses Bankert** rinnt, hätte nie gemischt werden sollen!"
„Ich bin noch immer hier!" rief das junge Mädchen aufgebracht. Ungehalten trat sie auf Thorin zu, der sich noch immer die größte Mühe gab, sie in aller Deutlichkeit zu übersehen. „Warum lasst ihr euren Zorn an meinem Bruder und nicht an mir aus, wenn euch doch meine bloße Anwesenheit schon solchen Gram beschert? Oder ist es am Ende der ewig schwelende Ärger auf euren Bruder, dem ihr euch Luft macht?"
„Halt den Mund, Nereley!" fuhr Thorin sie an und zornglühend fiel sein Blick auf sie. Das Grinsen schlich zurück in ihre Züge. Langsam kroch es von ihren Mundwinkeln hinauf zu ihren Augen und ließ ihren Blick Funken sprühen. „Er hat euch versetzt", stellte sie fest und wippte auf den Fersen, wie ein Schulkind, das sich freute endlich verstanden zu haben.
„Was?", fragte Thorin irritiert und ließ den Schürhaken in die Glut fallen. Tulesch, der stumm wie ein Fisch der Auseinandersetzung zwischen Thorin und seiner Schwester folgte, japste auf, als er das Eisen fallen sah und wollte schon danach greifen, als er sich eines Besseren besann. Vorsichtig wich er ein paar Schritte zurück, als Thorin auf Nereley zutrat. Tulesch wusste, dies würde böse enden und ihm stand nicht der Sinn danach, zwischen seinen Herrn und seine Schwester zu geraten. Der Enkel seines Königs war gewiss niemand, dem man sich gern und ungestraft in den Weg stellte.
„Er hat euch versetzt", wiederholte Nereley und spuckte die Worte geradezu in Thorins Gesicht. „Frerin hat euch einmal mehr versetzt. Er hätte lang vor euch hier sein sollen und doch überrascht es euch nicht, dass er nicht hier ist. Er hat schon vor geraumer Zeit aufgehört das zu tun, was ihr ihm geheißen."
Ihr Blick bohrte sich in Thorins dunklen Augen. Der Schalk saß ihr im Nacken und schien mit jedem Wort größer zu werden. War es das, was er so sehr an ihr hasste? Diese naive Selbstsicherheit, die sie glauben machte gegen alles und jeden aufbegehren zu können, die es ihr gestattete Dinge auszusprechen, die andere nicht gewagt hätten zu denken? So lächerlich gering war ihre Anschuldigung, so haltlos und unbedacht – er wusste, er sollte sie auslachen und wie einen ungewollten Hund vor die Tür setzen. Stattdessen wandte er sich langsam wieder dem Feuer zu und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand die müden Augen.
„Das hier hat nichts mit Frerin zu tun und nun verschwinde endlich Nereley, bevor ich dich hinaus prügle." Seine Stimme klang seltsam erschöpft, als wäre er es überdrüssig mit ihr zu sprechen. Er wollte gerade nach einem zweiten Schürhaken greifen, als er die Stimme des Mädchens auf ein Neues in seinem Rücken hörte.
„Ihr tätet besser daran euch an mich und meine Art zu gewöhnen, Thorin, Sohn des Thráin. Es ist die Art derer, die euch überdauern – nein, die euch überwinden werden. Die Art eures Bruders, der es gewagt hat gegen euch aufzubegehren. Die Art derer, die Durins Volk wieder auf seinen angestammten Pfad zurückführen werden. Denn es war immer Ungehorsam, der den Fortschritt brachte – Ungehorsam und Aufsässigkeit."
Sie zitterte am ganzen Leib vor Aufregung und Rage. Mit jedem Wort war sie lauter geworden. Jede Sehne in ihrem Körper schien zum Zerreißen gespannt, als sie Thorin lauernd beäugte, wie die Katze ihre Beute – bereit zum Sprung.
Doch Thorin schwieg. Noch immer drehte er ihr den Rücken zu, den Blick starr auf die nur noch schwach lodernde Glut gerichtet. Der Moment schien ewig anzudauern, während Nereley darauf wartet, dass er sich wehren würde, und er zog sich ins schier Endlose, mit jeder Minute, die verstrich, jeder Minute in der der Zwergenprinz, den sie so sehr zu verachten schien, nichts sagte oder tat.
Doch schließlich brach Thorin die unheilvolle Stille. „Du weißt nicht, wovon du sprichst Kind", sagte er, nicht mehr und nicht weniger und schaute dabei wie beiläufig über seine Schulter zu dem Mädchen, das noch immer darauf wartet, dass er zum Gegenschlag ausholte.
Tulesch starrte gebannt auf seine Schwester, wissend, dass sie sich mit diesem Ende nicht zufrieden geben würde. Ein Ruck ging durch ihren Leib und jede Heiterkeit erstarb auf ihren Zügen, um Zorn und unverhohlener Abscheu Platz zu machen.
„Ist das alles, was ihr zu sagen habt?" fragte sie mit bebender Stimme, doch Thorin fuhr fort sie zu ignorieren. „Wollt ihr wirklich nicht mehr dazu sagen? Dann enttäuscht ihr mich einmal mehr und nicht nur mich. Es war weise von eurem Großvater, euch zurück zu lassen, euch zu misstrauen und seinen Weg nach Khazad-dûm allein zu gehen. Wenn euer Vater um die Schwäche seines Erben wüsste, er täte wahrlich gut daran, euch fort in die Eisenberge zu schicken und das Geschick unseres Volkes jemandem zu überlassen, in dessen Brust ein echtes Kämpferherz schlagt."
Sie warf ihm die Worte voll Bitterkeit entgegen. Die Hände zu Fäusten geballt, schrie sie die letzten Worte fast, als Thorin unvermittelt herum fuhr und sie mit der flachen Hand hart ins Gesicht schlug. Nereley taumelte erschrocken zurück. Betäubt starrte sie den Zwergenprinzen an, doch sie widerstand dem Impuls sich die Wange zu halten wie eine gescholtene Magd. Er sah, wie sie die Zähne aufeinander biss und die Tränen niederrang, als er einen Schritt auf sie zu trat und sie an den Schultern packen wollte.
Doch dieses Mal sprang Tulesch dazwischen und hielt seinen Herrn zurück. „Es reicht, Meister Thorin. Ich denke, sie hat es verstanden", sagte er beschwichtigend und hielt Thorin fest an beiden Oberarmen gepackt.
Doch Nereley schien noch längst nicht begriffen zu haben. „Ist das alles, was ihr könnt?" fragte sie geringschätzig mit einem hohnschwageren Lachen in der Stimme.
Thorin wollte sich an Tulesch vorbei schieben, doch dieser hielt ihn mit festem Griff zurück. „Es war ein Fehler", sagte Thorin. „Dieser Ort, diese Stadt waren ein einziger Fehler!" und mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter. „Wir hätten den Menschen kein Vertrauen schenken sollen."
Nereley lachte laut auf. „Da mögt ihr recht haben, Thorin. Doch ihr könnt der Wahrheit nicht entkommen. Wer flieht, läuft seinem Schicksal geradewegs in die Arme. Ihr könnt dem euren nicht entkommen, ihr werdet niemals König sein."
„Biest", schrie Thorin, riss den Arm hoch und stieß Tulesch beiseite. Nereley versuchte noch ihm auszuweichen, doch er bekam ihre Schultern zu fassen und hielt sie fest. Seine Finger gruben sich tief und hart in ihr Fleisch und plötzlich war es nichts als Angst, die in ihrem Blick lag. Nackte, hilflose Angst, als ihr die Beine versagten und sie in die Knie ging. Thorin zitterte vor Zorn und er wollte gerade anheben etwas zu sagen, doch da flog die Tür zur Schmiede laut auf.
Frerin stand auf der Schwelle, schwer atmend, als wäre er gerannt. Er hielt die Türklinke noch immer fest umklammert, als er auf seinen Bruder blickte, der Nereley fest an den Schultern gepackt hielt.
„Thorin?" sagte er atemlos. Je ließ dieser von dem Mädchen ab und wandte sich seinem jüngeren Bruder zu. „Wo bist du gewesen?" wollte Thorin wissen und noch immer war seine Stimme ein Meer lodernder Flammen, die alles zu versengen drohten. Doch Frerin starrte ihn sekundenlang stumm an, bis er schließlich sagte: „Nár ist zurückgekehrt!"
Das Blut wich aus Thorins Wangen. Ein seltsam ungutes Gefühl packte ihn und erst jetzt erkannte er, dass sein Bruder tatsächlich gerannt sein musste. Schweiß perlte auf Frerins blasser Stirn, seine Brust hob und senkte sich noch immer merklich, als er nach Luft rang.
„Thrór?" fragte Thorin, doch Frerin blieb stumm. Er presste die Lippen aufeinander und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Für einen Moment schien es, als wankte Thorin. Er wischte sich mit einer fahrigen Geste der Hand über die Augen, doch dann sprang er an seinem Bruder vorbei auf die Straße in Richtung des Hauses seines Vaters.
Er hörte Frerin, der nach ihm rief. Doch er hielt nicht inne. Vergessen waren der Streit mit Nereley und der Zorn über die Worte des Mädchens, als er das Haus Thrains erreichte. Die Tür stand offen und bereits in der kleinen Halle hörte er die harte, zornerfüllte Stimme seines Vaters und jene eines seiner Heerführer. Er rannte noch immer, als er endlich in jenem Raum anlangte, in dem sein Vater seinen Rat zu versammeln pflegte.
Als die Anwesenden sich des Prinzen gewahr wurden, verstummte jeder Laut in dem großen Raum, in dessen Mitte sein Vater mit einigen anderen Zwergen um einen Tisch stand. Nár, der Knappe seines Großvaters, saß zusammengesunken auf einem Stuhl. Sein linker Arm hing leblos an seiner Seite und schien seltsam verdreht. Sein Gesicht war schmutzig von Dreck und trockenem Blut. Ein Auge war so stark zugeschwollen, dass es fraglich schien, ob er je wieder auf diesem würde sehen können. Er war mehr tot als lebendig und unwillkürlich fragte Thorin sich, was ihm auf seiner Fahrt nach Moria, die er vor kaum einem Mond gemeinsam mit seinem König Thrór angetreten hatte, wiederfahren war. Doch mehr als das, wollte Thorin wissen, was mit seinem Großvater geschehen war, denn er hatte den Raum vergeblich nach dem alternden König abgesucht - er war nicht hier.
Wie durch dichten Nebel vernahm er Frerins Schritte, welcher nun das Haus betrat und keuchend hinter seinem Bruder stehen blieb. Langsam trat Thorin in den Raum und auf den Tisch zu, auf dessen fleckiger Platte ein blutverschmiertes Leinenbündel lag. Mühsam löste er den Blick von dem Klumpen Stoff auf dem Tisch und sah zu seinem Vater, der nun seltsam ruhig schien. Für einen kurzen Augenblick starrten Vater und Sohn sich nur schweigend an, doch Thráins dunkle, donnernde Stimme brach schließlich die Stille.
„Nár bringt Nachricht aus dem dunklen Abgrund, der einst Durins stolze Hallen war", sagte Thráin, hob den Arm und deutete auf das Bündel auf dem Tisch. „Wir haben keine Wahl Sohn, darauf kann es nur eine Nachricht geben!"
Mühevoll löste Thorin den Blick von seinem Vater und betrachtete das Bündel, dass starr und unheilverheißend noch immer auf dem Tisch lag. Langsam streckte er die Hand aus und schlug den blutfeuchten, stinkenden Stoff zurück. Angewidert wich er einen Schritt zurück. Er wollte den Blick abwenden, doch dann zwang er sich hinzusehen. Gequält blickte er in die toten Augen seines Großvaters, dessen Gesicht so zerschunden war, dass Thorin ihn kaum wieder erkannte. Der Anblick brannte sich in den Geist des jungen Zwergenprinzen und trieb einen schier unbändigen Wunsch auf Rache empor. Mit zitternder Hand griff Thorin nach dem Schädel Thrórs und drehte ihn so zu sich, dass er erkennen konnte, was auf der Stirn des toten Königs prangte. Es war ein Wort, geschrieben in den alten Runen seines Volkes. Ein Wort, dass sich in seine Seele fraß und das er nie wieder vergessen sollte: Azog!
* Was wahr ist, muss wahr bleiben: Das hier angeführte Zitat wurde Náin nur in den Mund gelegt und stammt so, oder zumindest so ähnlich von Siegfried Lenz.
** Bankert: von Bank; „auf der Schlafbank der Magd gezeugt"; Mischling
