Titel: Tasting Silence

Teil: 1/1

Autor: Shiva

Email: Shiva_is_back@yahoo.de

Pairing: AyaxSchu

Disclaimer: Nein, Weiß Kreuz gehört mir nicht.

Kommentar : Ich dachte, ich poste noch was, was bereits fertig

ist. Der letzte Teil von Weil Gott gestorben ist, ist noch nicht fertig,

weil... Ihr kennt das ja sicher mit den Lemon-Scenes

Tasting Silence

I see people with no faces

Lost souls searching helplessly

All their words, they leave no traces

Hatred rising deep in me

But someone who I never saw before

Pushed my hatred way up high

A former foe from former times

A fog of memories passing by

Although I do know you

Although you bear no guilt

Although you seem so innocent

I feel the need of killing you

A presence I want to annihilate

No reasons for feeling this intense

I lose myself in dreams of killing

I lose control and every sense

Trying to be rational

To control myself again

Find a reason for this all

But this search will be in vain

- Prolog -

Der Junge weinte, klammerte sich an den Rock der Mutter.

„Mama !! Hilf mir !! Bitte !! Mach, dass sie weggehen !!", heulte er.

Seine Mutter sah ihn hilflos an, presste die Hände vor den Mund.

"Ich kann dir nicht helfen !! Lass los !!", wimmerte sie, ging einen

Schritt zurück.

„Mama !! Warum sind sie so laut ?!! Hilf mir !!", flehte er.

Inzwischen hatte er das Kleid seiner Mutter losgelassen, um mit

beiden Händen gegen seine Ohren zu drücken.

„Ein Kind des Teufels ! Es hört Stimmen !!", zischte seine

Großmutter, starrte ihn mitleidslos an.

„Sag das nicht ! Es ist doch nicht seine Schuld !", versuchte

seine Mutter ihn zu verteidigen.

„Er muss fort. Am besten ins Heim der ‚Singenden

Tränen'…", knurrte die Alte, warf dem zitternden und

schreienden Kind einen eisigen Blick zu.

Die junge Mutter sah sie mit nassen Augen an.

„Aber… Er ist mein Sohn… Ich kann doch nicht…"

„Es ist besser so. Für ihn und für uns. Er ist nur eine Last.", behaarte

die Großmutter, piekste den Jungen mit ihren langen, knochigen

Fingern in die Seite. Das Kind zuckte zusammen, weinte weiter.

„Kind des Teufels."

*

„Mama ? Was ist los ? Warum muss ich in den Käfig ?", wimmerte

der Junge, krallte die dünnen Finger in das Gitter.

„Sei still ! Du musst nur solange hier bleiben, bis die Stimmen fort

sind. Dann hole ich dich wieder ab.", versprach die Mutter mit

gehetztem Blick.

„Was ?! Aber… Mama !! Geh nicht weg !!! Mama !! Bleib hier !!

Mamaaaa !!", schrie der Junge verzweifelt, als seine Mutter

eilig davonlief.

*

Wimmernd hockte der Junge in der Ecke, hielt sich den Kopf.

Immer wieder drang ein erstickter Ruf nach seiner Mutter aus

seiner Kehle. Ihm war kalt, er war hungrig und der Lärm in seinen

Kopf wollte nicht aufhören. Hunderte von Stimmen erhoben sich

zu einer nahezu unerträglichen Kakophonie des Irrsinns in seinen

Gedanken. Er hatte Probleme, die Stimmen von seiner eigenen zu

unterscheiden.

„Ich will sterben…", winselte er, sank auf den kalten, schmutzigen

Boden seines Käfigs.

„Hey ! Du ! Wach auf ! Oder willst du nichts essen ?!"

Das Kind blinzelte hilflos, bemerkte den Wärter mit dem mitleidigen

Lächeln und der kleinen Schüssel mit Brei in seiner Hand.

Mit schwankenden Gliedern kroch er auf allen Vieren zur Gittertür,

nahm das Essen mit großen, verweinten Augen an. Der Wärter

nickte ihm aufmunternd zu.

„Wein jetzt nicht mehr. Sonst holt deinen Mama dich nicht

ab.", erklärte er dem Jungen.

Mit ernstem Nicken und bebenden Lippen stellte er die Schüssel

ab. Zitternde Finger krallten sich in das Gitter.

„Wenn ich nicht mehr weine…", krächzte er.

„Dann holt deine Mutter dich ab.", behauptete der junge Wärter.

„Dann weine ich nicht mehr…" Hoffnung leuchtete in den großen

Augen des Kindes auf.

„Gut so."

Sein Gegenüber wandte sich ab, ging mit einem traurigen Lächeln

zum nächsten Käfig.

„Viel Glück."

*

„Und wer ist das ?"

Der neue Heimvorsteher betrachtete das seltsame Kind mit dem

grellen Haar und den großen, traurigen Augen.

„Der kleine Deutsche, der Stimmen hört.", erklärte ein junger Wärter.

„… Ganz schön ruhig, dafür, dass er schizophren ist…", murmelte

der Ältere.

„… Sie haben ihm gesagt, seine Mutter holt ihn hier weg, wenn er

nicht mehr weint… In den ersten zwei Monaten hat er permanent

geschrieen und geweint. Er hat die Wärter fast wahnsinnig gemacht."

Sein Vorgesetzter nickte.

„Besser, wir lassen ihn in dem Glauben."

*

- 1. -

Aya starrte missmutig vor sich hin, während sein Vater sich mit dem

Heimvorsteher unterhielt. Seine Mutter tätschelte ihm den Kopf.

„Die armen Kinder hier…", seufzte sie.

„Warum müssen wir hier herkommen ?", fragte Aya mit grollender

Stimme.

„Nun, mein Schatz, wir wollen uns dieses Heim ansehen, um zu

entscheiden, ob wir dem netten Herrn dort etwas spenden wollen…"

Aya verdrehte die Augen, als sie wieder anfing, mit ihm zu sprechen,

als wäre er erst Fünf.

„Was ist das für ein Heim ?"

„Oh, ein Heim für Kinder, die nicht richtig im Kopf sind.", sagte

sie fröhlich.

Verständnislos starrte er seine Mutter an, dann schüttelte er nur

den Kopf, wartete weiterhin auf seinen Vater.

Dieser deutete ihm mit einer knappen Handbewegung an, näher

zu kommen und dem Heimvorsteher zu folgen, um sich das Heim

anzusehen.

*

Gelangweilt schritt Aya die Käfige ab, in denen Kinder zu zweit

saßen und brüllten. Die Käfige schienen früher von Hühnern

bewohnt zu sein, jedenfalls klebten Hühnerfedern an den Gittern

und Vogeldreck haftete an den Käfigböden. Kleine Kinder mit eng

beieinanderstehenden Augen wie Mongolen gaben erstickte

Laute von sich, streckten die Zunge heraus und ruderten mit den

Armen. Der Gestank von Urin stieg Aya in die Nase und er hielt

sich eilig ein parfümiertes Tuch vor die Nase. Einige Kinder wurden

von Krämpfen geschüttelt, wieder andere starrten nur dumpf vor

sich hin. Eines der Kinder sah aus wie ein alter, geschrumpfter

Zwerg, der ihn feindselig anstarrte. Als sich das Kind anschickte,

ihn anzuspucken, ging er eilig weiter.

Er war beinahe am Ende der Käfigreihe angekommen, als ihm ein

Kind auffiel, das allein in seinem Gefängnis saß. Neugierig

brachte er die letzten Meter hinter sich, warf noch einen

desinteressierten Blick auf einen Jungen, der gurgelnd auf seiner

Matratze lag und sich nicht daran zu stören schien, dass sein

Käfiggenosse immer wieder seinen Kopf gegen seinen Bauch

schlug.

Der magere Junge im letzten Zwinger saß in einer Ecke und

blickte geradeaus. Seine Hände zitterten leicht und auch seine

Unterlippe bebte, als müsste er sich vom Weinen abhalten. Als

Aya näher trat, zuckte der Junge plötzlich zusammen. Verstört

sah er sich um, dann entdeckte er Aya. Mit leicht geöffneten

Lippen kam er auf allen Vieren auf Aya zu.

Der Junge mit dem seltsam gefärbten, strähnigen Haar sah ihn

mit seinen großen, jadegrünen Augen an. Aya betrachtete ihn

fasziniert.

„Hallo…", wisperte er mit einer brüchigen, leisen Stimme.

„… Hallo…", antwortete Aya langsam.

Sie starrten sich eine Weile in die Augen. Der Gefangene

erschauerte plötzlich sichtbar, drängte sich enger an das Gitter.

„Hilf mir…", hauchte der Junge, der nicht älter als 13 sein konnte.

„Wie ?", fragte Aya automatisch, ohne darüber nachzudenken.

„Hol mich hier weg. Behalt mich bei dir… Du bist so ruhig… Ich

höre die Stimmen nicht mehr, seit du hier bist…", zirpte er sanft.

„Stimmen ?"

„Hilf mir. Bitte…", flehte er, sah ängstlich zu dem Heimvorsteher,

der ihn misstrauisch beobachtete.

Aya betrachtete ihn noch einmal, berührte zaghaft die Hand,

die sich in das Gitter gekrallt hatte.

„Wie heißt du ?", fragte er vorsichtig.

„Schuldig…", erwiderte der Junge unsicher.

Lächelnd nickte Aya ihm zu.

„Ich werde dir helfen, Schuldig…", versprach er.

Dann drehte er sich um und ließ Schuldig allein, der hilflos

zusammenzuckte, als die Stimmen zurückkehrten.

*

„Vater !"

Die beiden Erwachsenen sahen sich zu Aya um, der sie ernst

ansah.

„Was möchtest du, Aya ?"

„Ich möchte eines der Kinder mitnehmen."

Ayas Vater blinzelte verduzt.

„Du willst ein behindertes Kind mit nach Hause nehmen ?"

„Ja. Schuldig."

Er deutete auf Schuldigs Zwinger. Der Heimvorsteher zog die

Augenbrauen zusammen.

„Das ist Schuldig, der Sohn deutscher Einwanderer… Er hört

Stimmen.", erklärte er.

„Aya, du erwartest nicht wirklich von mir, einen Geisteskranken

mit nach Hause zu nehmen, oder ?!", fragte Ayas Vater ungläubig.

„Doch. Er muss hier weg. Zu mir."

Verstört musterte Ayas Vater das ernste Gesicht seines Sohnes.

Normalerweise mochte Aya keine Gleichaltrigen oder Jüngere.

Auch keinen Erwachsenen. Eigentlich mochte er niemanden. Und

nun, plötzlich, wollte er einen kleinen, geisteskranken Jungen haben.

„Wieso willst du diesen Jungen mitnehmen ?"

Aya zwinkerte unsicher. Er war sich selbst nicht ganz sicher,

warum er Schuldig helfen wollte. Aber irgendetwas in ihm ließ

ihn wütend werden, wenn er daran dachte, wie Schuldig hier

festgehalten wurde. Wie ein Tier behandelt wurde. Die anderen

Kinder hatten nicht das geringste Mitleid in ihm ausgelöst.

Obwohl… Das Gefühl, das Aya für Schuldig empfand, war kein

Mitleid. Es war… etwas Bösartiges, Eifersüchtiges, für das er

keinen Namen kannte.

„Ich will es einfach.", antwortete er.

Sein Vater seufzte. Doch statt seinen Sohn irgendwie davon

abbringen zu wollen, nickte er nur knapp. Sollte sein Sohn

machen, was er wollte. Er würde schon klar kommen.

Der Heimvorsteher sah die Beiden verstört an.

„Sie wollen Schuldig wirklich mitnehmen ? Er ist nicht ganz

richtig im Kopf !!"

Aya starrte ihn wütend an, dann drehte er sich auf dem Absatz

um und ging zurück zu Schuldigs Käfig. Der junge Deutsche

drückte sich sofort eng an das Gitter, um Aya so nah wie möglich

sein zu können. Ein dankbarer Ausdruck leuchtete in seinem

Gesicht.

Plötzlich zuckte er zurück und wich in die hinterste Ecke des

Zwingers. Aya runzelte die Stirn, bemerkte den Heimvorsteher

neben sich, dessen dicke, feuchte Finger mit dem Schlüssel für

den Käfig herumspielten.

„Sicher ?"

Aya nickte nur, starrte in Schuldigs große Edelsteinaugen. Das

Geräusch des sich öffnenden Schlosses ertönte, doch Schuldig

machte keine Anstalten, herauszukommen. Sein Blick ruhte noch

immer auf dem Heimvorsteher, der neben Aya stand.

„Komm schon, Schuldig, gehen wir.", forderte Aya ihn auf.

Schuldigs Augen zuckten zu ihm, er schien verunsichert. Aya

knurrte genervt.

„Gehen sie schon.", fuhr er den Mann neben sich an.

Perplex trat der Angesprochene einige Schritte zurück,

beobachtete gespannt, wie Schuldig langsam durch den Käfig

kroch. Mit wackligen Beinen stieg er aus dem engen Zwinger, sah

fasziniert zu Aya hoch, der ihm ungeduldig und ohne großen Erfolg

den Schmutz von den Kleidern klopfte. Ohne ein weiteres Wort zu

verlieren, packte er Schuldigs Handgelenk und zog ihn mit sich.

„Wohin gehen wir ?", krächzte Schuldig sanft, nachdem sie die

Käfigreihen hinter sich gelassen hatten.

„Nach Hause.", erwiderte Aya schlicht.

Er nickte seiner verblüfften Mutter kurz zu, als er durch das Tor

des Heims schritt.

*

Schuldig rutschte unsicher auf seinem Sitz herum, starrte Aya an,

der gelassen auf dem gegenüberliegenden Polster saß und ein

Buch las.

„Uhnn…"

Aya ließ das Buch sinken, sah Schuldig fragend an.

„Was ist los ?"

„Ich… Ähm… Nichts…", erwiderte Schuldig, nachdem er einige

Sekunden erfolglos nach Worten gesucht hatte. Aya runzelte die

Stirn, widmete sich wieder dem Buch. Kurze Zeit später öffnete

seine Mutter die Tür, setzte sich mit einem neugierigen Funkeln

in den Augen neben Schuldig.

„Hallo !! Wie heißt du denn ?", fragte sie den verstörten Jungen.

„Schu… Schu…"

„Schuldig.", antwortete Aya für ihn.

„Oh, du musst keine Angst vor mir haben !! Ich bin Ayas Mama !"

Sie deutete auf ihren Sohn, der inzwischen das Buch geschlossen

hatte, um sie misstrauisch zu beobachten.

„Mutter, er ist mindestens 13 ! Würdest du aufhören, ihn wie

ein Kleinkind zu behandeln ?!", forderte er sie kühl auf.

Seine Mutter beachtete ihn nicht, strich durch Schuldigs

verknotetes, strähniges Haar.

„Oh, wenn wir zu Hause sind, werden wir erst mal deine Haare

machen !! So eine schöne Farbe !", frohlockte sie.

Schuldig drückte sich tiefer in die Sitzkissen. Seit sie hier war,

hörte er wieder Stimmen im Kopf. Nein, eigentlich nur eine. Aber

sie war penetrant und seltsam hoch, so dass er Kopfschmerzen

bekam. Hilfesuchend sah er zu Aya hinüber, der ihn schweigend

musterte.

„Mutter, du machst ihm Angst. Geh weg von ihm.", erklärte der

Rotschopf mit finsterem Blick.

Seine Mutter sah verwirrt auf.

„Aber wieso denn ? Ich tu ihm doch gar nichts."

„Er hat jahrelang in einem Käfig gelebt, Mutter. Ich denke nicht,

dass er solche Nähe und so viele fremde Menschen gewöhnt ist."

„… Du hast sicher recht, Aya…" Sie wandte sich wieder an

Schuldig. "Aya ist sehr klug ! Wie sein Vater !", sagte sie stolz,

rutschte einige Zentimeter von Schuldig ab.

Eben dieser kam nun auch dazu, schloss die Tür hinter sich und

bedeutete dem Untergebenen, loszufahren. Schweigend setzte er

sich neben seinen Sohn, musterte kurz Schuldig, dann Aya.

„Freut mich, dich kennen zu lernen, Schuldig.", sagte er ernst.

Der junge Deutsche nickte knapp, starrte auf seine Hände.

„Na dann viel Spaß, mein Sohn…", murmelte Ayas Vater noch,

dann folgte er dem Beispiel seines Sohnes und vertiefte sich in

ein Buch.

*

Schuldig beobachtete die Landschaft, durch die sie fuhren. Er hatte

Angst. Nicht so sehr wie damals, als seine Mutter ihn allein gelassen

hatte, aber doch Angst. Wenn Aya nicht wäre, hätte er versucht,

vor der seltsamen, lauten Frau und ihrem ruhigen Mann zu fliehen.

Aber wenn er nicht bei Aya war, war der Lärm in seinem Kopf so

unerträglich, dass er am liebsten schreien würde.

Er durfte nicht schreien. Wenn er schreien würde, würde er für

immer alleine sein.

„Wir sind bald da, Schuldig. Keine Sorge.", beruhigte ihn Aya, den

Blick auf die zitternden Hände des Deutschen gerichtet. Der bleiche

Junge nickte, biss sich auf die Unterlippe.

Die beiden verbliebenen Stimmen in seinem Kopf sprachen über

Parfüm, Handschuhe, Kosten eines dritten Kindes, Steuern, Eifersucht

unter Geschwistern und seltsame Haarfarben. Wie immer ergab das

zusammenhangslose Geplapper der Stimmen keinen Sinn für Schuldig,

aber er hatte sowieso schon vor Jahren aufgehört, einen Sinn zu suchen.

Müde lehnte er den Kopf gegen die kühle Glasscheibe, schloss die

Augen. In Gedanken ging er die Dinge durch, die die Stimmen ihm

beigebracht hatten. Das Alphabet. Wofür brauchte man das ? Aber

eine Stimme in seinem Kopf hatte es so oft wiederholt, bis er aus purer

Langweile und beginnender Verzweiflung die Reihenfolge der

Buchstaben wiederholt hatte. Die Zahlenreihe bis 1000. Er hatte die

Zahlen immer wieder vor sich hingemurmelt, als er im Käfig gesessen

hatte, nur um sich von den Stimmen und den Kopfschmerzen

abzulenken.

Er hätte gern mehr gelernt, schließlich gab es keine andere

Beschäftigungsmöglichkeit in dem kleinen Zwinger, aber meist war

das, was die Stimmen sagten, zu durcheinander oder nicht wert

zu lernen.

Das Fahrzeug stoppte und Schuldigs Stirn knallte leicht gegen die

Fensterscheibe. Verwirrt sah er auf, rieb sich die schmerzende Stelle.

Aya lächelte ihn an, reichte ihm die Hand.

„Wir sind da. Gib mir deine Hand, ich bring dich in dein neues

Zimmer.", erklärte er freundlich.

Erleichtert nahm Schuldig die gebotene Hand, folgte Aya mit einem

seligen Lächeln. Umso näher er Aya war, umso stiller war es in

seinem Kopf.

„Ich denke, du kannst erst einmal bei mir schlafen, bis das Gästezimmer

wieder frei ist. Meine Tante ist zu Besuch." Aya rollte leicht die Augen.

Schuldig nickte, sah sich staunend in dem großen Haus um.

„Dort hinten ist das Bad. Ich bring dich gleich dorthin, wenn das

Dienstmädchen heißes Wasser bereitet hat."

Aya führte den jungen Deutschen in ein großes, luftiges Zimmer.

Ein geräumiges Doppelbett mit Baldachin beherrschte den hinteren

Teil des Zimmers, an einem der großen Fenster stand ein edler

Schreibtisch und die Hälfte der Wände war mit überfüllten Bücherregalen

belegt. Eine offenbar unbenutzte Staffelei stand in der Nähe des Bettes

und auf dem großen Teppich lagen zwei Kater. Die erste Katze, ein

hellbrauner Siamkater, sprang auf, als sein Besitzer das Zimmer betrat,

schnurrte leise, lief einmal im Kreis um den anderen Kater herum und

legte sich wieder hin. Das zweite Tier, eine weiße Europäisch-Kurzhaar

mit orangefarbenen Schnurrbart, blinzelte die beiden Jungen nur

schläfrig an.

„Das sind Silk und Satin. Beachte sie nicht, sie sind nutzlos. Liegen

nur rum, sehen dekorativ aus.", murrte Aya, bewegte sich langsam

durch den Raum.

„Da du keine Kleider hast, kannst du für ein paar Tage meine tragen.

Dort, im Wandschrank." Er deutete auf eine weiße Tür in der Nähe

des Bettes.

„Die Küche und das Esszimmer zeige ich dir, wenn du gebadet hast.

Dann ist es vermutlich auch schon Zeit zum Essen. Gibt es etwas,

was du nicht isst ?", fragte Aya, drehte sich nun zu Schuldig um.

„Ich…"

„Brüderchen !!!", erklang eine helle, aufgekratzte Stimme.

Ein junges Mädchen, vielleicht 9 Jahre alt, sprang in Ayas Zimmer, sah

sich mit leuchtenden Augen um. Dann entdeckte sie ihren Bruder und

Schuldig, der verloren und ängstlich wirkte.

„Oh ! Wer ist das ?" Sie kam mit federnden Bewegungen auf Schuldig

zu, so dass ihre Zöpfe wippten. Schuldig wich unwillkürlich zurück.

„Das ist Schuldig. Schuldig, das ist Aya-chan, meine Schwester…"

„… Ihr habt den gleichen Namen ?", fragte Schuldig verstört.

„Das erklär ich dir nachher. Ich bin sicher, dein Bad ist fertig. Komm

mit…", murmelte er, packte Schuldigs Handgelenk und zog ihn aus dem

Zimmer, ließen das Mädchen ratlos stehen. Silk, der Siamkater, trabte

zum Bett, unter dem sich Satin versteckt hatte, kaum dass die Stimme

Aya-chan's ertönt war. Während er mit leisem Schnurren zu dem

verschreckten Kater kriechen wollte, entdeckte ihn Aya-chan und

hob ihn grinsend hoch.

„Haa~lloooh, Silk !!", begrüßte sie den verwirrten Kater, der sie hilflos

anblinzelte. Satin fauchte leise unter dem Bett. Aya-chan pustete leicht

in Silks Gesicht, worauf der zierliche Kater die Ohren zurücklegte und

die Augen schloss. Achtlos ließ das Mädchen den Kater fallen, der sich

mit Mühe abfing und zu Satin unters Bett jagte.

„Brüderchen !!", rief sie wieder, folgte ihrem Bruder aus dem Zimmer.

*

Aya schubste Schuldig in das Badezimmer, schloss die Tür hinter sich ab.

Er verdrehte die Augen.

„Diese Nervensäge !", knurrte er, bemerkte zufrieden die Wanne, die

mit heißen Wasser angefüllt war.

Schuldig blinzelte ihn verwirrt an. Seufzend kam Aya auf ihn zu, zog

ihm ungeduldig das alte, verschmutze Hemd aus.

„Warum habt ihr den gleichen Namen ?", fragte Schuldig neugierig,

beobachtete Aya, der den Lumpen angewidert in eine Ecke warf.

„Sie ist nicht meine richtige Schwester. Meine neue Mutter hat sie

mit in die Ehe gebracht. Es war ein Zufall, dass wir beide den

gleichen Namen haben. Deshalb sieht sie mir auch nicht

ähnlich.", erklärte Aya, entledigte Schuldig der restlichen Fetzen,

die sich Kleidung schimpften.

Schubsend bewegte er Schuldig zur Wanne, prüfte noch einmal

kurz die Temperatur.

„Rein mit dir !", forderte er ihn auf.

Zaghaft stieg Schuldig in das heiße, duftende Wasser, während

Aya Shampoo, einen Schwamm und einen kleinen Eimer holte.

Ohne große Umschweife tauchte er den Eimer in die Wanne, um

ihn dann mit einem kleinen, bösartigen Lächeln über Schuldig

Kopf zu leeren. Der Junge japste verschreckt, starrte ihn

fassungslos an. Aya reagierte nicht darauf, nahm den Schwamm

und packte Schuldig Arm, um ihn regelrecht grob zu schrubben.

Schuldigs Gesicht spiegelte sein Missbehagen wider, aber er

schwieg. Nach und nach bearbeitete Aya Schuldig Körper mit dem

rauen Schwamm, bis dessen Haut rot glühte. Zufrieden betrachtete

Aya sein Werk. Dann musterte er missbilligend Schuldigs

verknotetes, dreckiges Haar. Mit blitzenden Augen kippte er zwei

Handvoll Shampoo auf Schuldigs Kopf, dann begann er es unsanft

einzumassieren. Immer wieder verhakten sich seine Finger in den

Knoten des langen Haares, bis er heftig daran riss. Jedes Mal zuckte

Schuldig zusammen, biss sich auf die Lippen, um einen leisen

Aufschrei zu verhindern.

„Es wäre das beste, wenn ich dein Haar abrasieren

würde…", knurrte Aya unter zusammengebissenen Zähnen. Nach

etwa 15-minütigen Kampf mit den langen Strähnen, trocknete Aya

seine Hände ab und massierte seine Arme. Ärger blitze in seinen

Augen, als Schuldig ihn verstört ansah. Tränen standen in den

großen, grünen Augen und Aya seufzte leise.

„Es ist gleich vorbei. Schau nicht so, als ob ich dich geschlagen

hätte.", murrte er, griff nach dem kleinen Eimer und füllte ihn wieder

mit dem trüben Wasser der Wanne. Ohne Vorwarnung schüttete er

es wieder über Schuldigs eingeschäumten Kopf, dann betrachtete

er den frierenden Jungen. Das Wasser war inzwischen kalt geworden,

doch Aya ließ ihn noch nicht aufstehen.

„Warte hier, ich hole frisches Wasser für deine Haare.", befahl

er und verließ das Bad.

Schuldig blieb zitternd und wimmernd zurück.

*

Aya-chan sah ihren Bruder aus dem Badezimmer gehen, die Kleider

wirkten feucht und er sah gestresst aus. Neugierig hüpfte sie zur

Badezimmertür, die er offen gelassen hatte. Vorsichtig lugte sie

hinein, horchte dabei auf die Schritte ihres Bruders, die sich immer

weiter entfernten.

Der Junge aus Ayas Schlafzimmer saß hilflos und unglücklich in der

Wanne, seine Haut wirkte gerötet und in seinen Haaren haftete

Schaum.

„Haa~llooh !!", begrüßte sie ihn fröhlich, tänzelte in das

Zimmer zu ihm.

Schuldig sah sie unsicher an, bewegte sich in der Wanne

rückwärts, als sie näher kam.

„Hallo…", antwortete Schuldig leise, senkte den Blick. Die

Stimmen waren mit voller Macht zurückgekehrt, beherrschten

erneut seinen Kopf, hallten in seinen Ohren und trübten

seine Sinne.

„Du siehst aber nicht glücklich aus !!", bemerkte Aya-chan,

tippte mit dem Zeigefinger gegen Schuldigs Wange. Der Junge

wich vor ihrer Berührung zurück, doch seine Bewegungen

wirkten langsam und erschöpft.

„Frierst du ?", fragte sie, lief um die Wanne herum.

Schuldig antwortete nicht, sank schwach gegen den Wannenrand.

„Ich weine doch nicht…", wisperte er hilflos.

„Aya-chan !! Was machst du da ?", fauchte Aya zornig, starrte

seine kleine Schwester an, die ratlos neben Schuldigs

zusammengesunkener Gestalt stand.

„Nichts !", antwortete sie empört.

Mit schnellen Schritten eilte Aya zu dem jungen Deutschen,

packte ihn bei den Schultern.

„Hau ab, Aya-chan !", schnarrte Aya, klopfte leicht gegen

Schuldigs Wange.

In den Augen des Jüngeren leuchtete es kurz auf und er drängte

sich an Ayas Körper.

„Nicht doch, du bist ganz nass !! Schuldig ! Komm schon, setz

dich ruhig hin. Ich bin ja da. Und jetzt verzieh dich endlich, Aya-chan !"

Widerwillig ging das junge Mädchen aus dem Raum, schloss

lautstark die Tür hinter sich. Aya beachtete den Lärm nicht, half

Schuldig aus der Wanne.

„Komm her. Beug den Kopf. Genau. Ich werde jetzt Wasser drüber

schütten.", warnte er vor, nahm den Eimer und schüttete langsam das

kalte Wasser über Schuldigs langes Haar.

„So ist es gut. Hier, ein Handtuch..." Mit einem leichten Lächeln

wickelte er Schuldig in das große Tuch, strich kurz über das

glänzende Haar.

„Wir gehen wieder in mein Zimmer, da werd ich dich kämmen…"

Schuldig nickte, klammerte sich hilfesuchend an Ayas Hand und ließ

sich von ihm zurückführen.

*

„Setz dich…", forderte Aya leise auf, suchte nach einer Bürste.

Silk sprang vom Fensterbrett um zu Schuldig zu schleichen und

seinen Kopf gegen dessen Arm zu drücken. Lächelnd streichelte

Schuldig das zartgliedrige Tier, bemerkte Satin, der gemächlich über

das Bett stolzierte, um sich dann neben Silk fallen zu lassen. Mit

halbgeschlossenen Augen und einem tiefen Schnurren ließ er zu, wie

Silk seinen Rücken leckte. Schuldig kicherte leise, dann kam Aya

zurück, musterte kurz seine Haustiere.

„… Ein Witz der Natur…", murmelte er, dann begann er vorsichtig

durch die nassen Strähnen zu fahren.

Schuldig erschauerte leicht, als eisige Tropfen seine Haut berührten,

doch er lächelte trotzdem. Aya war so nett.

„Ist dir kalt ? Willst du eine Decke ?", fragte Aya, legte bereits eine

der Decken um Schuldigs Schultern.

„Danke…"

„Schon gut."

„Ich hab dich lieb, Aya…", sagte Schuldig ehrlich.

Aya schwieg einen Moment. Dann umarmte er Schuldig kurz.

„Ich dich auch.", murmelte er knapp.

Was tat er nicht alles, um diesen Jungen nicht zu enttäuschen.

*

Schweigend beobachtete Aya Schuldig, der auf dem Bett saß und

durch ein bebildertes Märchenbuch blätterte, das Aya seiner

Schwester weggenommen hatte.

„Kannst du nicht lesen ?", fragte Aya, als er bemerkte, dass

Schuldig sich nur die Bilder betrachtete.

Schuldig schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. Röte breitete

sich auf seinen Wangen aus.

„… Wir haben einen Privatlehrer hier. Ich werde ihm sagen, dass er

dich auch unterrichten soll.", murmelte Aya, warf einen Ball nach Silk,

der sich begeistert darauf stürzte. Satin blinzelte schläfrig, entschloss

sich jedoch zu Ayas Überraschung, zusammen mit Silk zu spielen.

Schulterzuckend wandte er sich von den Tieren ab.

„Wie alt warst du, als du dorthin gekommen bist ?"

Schuldig sah verwirrt auf. Er schien scharf nachzudenken, dann

zeigte er Aya seine Hand.

„… Fünf…", antwortete er leise.

Aya presste die Lippen zusammen.

„Es gibt bald Essen… Komm her, dein Hemdkragen sitzt

nicht richtig."

Schuldig kam auf allen Vieren zu ihm, lächelte jungenhaft, als der

Rotschopf an dem Seidenhemd herumzupfte.

„Wie alt bist du jetzt ? Weißt du das ?"

Wieder schien Schuldig nachzudenken, kam jedoch zu keinem

Ergebnis. Er schüttelte den Kopf.

„Weißt du denn, wann du Geburtstag hast ?", versuchte es Aya.

„… Am… neunten… ähm… August ?", fragte Schuldig mehr, als

das er antwortete.

Aya seufzte leise, strich noch einmal durch Schuldigs seidig

glänzendes Haar.

„Wir werden dein Haar schneiden müssen… Die Spitzen sind

kaputt und es ist zu fransig…", meinte Aya, stand auf und kramte

in seinem Nachttisch. Schuldig blies sich ein paar Strähnen seines

Ponys aus dem Gesicht.

„Ich hab ein Band. Dann fallen dir die Haar nicht immer ins Gesicht."

Aya musterte das gelbe Band in seiner Hand. Er wusste nicht einmal,

woher das Band war, aber es kam gelegen. Linkisch band er es um

Schuldigs Kopf, so dass die langen Strähnen um sein Gesicht lagen,

aber nicht mehr in seine Augen fielen.

„Das geht so…"

„Brüderchen !!! Esse~en !", rief Aya-chan, riss die Tür auf.

Satin und Silk hielten in ihrem Spiel inne und jagten unters Bett, wo

man Satin leise fauchen hörte. Aya starrte seine Schwester ärgerlich

an, nahm Schuldigs Hand und drückte sie beruhigend.

„Ich hab dich gehört, Aya-chan… Und jetzt verschwinde, du

erschreckst die Katzen !", zischte er.

Aya-chan beachtete ihn nicht, hüpfte zum Bett und grinste Schuldig

an, der ungeschickt aufstand und sich hinter Ayas Rücken versteckte.

Das Mädchen war ihm nicht geheuer. Wenn sie nahe war, tauchte eine

unangenehme, boshafte Stimme in seinem Kopf auf, die zu Unsinn und

Streit aufforderte. Die Stimme sprach auch ab und zu von Aya, und wie

man ihn ärgern könnte, weswegen Schuldig die Stimme noch mehr

verabscheute.

Sie sprach gerade von Schuldig, als dieser den Kopf an Ayas Rücken

drückte und die Stimme damit verschwand. Er war jedoch nicht

neugierig, was die Stimme gesagt hätte. Es wäre sicher etwas Böses

und Gemeines gewesen.

Glücklich, die Stimme losgeworden zu sein, atmete er Ayas seltsamen

Duft ein, der ihn an Blumen und Kekse erinnerte.

„Verschwinde endlich !", fuhr Aya das Mädchen an, die ihn wütend

anstarrte und aus seinem Zimmer stapfte.

Schuldig, der immer noch sein Gesicht in Ayas Rücken vergraben

hatte, bemerkte, wie Aya sich versteifte.

„Lass jetzt los. Sie ist weg…", murrte er kühl, ging einen Schritt nach vorn.

Schuldig sah ihn mit hilflos geweiteten Augen an.

„… Du sitzt beim Essen neben mir. Und schau nicht so." Aya runzelte

die Stirn und starrte zur Tür.

„… Bist du böse auf mich ?", fragte Schuldig kleinlaut.

Aya schwieg. Nervös kaute der junge Deutsche auf seiner Unterlippe,

beobachtete den Rotschopf, der wortlos zur Tür blickte.

„… Nein…" Aya schüttelte kaum merklich den Kopf und nahm

Schuldigs Hand.

„Lass uns jetzt gehen. Sonst wird das Essen kalt."

Erleichtert folgte Schuldig ihm, winkte den beiden Katern zu, die

noch immer unter dem Bett hockten und ihn mit ihren leuchtenden

Augen nachstarrten.

*

Schuldigs Herz klopfte ungewöhnlich schnell. Er war nervös. Es war

der erste Tag, an dem er nicht allein mit Aya in dessen Zimmer

gegessen hatte. Aya hatte ihm erzählt, dass seine Tante sich

beschwerte, ihren lieben Neffen nie sehen zu können. Allerdings

glaubte Aya, dass seine Tante nur furchtbar neugierig war und

Schuldig endlich sehen wollte.

Also saß Schuldig nun neben Aya an einer großen Tafel und

lächelte die große Brünette mit dem Rotstich schüchtern an. Sie stellte

ihm immer wieder Fragen, die er nicht beantworten konnte oder Aya

stattdessen beantwortete, weil er zu langsam war.

„Und ist Aya auch immer schön nett zu dir ?" Sie lächelte liebenswürdig,

nippte beiläufig an ihrem Weinglas.

Schuldig nickte mit leuchten Augen, während Aya nur die Stirn runzelte.

„Tante Manx, lass ihn in Frieden. Er kommt nicht mal zum Essen !", bemerkte

er eisig.

Die Angesprochene schürzte die Lippen und schien etwas erwidern zu

wollen, doch der Ausdruck in Ayas Augen hielt sie davon ab. Ärgerlich

wandte sie sich an ihre Schwester.

Schuldig lächelte Aya verhalten an, stocherte wieder in dem Essen,

das so ungewohnt für ihn war.

„Schmeckt es dir nicht, Schuschu ?", fragte Ayas Mutter, legte leicht

den Kopf schief.

„Ich… äh… doch… ah…"

„Bestimmt kennt er so ein Essen nicht ! Er ist doch Deutscher, hast du

gesagt, nicht ?", mischte Manx sich ein.

„Oh, richtig ! Na ja, du gewöhnst dich sicher bald daran, Schuschu !"

Ayas Mutter lächelte ihn aufmunternd an. Hilflos nickte er und kostete

vorsichtig von dem Nachtisch, den Aya ihm zuschob.

*

Silk erhob sich langsam von Schuldigs Schoß, stolzierte graziös zu Satin,

der ihn nur träge beobachtete. Leise maunzend rieb der feingliedrige

Siamkater seinen Kopf an Satin's. Der weiße Kater erwiderte die Geste,

leckte zärtlich über Silks Stirn. Schuldig beobachtete sie fasziniert, als sie

begannen, sich gegenseitig das Fell zu lecken. Aya bemerkte von all dem

nichts, war wie so oft in ein Buch vertieft.

„Warum sind Silk und Satin nie draußen ?"

Aya sah auf, schwieg einen Moment nachdenklich.

„… Ich kann sie nicht rauslassen… Siehst du, Schuldig, Silk und Satin

sind anders als andere Katzen. Die wilden Katzen würden sie verletzen.

Vielleicht sogar töten…", erklärte er.

Schuldig legte verwirrt den Kopf schief, nagte an seiner Unterlippe und

betrachtete weiter eingehend die schmusenden Katzen.

„Wieso anders ? Sie sehen aus wie jede andere Katze auch…", fand er.

Wieder schwieg Aya, überlegte, wie er das Schuldigs kindlichem

Verständnis begreiflich machen sollte.

„Nun… Normale Kater suchen sich eine weibliche Katze. Wie bei den

Menschen, wo ein Junge ein Mädchen sucht. Aber Silk mag keine Katzen,

er mag nur Satin. Und Satin liebt nur Silk. Andere Katzen finden das aber

falsch. Und… uhm… sie wollen Silk und Satin ihre Meinung aufzwingen.

Da die beiden aber nicht wollen, würden die anderen Katzen sie töten…",

versuchte es Aya.

Schuldig sah ihn schweigend an, schien über das Gehörte nachzudenken.

„Bin ich auch nicht normal ? Ich mag ja auch dich und nicht Aya-chan…"

Verblüfft betrachtete ihn Aya. Dann lächelte er sanft.

„Nein. Das ist schon in Ordnung. Und selbst wenn… Ich pass schon auf,

dass dir niemand weh tut…", versprach er.

Schuldig strahlte ihn erleichtert an, warf sich dem verdutzten Rotschopf

in die Arme.

„Ich liebe dich, Aya !", lachte der Junge fröhlich.

Aya strich ihm über die langen Locken, die immer noch nicht geschnitten

worden waren.

„Ich weiß, Schuschu…"

Selig kuschelte Schuldig sich in Ayas Arme, genoss die beruhigende Stille,

die sich in seinem Sein ausbreitete.

*

„… nicht lan-ge, so war das alles, wie ein Li… Li-cht, in mir er… er-losch-en,

und stumm und trau-rig…", las Schuldig stotternd vor, runzelte angestrengt

die Stirn, während er versuchte, die unbekannten Zeichen zu erkennen. Aya

starrte ihn ärgerlich an.

„Gib dir ein bisschen Mühe ! Du bist fast 14 Jahre alt ! Du wirst doch wohl

fließend lesen können !!", schrie er ihn an, stand von dem Bett auf und kam

auf ihn zu.

Schuldig zog den Kopf ein, wusste, was jetzt folgen würde. Im nächsten

Moment riss Aya seinen Kopf an den langen Haaren hoch, starrte ihm

zornig in die Augen.

„Der Lehrer wird vielleicht dafür bezahlt, dass er geduldig mit dir ist, aber

ich nicht !", zischte er, riss noch einmal an den langen, flammendroten

Strähnen in seiner Hand, wie um den Worten Nachdruck zu verleihen.

„Es tut mir leid…", wimmerte Schuldig, versuchte mit aller Macht die

Tränen in seinen Augen zurückzublinzeln.

„Das will ich hoffen ! Und jetzt gib dir mehr Mühe !", knurrte Aya, stieß

Schuldig Kopf ruckartig nach vorne, so dass der junge Deutsche mit dem

Kinn auf die Tischplatte knallte. Ohne einen Laut des Schmerzes richtete

Schuldig sich wieder auf, sah Aya schüchtern nach, der wieder zum Bett

ging und sich mit komplizierten Matheaufgaben beschäftigte.

„… wie ein Schatten saß ich da und suchte das… entschwundene…

Leben…", flüsterte Schuldig angespannt, legte die Hände flach auf den

Tisch, um sein Zittern zu verbergen.

Schweigend beobachtete Aya ihn. Er wusste, dass er Schuldig ungerecht

und grausam behandelte. Schuldig hatte einen Großteil seines Lebens im

Irrenhaus verbracht und es war ein Wunder, dass er überhaupt noch bei

klarem Verstand war. Und er hatte sehr schnell gelernt, war im Lesen

inzwischen so gut wie Aya-chan, die schon seit zwei Jahren lernte.

Eigentlich sollte er ihn loben und nicht schlagen.

Aber Aya glaubte, er müsste Schuldig für die kleinsten Fehler bestrafen.

Es ging nicht darum, dass er beim Lesen manchmal stotterte. Es ging darum,

dass Aya das Gefühl hatte, Schuldig würde noch etwas wirklich

Schreckliches tun, dass er ihn schon jetzt dafür bestrafen musste, weil

er später vielleicht nicht mehr die Chance dazu hatte.

Doch jedes Mal, wenn er ihn verletzt und bestraft hatte, bekam er ein schlechtes

Gewissen. Dachte an die Loyalität und Liebe, die Schuldig ihm entgegen brachte,

dachte daran, dass er vielleicht nie etwas Schlechtes tun würde, wenn Aya das

von ihm verlangte.

„… Nein, rief mein Herz, nein, meine… Di… Dio…" Gehetzt blickte Schuldig

auf, erwartete bereits Ayas wütendes Gesicht.

„Diotima, Schuldig. Vielleicht sollte ich dir ein anderes Buch geben. Das ist

zu schwierig…", murmelte er, stand auf und ging zu einem der Bücherregale.

Verwirrt beobachtete ihn Schuldig, dann breitete sich ein zartes Lächeln auf

seinen jugendlichen Zügen aus.

Aya war nicht mehr wütend. Er würde ihn nicht mehr schlagen, sondern ihm

helfen. Und heute Nacht würde er wieder in Ayas Armen schlafen dürfen,

müsste nicht wieder am anderen Ende des Bettes liegen.

„Komm her, Schuldig, das hier ist vielleicht was für dich. Ein Buch mit

Tiergeschichten." Aya lächelte sanft, als Schuldig auf ihn zukam und das

vertrauensvolle Leuchten in seinen Augen zurück war.

„Danke !", sagte Schuldig fröhlich, umarmte Aya, wobei er den Kopf wie immer

in Ayas Halsbeuge legte, um den Geruch, dessen Namen er immer noch nicht

kannte, völlig in sich aufnehmen zu können.

„Schuldig ! Nicht doch ! Irgendwann wird uns jemand so sehen und ich werde

mir dumme Witze anhören müssen, warum ich dich aus dem Irrenheim und in

mein Bett geholt habe !", scherzte Aya, schob Schuldig leicht von sich.

Der junge Deutsche sah ihn verständnislos an.

„Wieso ?"

Aya errötete leicht. Er vergaß immer wieder, dass Schuldigs Geist nicht der

eines 13-jährigen war. Auch nicht mehr der eines Fünfjährigen, aber noch

immer zu jung.

„Uhm… Das erkläre ich dir ein anderes Mal… Fang lieber an zu

lesen…", lenkte Aya ab.

Gehorsam ging Schuldig zurück zum Schreibtisch und begann leise

vorzulesen. Aya stand noch immer am Bücherregal, beobachtete

weiterhin den dünnen Jungen, der ihn so sehr verwirrte.

„… Ich geh etwas Süßes holen. Bleib du hier und lies weiter. Ich bin

gleich zurück."

Schuldig nickte nervös, lächelte gezwungen.

„Schau nicht so, ich bin wirklich in ein paar Minuten wieder zurück.

Lies weiter, dann bist du abgelenkt.", riet Aya, ging langsam zur Tür.

„Ja. Bis gleich…"

„Bis gleich…"

„Ich liebe dich, Aya…"

„Ich weiß, Schuldig. Lies weiter…", murmelte Aya noch, dann verließ er

das Zimmer.

*

Aya legte noch etwas Schokolade, die Schuldig so mochte, auf das Tablett,

lächelte leicht. Zufrieden machte er sich auf den Weg nach oben, wollte

Schuldig nicht allzu lange warten lassen.

Als er am Wohnzimmer vorbei ging, hörte er die Stimme seines Vaters.

„Aya ! Komm doch mal her !"

Gehorsam betrat Aya das große, luxuriöse Zimmer, betrachtete kühl seinen

Vater, der mit übereinander geschlagenen Beinen in seinem Sessel am

Kamin saß.

„Ich hätte da eine Frage, Aya…", sagte er mit ruhiger, beinahe monotoner

Stimme.

Aya nickte knapp, sah ihn abwartend an.

„Schuldig schläft doch noch immer in deinem Zimmer, oder ?"

Wieder ein kurzes Nicken.

„Warum ? Das Gästezimmer ist doch inzwischen frei. Manx ist seit Tagen

weg…" Er hob fragend eine Augenbraue.

„Er kann nicht allein schlafen.", erwiderte Aya gleichmütig.

„Warum nicht ?"

„Die Stimmen kehren zurück. Er bekommt Panik, bricht jedes Mal beinahe

zusammen."

Ayas Vater nickte verstehend.

„Ist er gerade allein in deinem Zimmer ?"

„Ja."

„… Hat er keine Angst ?"

„Doch."

„Warum lässt du ihn dann allein ?"

„… Ich kann ihn nicht immer überall mit hinnehmen."

Sein Vater schwieg, sah seinen Sohn nachdenklich an.

„Glaubst du, dass er so die Stimmen vergessen wird ?"

„… Nein…"

„Also bestrafst du ihn mit Absicht."

„… Vielleicht…", antwortete Aya vage.

„Ich verstehe dein Verhalten nicht. Erst rettest du ihn aus dem Irrenheim

und nun quälst du ihn. Ich habe gesehen, wie du ihn behandelst. Ich weiß

nicht, ob ich das dulden kann, Aya. Schuldig mag verrückt sein, aber er ist

ein Mensch."

„Er gehört mir.", murmelte Aya trotzig.

Der Ältere schüttelte den Kopf.

„Niemand hat das Recht, einen anderen zu besitzen. Das weißt du Aya, du

bist nicht dumm. Du bist nicht wie deine Mutter oder ihr verzogenes Gör."

Schweigend sahen sie sich an, maßen sich gegenseitig mit Blicken.

„Geh jetzt. Bevor er zusammenbricht."

Ein kurzes Nicken, dann war Aya fort.

*

Schuldig kauerte zitternd am Boden, hielt sich den dröhnenden Kopf.

„Aya kommt gleich zurück… Aya kommt gleich zurück…", murmelte er, die

Worte wie ein Mantra immer wieder wiederholend.

Warum ließ Aya ihn so lange allein ?

„Nicht weinen… Dann werde ich für immer allein sein…", wisperte er leise,

als er spürte, wie seine Augen brannten.

Die Stimmen wurden leiser. Schuldig hob keuchend den Kopf, starrte

erwartungsvoll auf die Tür.

„Aya kommt gleich wieder…", murmelte er mit einem an Irrsinn

grenzenden Grinsen.

In dem Moment öffnete sich die Tür und Aya kam herein. Er warf einen

kurzen Blick auf Schuldig, stellte schweigend das Tablett ab. Seine Miene

änderte sich kein bisschen, als er auf Schuldig zukam und ihn sanft in die

Arme nahm.

„Schscht… Ich bin zurück… Es ist vorbei."

„Zurück…", hauchte Schuldig schwach, umarmte Aya hilfesuchend.

„Ja. Zurück."

*

„Schuldig…", murmelte Aya verschlafen, öffnete sein linkes Auge, um zu

sehen, was der Junge tat.

Wie so oft kuschelte sich Schuldig eng an Aya, drängte sich an die Quelle

seines Seelenfriedens. Aya leckte sich geistesabwesend über die trockenen

Lippen, strich sacht über Schuldigs wirres Haar, das ihn und die Kissen bedeckte.

„… Sollte dir wirklich die Haare schneiden…", wisperte er müde, küsste

Schuldigs Stirn, und schloss wieder die Augen, die Arme besitzergreifend

um den schmalen Jungen neben ihn gelegt.

Es war manchmal schwierig für Aya, neben Schuldig zu schlafen. Die warme,

seidige Haut reizte ihn und es gefiel ihm seiner Auffassung nach viel zu gut,

darüber zu streicheln. Schuldig war zu anschmiegsam, um Ayas Annäherungen

auszuweichen. Das Wissen, mit Schuldig tun zu können, was er wollte,

machte es Aya nicht gerade leichter.

Es war nicht Schuldigs Geschlecht, das ihn störte – es war sein

Geisteszustand. Aya war es, als vergehe er sich an einem kleinen

Kind, wenn er Schuldig berührte, auch wenn der junge Deutsche in

seinem Alter war.

Völlige Unschuld.

Nicht einmal seine Schwester war so sündenlos und rein, obwohl sie um

einiges jünger war als Schuldig.

„Ich warte…", flüsterte Aya in die Dunkelheit.

„… Worauf ?", zwitscherte Schuldig schlaftrunken.

„… Darauf, dass du alt genug bist für die Spiele der Erwachsenen…", antwortete

Aya vage, überrascht, dass sein Bettgefährte wach war.

„Wann ist das ?"

„Das weiß ich noch nicht. Aber ich werde es dir sagen, wenn es soweit ist."

„Okay. Gute Nacht, Aya…"

„Gute Nacht, Schu… Träum schön…"

Aya zog Schuldig noch enger an sich, entschlossen, wieder einzuschlafen.

*

Schuldig balgte sich lachend mit den Katzen, zog so wieder einmal Ayas

Aufmerksamkeit auf sich.

„Sag mal, Schuldig…", begann er.

Schuldig sah sofort auf, keuchte leicht. Silk und Satin sprangen noch immer

aufgekratzt um ihn herum.

„Ja ?"

„… Diese Stimmen, die du hörst… Wie sind die ?"

Ratlos sah der Deutsche ihn an.

„… Wie ? Ich weiß nicht… Es sind so viele…"

„Wie viele ?"

Der Gefragte zuckte mit den Achseln.

„So weit kann ich noch nicht zählen.", antwortete er leichthin.

Aya sah ihn unruhig an. Schuldig konnte bereits bis zu einer Millionen zählen.

„Bist du sicher ?"

Ein kurzes Nicken. Schuldig stand auf und kam zu ihm, legte den Kopf auf

Ayas Schoß. Der Rotschopf streichelte abgelenkt über die Massen

orangefarbener Seide.

„… Und… und du kannst sie nicht unterscheiden ?"

„… Doch… Ein oder zwei…", murmelte Schuldig unwillig. Er mochte nicht

darüber sprechen.

„Welche ?"

„… Wenn Aya-chan hier ist, kommt mit ihr immer eine boshafte Stimme, die

dich immer ärgern will."

„Mich ?"

„Ja… Ich kann sie nicht leiden, aber wenn ich ganz nah bei dir bin, höre ich sie

nicht mehr…"

„… Welche Stimmen hörst du noch ?", fragte Aya nachdenklich.

„… So eine Stimme, die immer über Parfüm und Haare und Kleider spricht. Sie

ist so schrill…"

„Wann hörst du sie ?"

„… Beim Essen… Ja, immer, wenn wir essen."

Aya schwieg eine Weile, strich weiter beruhigend durch Schuldigs lange

Strähnen. Ein leises Schnurren seitens Schuldig ließ ihn leicht lächeln.

„Sag, Schuldig… hast du jemals darüber nachgedacht, warum du diese

Stimmen hörst ?"

Der Junge in seinem Schoß verkrampfte sich leicht.

„Weil ich das Kind des Teufels bin…", antwortete er bitter.

Aya sah überrascht auf ihn hinunter.

„Wie kommst du denn darauf ?"

„… Die alte Frau hat das gesagt… Die Frau mit den bösen Augen und den

spitzen Fingern…"

„Wann ?!", zischte Aya wütend.

„… Lange her… Sie wollte, dass ich… in den Käfig komme."

Fäuste krallten sich in Schuldigs Locken und der Junge zuckte zusammen.

„Aya…", wisperte er verstört, war sich nicht klar, was er falsch gemacht hatte.

„Oh ! Entschuldige !" Aya ließ los, massierte vorsichtig Schuldigs Kopfhaut.

„Aber… Sag das nie wieder, hörst du ?! Du bist kein Kind des Teufels,

Schuldig ! Diese Frau war ein Dummkopf !"

Schuldig nickte hilflos, sah vertrauensvoll zu Aya hoch.

„Ja…" Er lächelte sanft.

Wieder schwiegen die Beiden eine Weile. Schuldig empfand das nicht im

Geringsten als unangenehm, war doch Aya immer so sanft, wenn er schwieg.

„… Hast du mal darüber nachgedacht, dass die Stimmen in deinem Kopf…

nicht einfach nur Stimmen sind ?"

Verwirrt blinzelte Schuldig.

„Nicht einfach nur Stimmen ?", wiederholte er begriffsstutzig.

Aya nickte knapp.

„Wenn man so darüber nachdenkt… Könnten es doch… Gedanken sein…"

„Gedanken ?"

„Ja, wiederhol nicht immer was ich sage, sonst denken die Leute, du wärst

beschränkt !", lachte Aya leise.

Schuldig zog eine Grimasse, drückte den Kopf in Ayas Brustkorb.

„Schau… Was ist, wenn du nicht verrückt bist ?! Wenn du nur die

Gedanken anderer Menschen hörst… ?"

Der junge Deutsche antwortete ihm nicht, hob Ayas Hemd und verkroch

sich halb darunter. Aya kicherte leise, als Schuldigs Haar seinen Bauch kitzelte.

„Komm schon ! Was denkst du ?"

„… Warum kann ich dann deine Gedanken nicht hören ?"

„… Das weiß ich nicht…"

„Dann ist es doch egal. Die Gedanken anderer Menschen interessieren

mich nicht."

„Aber es würde bedeuten, dass du völlig unberechtigt in diesen Käfig

gesteckt wurdest !"

Schuldig kam unter dem Hemd hervor, sah Aya ernst an.

„Würde es alles ungeschehen machen, wenn es so wäre ?", fragte er leise.

„… Nein, würde es nicht…", gab Aya zu.

„Dann ist es mir egal…"

Er umarmte Aya, presste sein Gesicht in Ayas Bauch.

„Halt mich fest…", wimmerte er.

Erschrocken rutschte Aya vom Stuhl, ging vor Schuldig in die Knie und

umarmte ihn fest. Schuldigs Körper bebte vor verhaltenen Schluchzern.

„Ist schon gut, Schuldig… Wein ruhig…", flüsterte Aya.

„Nein… Ich darf nicht weinen… Dann werde ich allein gelassen…"

Aya biss sich auf die Unterlippe. Also doch. Er wusste, dass etwas mit

Schuldig nicht stimmte. Kein Mensch wurde so gequält und verlor nicht

eine einzige Träne.

„Ich verlasse dich nicht. Weine ruhig. Ich lasse dich niemals allein, wie viel

du auch weinen magst…"

Ein leises Wimmern ertönte – und Schuldig weinte.

*

Schweigend saß Aya am Tisch, beobachtete seine Familienmitglieder beim

Essen. Schuldig kaute mit missmutiger Miene an einer Gemüsesorte, die er

nicht mochte. Sein Vater nippte hin und wieder an seinem Kaffee, während

er mit gerunzelter Stirn die Zeitung las. Aya-chan plapperte unentwegt,

erwartete offenbar von Schuldig oder ihrer Mutter, ihr zuzuhören.

Schuldig saß direkt neben Ayas Mutter.

„Hörst du etwas ?", fragte er leise, beugte sich zu Schuldig herüber.

Verwirrt sah der Junge auf, wusste im ersten Moment gar nicht, wovon

Aya überhaupt redete. Ratlos stocherte er in seinem Essen herum.

„Die Stimme !", half Aya ungeduldig nach.

Schuldig legte den Kopf schief.

„Ja. Warum fragst du ?"

„… Was sagt sie ?", fragte Aya sanft.

„Ähm… Irgendetwas über ein neues Kleid. Das sehr teuer war.", antwortete

Schuldig, stocherte wieder im Gemüse herum.

„Wer hat ein neues Kleid ? Ich habe mir gestern auch ein neues Kleid geholt.

Es war ein bisschen teuer, aber unheimlich schick ! Ich werde es morgen

Abend beim Fest der Hidakas tragen !", erzählte Ayas Mutter, strahlte übers

ganze Gesicht.

Aya nickte, aß schweigend weiter.

*

„Schuldig…", sagte Aya gedehnt, lehnte sich gegen den Wannenrand.

Der Angesprochene drehte sich zu Aya um, ließ das Buch in seinen Händen

achtlos auf den Boden fallen.

„Was ist ?!", fragte er neugierig.

Aya öffnete langsam die violetten Augen, starrte an die Decke.

„Hast du es gemerkt ?"

Verwirrt legte Schuldig den Kopf schief, sah Aya fragend an.

„Was ?!"

„Meine Mutter. Du hast ihre Gedanken gelesen. Sie hat an ihr neues Kleid

gedacht. Vermutlich hörst du immer ihre Gedanken beim Essen… Weil du

neben ihr sitzt. Du kannst in meinem Beisein nur Stimmen hören, wenn dir

jemand nahe ist. So wie Aya-chans Gedanken…", murmelte er langsam.

Er drehte den Kopf, sah Schuldig intensiv an.

„Du kannst Gedanken lesen, Schuldig. Vielleicht kannst du sogar mit

anderen Menschen reden, mittels Gedanken… Das nennt man Telepathie…"

Er setzte sich auf, zog Schuldig an seinem Kragen zu sich heran.

„Du bist etwas ganz Besonderes, Schuldig…"

Schuldig lächelte hilflos, wusste nichts darauf zu antworten.

„… Schuldig…", hauchte Aya, verlor sich in den grünen Tiefen.

Der Junge schwieg, verwirrt von dem seltsamen Ausdruck in

Ayas Augen.

„Du liebst mich, nicht wahr ?"

„Ja !", antwortete Schuldig glücklich.

„Gut…", erwiderte Aya nur, schloss die Augen.

Schuldig wollte gerade nachfragen, ob es Aya vielleicht nicht gut ging,

doch dann spürte er den Mund des Rothaarigen auf Seinem. Verstört

hielt er still, rührte sich nicht, als die Zunge des Älteren über seine

Lippen strich. Unsicher ließ er zu, wie Ayas Finger sich in sein Haar

gruben, ihn noch enger an sich zogen. Zu verwirrt vom Verhalten seines

Gegenübers, um zu reagieren, blieb er einfach ruhig sitzen.

Schließlich ließ Aya von ihm ab, sah ihn schwer atmend an.

„Nein."

„Was nein ?!", fragte Schuldig verunsichert.

„Nein, du bist noch nicht alt genug für die Spiele der Erwachsenen.", erklärte

Aya ernst, dann stieg er aus der Wanne und ließ sich von Schuldig sein

Handtuch reichen.

„Dauert es denn noch lange ?"

„Das weiß ich nicht… Wie hast du dich denn gerade gefühlt ?"

„… Verwirrt ?!", schlug Schuldig vor.

„… Na ja… Ein, zwei Jahre vielleicht noch…"

Er lächelte Schuldig aufmunternd zu.

„Macht aber nichts. Ich kann ja warten."

Schuldig nickte, legte seine Hand in Ayas, um mit ihm zurück in ihr

Zimmer zu gehen.

*

Aya knirschte wütend mit den Zähnen, als er das zerrissene Buch in der

Mitte des Zimmers liegen sah. Schuldig ging in die Knie, versuchte die

verängstigten Katzen unter dem Bett hervorzulocken.

„Dieses Miststück… Sie wusste genau, dass das eine wertvolle

Erstausgabe war…", zischte Aya, hob den zerfledderten

Buchumschlag hoch.

„War das Aya-chan ?", fragte Schuldig leise.

„Natürlich. Steh da auf, du machst dich noch schmutzig. Die Katzen

kommen auch von alleine wieder raus."

Gehorsam erhob sich Schuldig, stellte sich an Ayas Seite.

„Irgendwann bring ich sie noch um.", schwor der Rotschopf leise.

Schuldig umfasste seinen Arm, lehnte sich leicht gegen ihn.

„Ich kann das für dich machen…", murmelte er erschöpft.

Aya sah ihn blass an.

„Würdest du ?"

„Klar. Ich mach alles für dich." Schuldig lächelte liebevoll.

Nervös strich Aya durch Schuldigs weiches Haar.

„… Ja… Aber erst, wenn ich es sage, ja ?"

Schuldig nickte ernsthaft.

„Ich verspreche es."

*

Aya-chan musste sich davon abhalten, laut aufzuschreien vor Wut.

Wie konnte dieser Bastard, der sich ihr Bruder schimpfte, es wagen ?!

Und Schuldig… Das würde er bereuen. Ihrem dummen Bruder so

etwas zu versprechen.

„Wir werden ja sehen, wer hier wen umbringt…", zischte sie bitter,

dann verließ sie ihren Platz an Ayas Tür.

*

„Still halten, Schuldig… Sonst tu ich dir weh…", wisperte Aya an

das Ohr des Deutschen.

„Aah…", antwortete Schuldig zittrig.

„Keine Sorge… Es tut nicht weh…"

Aya leckte sich über die Lippen, beugte sich leicht vor.

„… Ganz ruhig…"

Es klopfte an der Tür und Aya sah desinteressiert auf.

„Herein…"

Die Tür wurde geöffnet und Ayas Mutter sah neugierig herein.

„Was macht ihr, Aya, Schatz ?", zwitscherte sie fröhlich.

„Ich schneide Schuldig die Haare…"

„Oh, wieso denn ? Er hat doch so schönes Haar ! Das kannst du doch

nicht abschneiden."

„Nur die Spitzen, Mutter. Außerdem sind sie sowieso zu lang. Er sieht

aus wie ein Mädchen mit den Haaren bis zur Hüfte !", meinte Aya,

spielte abgelenkt mit der Schere.

„Oh… aber wirklich nur die Spitzen !"

„Ja, Mutter."

„Heute Abend kommen die Kudos. Zieht euch schick an !" Sie lächelte

Schuldig noch einmal aufmunternd zu, freute sich, dass der ruhige

Junge die Geste erwiderte.

„Nur die Spitzen !", sang sie noch, als sie die Tür hinter sich schloss.

„Natürlich… Ich mag deine Haare doch auch…", flüsterte Aya, vergrub

sein Gesicht genussvoll in die lange Mähne. Schuldig kicherte leise,

schlenkerte fröhlich mit den Beinen.

„Wer sind die Kudos ?"

„Ach, die… Ziemliche Langweiler. Und der Sohn ist ein perverser Frauenheld."

„Per-vers ?", fragte Schuldig interessiert.

„Ja… Das heißt, er ist nicht normal... Er spielt zu viele Spiele der

Erwachsenen..."

„Ach so…"

Aya schnitt vorsichtig etwas von Schuldigs Haaren ab, sah

nachdenklich auf den orangefarbenen Schopf hinunter.

„Halt dich fern von Yohji, hörst du ? Er weiß nicht, dass du noch

nicht mitspielen darfst."

„Okay…"

*

„Hier. Ein Samtband. Bind dir das um den Hals, das sieht hübsch

aus.", meinte Aya, reichte Schuldig ein breites, schwarzes Band.

Gehorsam legte sich Schuldig das Band um, verknotete es

ungeschickt im Nacken, während Aya ihm das mitternachtsblaue

Seidenhemd zuknöpfte.

„Wenn Yohji dich anspricht, lächelst du ihn kurz an und kommst

sofort zu mir, verstanden ?!"

„Ja." Schuldig wippte auf den Fersen, lächelte Aya liebevoll an.

Aya erwiderte das Lächeln, griff eine Bürste, um durch Schuldigs

ohnehin schon glänzendes Haar zu kämmen.

„Jetzt das Stirnband. Halt still."

Der Rotschopf sah fest in Schuldigs Augen, als er das Band

geschickt um Schuldigs Stirn band. Inzwischen hatte er genug

Übung darin, um es blind binden zu können.

„Du hast so schöne Augen, Aya… Wie ein Engel…", lächelte

Schuldig, lehnte sich gegen ihn.

„… Nur Dämonen haben violette Augen, Schuldig…"

„Und du."

„… Ja… Und ich…", murmelte Aya leise.

„Lass uns jetzt runtergehen. Ich glaube, ich habe meine Mutter

rufen hören."

Schuldig nickte fröhlich, hakte sich bei Aya ein.

„Ich liebe dich !", erklärte er einfach.

Aya nickte schwach.

„Ja. Ich weiß. Für immer."

*

Schuldig stand etwas verloren neben dem Sofa, wartete auf Aya, der

ihm etwas zu trinken holen wollte. Die Gäste waren in eine Unterhaltung

mit Ayas Eltern vertieft und Aya-chan sprach mit dem sechzehnjährigen

Yohji, der sie verwirrt und leicht genervt anstarrte. Irgendwann ließ

er sie stehen und kam auf Schuldig zu.

„Hi !"

„… Hallo…", antwortete Schuldig zögernd.

Er sah sich suchend nach Aya um, krallte unsicher seine Hand in die

Sofalehne.

„Ich hab schon von dir gehört. Die Fujimiyas haben dich adoptiert.

Weil Aya-kun es so wollte."

Schuldig zuckte mit den Achseln, lächelte schwach.

„Warum ? Ist er scharf auf dich ?"

„Scharf ?" Verständnislos sah Schuldig ihn an.

„Ja. Will er dich…"

„Lass ihn in Ruhe, Yohji.", zischte Aya eiskalt.

Yohji sah sich überrascht um. Aya ging wortlos an ihm vorbei, reichte

Schuldig ein Glas Punsch.

„Trink das.", forderte er Schuldig auf, setzte sich auf das Sofa, schlug

die Beine übereinander und warf Yohji einen frostigen Blick zu.

„Du bist ja immer noch da. Geh und belästige meine Schwester. Oder

eines der Hausmädchen."

Yohji grinste breit.

„Und was, wenn ich mehr Interesse an euch habe. Vor allem an dem

süßen Kleinen ?" Er zwinkerte Schuldig dreist zu.

Ayas Augen verengten sich zu violetten Schlitzen.

„Das wäre dann wohl Pech. Du wirst ihn nicht anrühren."

„Ach ! Du bist aber besitzergreifend… Läuft wohl doch was

zwischen euch."

Aya stand auf, sah Yohji bedrohlich an.

„Selbst wenn es so wäre… Es geht dich nichts an. Verzieh dich."

Yohji sah sich grinsend um, doch dann bemerkte er den wachsamen

Blick Fujimiya Seniors auf sich. Ärgerlich neigte er den Kopf in

Richtung Aya.

„Einen schönen Abend noch, ihr Turteltäubchen…", knurrte er,

drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in der Küche.

„Hat er was zu dir gesagt ?"

Schuldig schüttelte ratlos den Kopf, setzte sich auf die Lehne. Aya

legte einen Arm um seine Taille, schwenkte das Weinglas in

seiner Hand.

„… Hast du gehört, was er gedacht hat ?"

„Ja. Aber ich hab es nicht verstanden… Was ist Sex ?", fragte

Schuldig neugierig.

Aya sah ihn ärgerlich an.

„Das erklär ich dir später. Denk nicht mehr daran."

Verwirrt nickte Schuldig, trank unsicher von dem Punsch.

*

Schuldig saß leise vor sich hinsummend auf dem Bett, beobachtete

Aya, der sich langsam auszog. Irgendwann bemerkte der Rotschopf

den Blick, sah Schuldig verwirrt an.

„Was ist los, Schuldig ?"

„Wie schön du bist, Aya… Wie die Statuen in dem griechischen

Buch.", antwortete er leise, sprang vom Bett und kam auf Aya zu.

Schweigend beobachtete Aya ihn, legte abwartend den Kopf schief.

Schuldig streckte die Hand aus, berührte zaghaft Ayas bleiche Haut,

strich über die leichten Erhebungen der Hüftknochen.

„Möchtest du mich ganz sehen ?", fragte Aya heiser.

Schuldig sah ihn verblüfft an, dann nickte er schüchtern. Aya

lächelte, zog die Hose aus, trat einen Schritt auf Schuldig zu.

„Morgen hast du Geburtstag, Schuldig… Du wirst 15. Vielleicht

bist du jetzt alt genug…", murmelte Aya belegt.

„Alt genug ?", wollte Schuldig ratlos wissen, berührte regelrecht

ehrfürchtig Ayas milchige Haut, strich sanft über den schlanken

Körper vor ihm.

„Zum Spielen…", hauchte Aya, hob Schuldigs Kinn, um ihn anzusehen.

„Wirklich ?"

Aya antwortete nicht direkt, lächelte nur lasziv, dann beugte er sich

leicht vor.

Schuldig schloss die Augen. Inzwischen wusste er, was Aya da tat.

Warum er das tat. Aya hatte so viele Bücher, dass es ein Leichtes

gewesen war, etwas Passendes zu finden.

Er mochte es, wenn Aya ihn küsste. Nicht nur, weil es ein angenehmes

Gefühl war. Eher, weil Aya ihm so zeigte, dass er ihn liebte, auch wenn

er manchmal gemein zu ihm war.

Überrascht bemerkte er Ayas Hände, die ungeduldig an seinen Kleidern

zerrten, dann jedoch sagte er sich, dass es nur fair war, wenn er sich

Aya ebenfalls völlig zeigte. Warum auch nicht ? Sie waren schließlich

beide Jungen.

„Auf's Bett…", forderte Aya ihn mit rauer Stimme auf.

Schuldig zwinkerte verduzt. Er war nicht müde. Aber wenn Aya es

sagte. Er wusste es besser, als Aya nicht zu gehorchen. Widerstandslos

setzte sich Schuldigs auf das Bett, griff nach der Decke, als er Ayas

Arme um sich spürte. Lächelnd lehnte er sich an die Brust des Rotschopfs,

schloss entspannt die Augen.

„Du magst es, wenn ich dich streichle, nicht wahr, Schuldig ?", fragte

Aya zärtlich, liebkoste die zarte Haut in seinen Armen.

Schuldig nickte, legte den Kopf in den Nacken. Ayas Hände glitten in

Schuldigs Schoß, ließen den Jungen überrascht aufjapsen.

„Aya ?", krächzte er unruhig.

„Keine Sorge… Ich zeige dir, wie man spielt…", raunte Aya, küsste die

schmale Schulter des Deutschen.

„Aa…"

*

Aya-chan öffnete geräuschlos die Tür, schlich sich in das stille Zimmer

ihres Bruders. Kein Laut war zu hören. Offenbar waren Schuldig und ihr

missratener Bruder nicht da.

Aya-chan unterdrückte ein Kichern, als sie die Tür hinter sich schloss.

Heute würde eines der dummen kleinen Kätzchen dran glauben müssen.

Aya sollte sich besser zweimal überlegen, mit wem er sich anlegte.

Ein leises Wimmern ließ sie zusammenzucken. Erschrocken drehte sie sich

um, suchte nach dem Ursprung des Geräusches.

Schuldig.

Der junge Deutsche lag, in die verdrehten Laken gekuschelt, auf dem Bett.

Seine Arme waren um Aya geschlungen, der ruhig schlief und scheinbar

nichts von Schuldigs leisem Seufzen mitbekommen hatte. Vielleicht war er

aber auch nur bereits daran gewöhnt.

Aya-chan kam auf das Bett zu, musterte mit blitzenden Augen das sich

umarmende Paar. Sie knirschte leise mit den Zähnen. Es war ja nicht so,

dass sie die Situation nicht klar erkennen konnte. Man musste schon blind

und taub sein, um nicht zu sehen, warum die beiden Jungen nackt waren.

~Dabei gehört er uns !~, wisperte es in ihrem Kopf.

„Genau… Er gehört mir… Nicht Aya…", flüsterte sie bedrohlich.

~Aya muss sterben… Sonst bekommen wir ihn nicht…~, fuhr die leise

Stimme in Aya-chans Kopf fort.

„Aya muss sterben…", wiederholte Aya-chan dumpf.

Schuldig klagte erneut leise. Aya-chan warf ihm noch einen eifersüchtigen

Blick zu, dann verschwand sie genauso geräuschlos, wie sie gekommen war.

*

Aya schlug die Augen auf.

War da gerade die Tür geschlossen worden ? Verwirrt neigte Aya den

Kopf, bemerkte beruhigt Schuldigs schlanke Gestalt neben sich. Zufrieden

küsste er Schuldigs Stirn, strich durch sein langes Haar, als Schuldig

leise jammerte.

„Ich bin ja hier, Schuschu…", wisperte Aya zärtlich.

Augenblicklich verschwand der konzentrierte, abgespannte Ausdruck aus

dem jungen Gesicht und ein leichtes Lächeln zierte die roten Lippen.

„Für immer…", ergänzte Aya leise, lehnte sich auf die Seite, um Schuldig

besser umarmen zu können.

„…liebe dich…", zirpte Schuldig im Schlaf, kuschelte sich enger an Aya.

„Ja… Ich weiß… Ich… auch…", murmelte Aya müde.

*

Schuldig arbeitete konzentriert mit den Farben, leckte sich über die Lippen.

Aya warf ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zu.

„Bist du bald fertig ? Ich krieg einen Muskelkrampf.", murmelte er, versuchte

seinen Mund so wenig wie möglich zu bewegen.

„… Bald… Entschuldige."

„Ist schon gut. Später male ich dich." Aya lächelte schwach.

Schuldig nickte fröhlich, ließ sein langes Haar dabei wippen.

„Irgendwann…", begann er leise.

Aya beobachtete ihn, ignorierte den leichten Schmerz in seinen Augen ob des

ungewohnten Winkels.

„… In ein paar hundert Jahren… Wenn wir beide tot sind… Dann wird jemand

dieses Bild finden. Und dann wird Derjenige lächeln. Weil er noch nie so ein

schönes Wesen wie dich gesehen hat."

Aya schwieg. Er mochte es nicht, wenn Schuldig über den Tod sprach, weil er

das mit einer Selbstverständlichkeit machte, die ihm Angst machte.

„Natürlich nur, wenn ich mir Mühe gebe und du auch schön still

hältst !", kicherte Schuldig.

„… Wir werden das Bild selbst sehen können. Denn wir werden wiedergeboren,

weil ein Leben nicht ausreicht, um sich an dir satt zu sehen.", flüsterte Aya.

Verwirrt sah Schuldig ihn an. Langsam ließ er den Pinsel sinken, legte die

Farbpalette ab. Schweigend, mit ruhigem Gesichtsausdruck ging er auf das

Bett zu, ließ Ayas Gesicht dabei nicht aus den Augen.

„Was ist ? Bist du schon fertig ?"

Schuldig schüttelte leicht den Kopf, kletterte auf das Bett und setzte sich auf

Ayas Schoß.

„Nein. Ich werde es in meinem nächsten Leben beenden.", erwiderte er mit

einem zärtlichen Lächeln.

„… Versprich es."

„Ich verspreche es." Schuldig legte seine Handfläche gegen Ayas.

„Ich schwöre es bei meinem Leben."

*

Aya-chan betrat den stillen Salon, sah sich gelassen um. Die verschiedenen

Glasvitrinen glänzten im Morgenlicht, das durch die bunten Fenster fiel, ließen

den Inhalt regelrecht erstrahlen. Mit lautlosen Schritten näherte sie sich den

Schaukästen, strich mit kalten Fingern über den dunklen Samt.

„Du bist selbst schuld…", wisperte sie in die Stille.

Ihre kindlichen Hände streckten sich nach der funkelnden, reich verzierten

Waffe aus. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen drückte sie die

schwere Pistole an ihre Brust, verengte die klaren Augen zu glitzernden Schlitzen.

„Du wirst sterben…"

*

„Gehen wir in den Garten, Schuldig. Die Sonne scheint."

Schuldig sprang jauchzend auf, hängte sich begeistert an Ayas Arm.

„Können wir Silk und Satin mitnehmen ?" Er lächelte Aya hoffnungsvoll an.

Nachdenklich sah der Rotschopf zu den beiden Haustigern hinüber, die beide

am Fenster hockten. Silk jagte den Lichtreflexen nach, die die Blätter der Bäume

auf die Fensterbank zauberten, während Satin sich gelassen putzte, immer

wieder mal aus dem Fenster sah.

„… Ja. Aber pass auf, dass sie nicht weglaufen.", antwortete Aya ergeben.

Mit strahlenden Augen umarmte ihn Schuldig, dann packte er den tobenden

Silk, der sich verspielt in seinen Arm verbiss. Aya nahm wortlos Satin auf den

Arm, trug den verwirrten Kater aus dem Zimmer.

*

Schuldig saß mit einem verklärten Gesichtsausdruck auf der Schaukel, Aya

nur wenige Meter von ihm entfernt auf der Bank. Satin lief vorsichtig und

wachsam um die Bank herum, schnupperte verstört. Silk hingegen jagte

aufgekratzt Schmetterlingen hinterher, zerriss Blütenkelche und wälzte

sich im Gras.

„Siehst du, wie sie sich freuen ?"

Aya nickte nachdenklich, schien aber mehr auf Schuldig konzentriert zu sein,

als auf die Katzen. So bekam er auch nicht mit, wieso sich Schuldigs

Gesichtsausdruck plötzlich veränderte, warum sich Furcht in den

Edelsteinaugen zeigte. Erst das Geräusch eines Schusses dicht neben ihm

ließ ihn zusammenzucken. Erschrocken sah Aya sich um, sah seine Schwester

mit einem eisigen Ausdruck in den Augen etwa 5 Meter von ihm entfernt

stehen. In ihren Händen hielt sie eine der langen Pistolen seines Vaters.

Irgendwo am Rande bemerkte er Schuldigs gequälten Aufschrei und das

Wimmern von Silk. Der Deutsche saß plötzlich neben ihm auf den Boden,

während das Klagen des jungen Katers immer lauter wurde.

Geistesabwesend sah er hinunter, bekämpfte die Tränen, die in seinen

Augen brannten.

Satin lag blutend am Boden, atmete schwer. Aya-chan hatte ihn irgendwo

am Hals getroffen. Das sonst so makellose, strahlendweiße Fell war mit Blut

besudelt, immer mehr schien aus dem sterbenden Körper herauszuquellen.

Silk stand neben ihm, leckte ihm desolat das Gesicht, winselte panisch.

„Jetzt ?", fragte Schuldig leise, unter Schluchzern.

„Was ?!", krächzte Aya fassungslos.

„Soll ich sie jetzt töten ?"

Aya starrte Schuldig bestürzt an.

„Schuldig, sie hat eine Waffe ! Sie bringt dich um, wenn du sie angreifst !"

Der Deutsche schüttelte den Kopf. Er legte liebevoll eine Hand auf Ayas

Wange, sah ihm fest in die Augen, zwang ihn regelrecht, den Blick zu

erwidern. Aya bemerkte die Schusswaffe in Schuldigs Hand erst, als er

damit bereits auf Aya-chan zielte. Das Mädchen reagierte jedoch gar nicht,

grinste nur schwachsinnig.

„Woher hast du die ?"

„Ich habe sie aus dem Waffenzimmer geholt, nachdem ich dir versprochen

habe, sie für dich zu töten." Er lächelte leicht. "War nicht einfach. Ich bin

auf halben Wege fast ohnmächtig geworden, weil die Stimmen so laut

waren.", kicherte er freudlos.

Das Mädchen sah Schuldig mit weitaufgerissenen Augen an, schien

endlich zu realisieren, dass der Junge, den sie so unbedingt für sich haben

wollte, sie töten würde. Zitternd hob sie die Waffe.

„Ich werde nicht sterben ! Aya wird sterben !", erklärte sie schrill, ihre

Augen zeigten mehr Weiß, als es für einen normalen Menschen üblich war.

Schuldig schüttelte den Kopf.

„Aya wird nicht sterben. Ich beschütze ihn.", antwortete er ernst.

Aya-chan kniff die Augen zusammen, Tränen rannen über ihre

erhitzten Wangen.

„Nein !! Neinneinneinnein !!"

Mit zitternden Fingern drückte sie ab, lachte abgehackt, irre.

Aya hörte den Schuss unnatürlich laut in seinen Ohren nachhallen. Er

konnte das Schießpulver regelrecht riechen, spürte die Hitze der Sonne

auf seiner Haut. Starr vor Schreck blickte er auf die im Licht funkelnde Waffe,

wartete auf den reißenden Schmerz der Kugel.

Doch der Schmerz kam nie.

Ein Wirbel orangefarbener Seide leuchtete plötzlich vor seinen Augen, grüne

Iriden glitzerten traurig im Sonnenlicht. Ein erstickter Schrei kam über die roten

Lippen, als er die Kugel abfing, die Aya-chan für ihren Bruder bestimmt hatte.

/*/„Hilf mir…"

„Wie ?"

„Hol mich hier weg. Behalt mich bei dir… Du bist so ruhig… Ich höre die Stimmen

nicht mehr, seit du hier bist…" \*\

Ein Ruck ging durch Schuldigs schmale Gestalt, warf ihn gegen Aya. Der Junge

hing erst still in seinen Armen, rührte sich nicht, wagte nicht zu sprechen. Dann

zuckte er heftig, riss panisch die Augen auf.

Schuldig hustete gequält, spuckte seltsam klumpiges Blut auf Ayas weißes Hemd.

Aya keuchte, taumelte, Tränen quollen aus seinen Augen, als er mit Schuldig in

den Armen auf die Knie sank. Schuldig zitterte heftig, ein dünnes Blutrinnsal

sickerte aus seinem Mundwinkel, seine Augen brannten. Da war eine leise

Stimme in seinem Kopf, die zu weinen schien.

„Es… tut weh…", krächzte er, würgte leicht.

/*/„Es ist gleich vorbei. Schau nicht so, als ob ich dich geschlagen hätte."\*\

„Schuldig… Nicht… Warum hast du das gemacht ?", wimmerte Aya, drückte den

bebenden Jungen enger an sich, wünschte sich so sehr, Schuldig helfen zu können.

„… Musste dich doch beschützen…" Schuldig holte rasselnd Luft.

Wieder diese leise, schluchzende Stimme. Er verstand nicht, was sie sagte, trotzdem

beruhigte sie ihn. Sie nahm ihm die Angst vor den Tod. So warm…

„Es ist so dunkel… Ich kann nicht sehen…", zischte er leise, während das Licht

in seinen Augen brach.

/*/„Ist dir kalt ? Willst du eine Decke ?"

„Danke…"

„Schon gut."

„Ich hab dich lieb, Aya…"

„… Ich dich auch.", murmelte er\*\

Er zuckte heftig, spuckte wieder einen Schwall Blut auf Ayas Brust. Tränen rannen

über seine Wangen, teils aus Schmerz, teils von der Anstrengung, weiter zu atmen.

Woher kam nur diese Stimme, die er zuvor nie gehört hatte ? Man könnte fast meinen…

„Schuldig… Du darfst nicht sterben !! Du hast es mir doch versprochen…

Aya-chan lebt noch !", weinte Aya, küsste verzweifelt die feuchte Stirn des

Sterbenden.

„… In meinem nächsten Leben… Ich verspreche… verspreche es…" Schuldig

schnappte vergeblich nach Luft, blinzelte die Tränen in seinen Augen weg.

/*/„Ist schon gut, Schuldig… Wein ruhig…"

„Nein… Ich darf nicht weinen… Dann werde ich allein gelassen…"

„… Ich verlasse dich nicht. Weine ruhig. Ich lasse dich niemals allein, wie viel

du auch weinen magst…"\*\

Aya-chan hatte seine Lunge getroffen. Er erstickte an seinem eigenen Blut.

„Ich liebe dich…"

Schuldig lächelte schwach, setzte zu einer Antwort an, die nie kommen sollte.

/*/„Du magst es, wenn ich dich streichle, nicht wahr, Schuldig ?"

„… Aya ?"

„Keine Sorge… Ich zeige dir, wie man spielt…"

„Aa…" \*\

Ayas Tränen tropften unablässig auf Schuldigs Gesicht, während der

Junge erschöpft die Augen schloss, den Kampf gegen den Tod langsam

aufgab. Aya schluchzte heftig auf, küsste Schuldigs blutige Lippen,

presste den toten Leib an sich.

„Warum lässt du mich allein ?!", winselte er.

Er griff nach Schuldigs Waffe, zog sie schwer atmend aus den

klammen Fingern.

Aya-chan starrte fassungslos auf Schuldigs leblose Gestalt. Sie kniete

bestürzt im Gras, legte scheinbar verwirrt den Kopf schief, hatte die

Pistole längst fallen lassen.

„Das wollte ich nicht… Schuldig sollte doch nicht sterben…", hauchte

sie bleich.

Sie sah, wie Aya die Waffe auf sie richtete, wusste plötzlich, dass sie

sterben würde. Ihr Bruder wusste genau, wie man mit Pistolen umging.

Schüsse knallten, die Wucht der Kugeln riss Aya-chan um. Blutend

lag sie im Gras, litt nicht lang. Aya hatte gut getroffen.

Der Rotschopf schlang Arme und Beine um Schuldigs noch warmen

Körper, weinte in das lange, seidige Haar.

„Versprich mir, dass ich dich wiedersehe… Versprich, dass du das

Bild beendest…"

Aya sank mit dem Leichnam zu Boden.

„Versprich es mir…"

*

~~~Tokyo, 2098 nach Christus~~~

„Das Grundstück war jahrhundertlang im Familienbesitz. Durch ein

tragisches Unglück verlor die Familie leider ihre sämtlichen Erben

und… Na ja, seit einigen Jahren gehört der Besitz dem Staat. Ich muss

sagen, ein wirkliches Schmuckstück. Und unzählige, antike

Möbelstücke. In den oberen Schlafzimmern sind noch sehr viele

Bilder und alte Bücher… Wenn sie mir bitte folgen würden…" Der

Makler lächelte höflich, bedeutete dem alternden Politiker, ihm zu folgen.

„Was ist in dem Zimmer da ?"

„Oh… Das Zimmer des letzten Erben, der leider an… an Krankheit

gestorben ist. Darin ist nie etwas verändert worden und, ähm…"

„Könnte ich es sehen ?", fragte der potentielle Käufer neugierig.

„Ah… Nun… Natürlich… Sofort, Herr Mitsumoto…" Nervös fummelte

der Makler an seinem Schlüsselbund, öffnete die alte Tür, die ein leises,

knarrendes Geräusch von sich gab.

Interessiert trat Mitsumoto ein, sah sich in dem alten Jugendzimmer um.

Bücherregale über Bücherregale, ein altes Bett, dessen einstmals

wertvolle Bettwäsche längst zu Staub zerfallen war. Und eine Staffelei.

Gespannt ging er auf die Staffelei zu, musterte erstaunt die unversehrte

Leinwand, an der die Jahre scheinbar spurlos vorrübergegangen waren.

Der Makler zog geflissentlich einen der Vorhänge auf, der sich unter

seinen Händen in seine Bestandteile auflöste. Ein breiter Lichtstrahl

erhellte das Zimmer, schien direkt auf die alte Staffelei.

Das Licht ließ die Farben aufleuchten und das bleiche, edle Gesicht

eines Jungen wirkte plötzlich so real, dass Mitsumoto lächeln musste.

„So etwas Schönes… hab ich noch nie gesehen…"

~Owari~

Ich plane ein Sequel, aber damit wart ich besser noch was ^___^°

Schreibt aber ruhig ein paar nette Reviews, ja ? *puppy-dog-eyes*