Das Licht in der Bar war schummrig und ein modriger Geruch lag in der Luft. Es waren kaum noch Gäste anwesend und als Ginny einen Blick auf die Uhr riskierte wurde ihr klar warum. Es war bereits drei Uhr morgens und die meisten hatten sich wohl schon besonnen nach Hause zu gehen. Sie saß bereits seit knappen vier Stunden auf dem exakt gleichen Barhocker und starrte immer noch ihr erstes Bier an. Der Barkeeper hatte sie schon mehrmals gefragt ob alles in Ordnung war und jedes mal hatte sie genickt und ein schwaches Lächeln hervorgebracht. Er war neu hier und kannte sie noch nicht. Er wusste nicht, dass sie jeden Mittwoch Abend im Lachenden Esel verbrachte und, dass sie dabei stets stundenlang ihr Bier betrachtete ohne auch nur ein Wort zu sagen oder ihren Blick einmal davon abzuwenden. Irgendwann, vermutlich in ungefähr einer Stunde, würde sie das Bier von sich schieben, einen Feuerwhiskey und anschließend noch einen zweiten hinunter kippen, dem Barkeeper ein großzügiges Trinkgeld hinterlassen und die Bar verlassen um genau eine Woche später die gleiche Prozedur durchzuführen. Sie schüttelte leicht den Kopf, das war doch lächerlich. Wann hatte sie begonnen sich zu verstecken?
Ihre Gedanken kreisten immer und immer wieder um die gleiche Szene, sie konnte sich daran erinnern als ob es gestern gewesen war.

Es war eine kalte, klare Dezembernacht gewesen und wie jeden Mittwoch musste sie eine Nachtschicht in der Aurorenzetrale verbringen, so war die Vorschrift und Harry machte auch für seine Frau keine Ausnahme, eine Qualität die Ginny grundsätzlich an ihm schätzte. Es waren nur noch zwei Wochen bis Weihnachten und eine dicke Schneedecke hatte sich über England gelegt. Ginny konnte diese zwar nur als Abbild in den verzauberten Fensterläden des unterirdischen Ministeriums sehen, das machte jedoch kaum einen Unterschied. Sie war glücklich verheiratet mit dem Mann, den sie ihr gesamtes Leben geliebt hatte, Weihachten stand vor der Tür und Ron hatte versprochen die halbe Nachtschicht für sie zu übernehmen, schließlich hatten Harry und sie seiner Meinung nach ohnehin zu wenig Zeit füreinander. Wahrscheinlich hatte ihr Bruder sogar recht diesbezüglich. Seit Harry die Leitung der Aurorenzentrale übernommen hatte war ihre Zeit zusammen kurz bemessen. Er war ständig auf Reisen und arbeitete meist bis lange in die Nacht hinein. Trotzdem hatte Ginny sich nie beklagt, sie war sogar stolz auf ihn.

Sie konnte es kaum erwarten bis Ron das Großraumbüro betrat, indem sie die letzte Stunden über den immer selben Akten gebrütet hatte. Er setzte ein warmes Lächeln auf als er auf ihren Schreibtisch zu ging. Seit er Hermine vor fünf Monaten endlich geheiratet hatte war er viel ausgeglichener als früher. Das hieß nicht, dass er nicht seine gelegentlichen Wutausbrüche hatte oder zu einem neandertalerischen Beschützer wurde, aber es kam seltener vor.

„Komm schon Gin, ab nach Hause!" sagte er bevor er seine Kopf in Richtung Tür neigte. Ginny lächelte ihn dankbar an, schnappte sich ihren Mantel und drückte seinen Arm leicht, „Danke." Mit diesem Wort und einem Lächeln drehte sie sich um und ging zu einem der Kamine um nach Hause zu reisen, zum Apparieren war sie bereits zu müde. Das Gefühl, dass durch ihren Körper fuhr und die wirbelnden Farben um sie dauerten nur wenige Sekunden bevor sie elegant aus dem Kamin in ihrer Küche stieg. Es war vollkommen still und kurzzeitig hatte Ginny gedacht, dass Harry sich vielleicht schon in sein Bett gelegt hatte, als sie eine schmalen Lichtstreifen durch die angelehnte Wohnzimmertür fallen sah. Sie legte ihren Mantel über einen Stuhl am Küchentisch und schlich sich an die Tür um ihn nicht zu wecken falls er doch eingeschlafen war. Gerade als sie die Tür öffnen wollte hörte sie Stimmen, zuerst Harry und anschließen Hermine redeten leise miteinander. Sie wusste, dass man andere Menschen nicht belauschen sollte, schon gar nicht den eigenen Ehemann und die beste Freundin, aber es interessierte was Hermine zu später Stunde noch in ihrem Heim trieb. Ob Ron wohl wusste, dass sie hier war?

„...du musst... Ginny...Harry..." Hermines Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und Ginny konnte nur Fetzen auffangen, doch als sie ihren Namen vernahm war ihr Interesse geweckt. Mit einem Schwenk ihres Zauberstabs schwebte ein Paar Langziehohren aus einer der Küchenladen direkt in ihre offene Handfläche. Vorsichtig steckte sie sich eines in ihr linkes Ohr und ließ das zweite durch den Spalt kriechen. Plötzlich fühlte es sich an als ob sie direkt neben den beiden säße.

„Harry, ich weiß ich bin deine beste Freundin... aber..." Hermines Stimme riss ab. Sie hörte sich verängstigt und gleichzeitig hilflos an. Ginny konnte hören wie sie laut schluckte und tief Luft holte bevor sie erneut ansetzte um zu reden. Wieder war ihre Stimme zittrig und leise „Harry, ich kann dieses Geheimnis nicht für mich behalten. Nicht vor Ginny und Ron." Ginnys Herzschlag begann sich zu beschleunigen, was ging hier vor sich? Welches Geheimnis hatte Harry von dem Ginny nichts erfahren durfte?

„Hermine, bitte! Ich..." Harrys Stimme war tränenerstickt und Ginny spürte wie ihr Hals trocken wurde. Wenn Harry weinte handelte es sich bestimmt nicht um eine Lappalie. Ginny wusste, dass dieses Gespräch nicht für ihre Ohren bestimmt war und eine Stimme in ihr sagte ihr, dass sie lieber einen langen Spaziergang nehmen sollte und erst morgen früh zurück kommen sollte, wenn all das vorbei war, doch sie konnte sich nicht losreißen.

„Ich kann Ginny nichts davon erzählen. Ich kann nicht zulassen, dass sie es je erfährt." Sie konnte sich nicht erinnern Harry je so verzweifelt gehört zu haben. „Ich liebe Ginny. Ich liebe sie wirklich, es ist..." wieder brach er ab. Ginnys Herz schlug ihr mittlerweile bis zum Hals und sie wusste, dass nun der Moment war sich das Langziehohr auszureißen, einen langen Spaziergang zu machen und das bisherige Gespräch zu vergessen. Sie wollte nicht hören was kam und trotzdem bewegte sich keine Hand zu ihrem Ohr und kein Fuß entfernte sich von der Tür.

„Es ist eine angenehme Liebe, eine... eine geschwisterliche irgendwie..." Ginny schnappte nach Luft. Ihre Lunge schien sich zusammenzuziehen und ihre Atemwege zu verschließen. Kleine weiße Sternchen tanzten vor ihren weit aufgerissenen Augen und das Blut rauschte i ihren Ohren wie ein tosender Sturm. Immer wieder hallte das Wort geschwisterliche durch ihren Kopf und jedes Mal fühlte es sich an wie eine Ohrfeige. Sofort riss sie sich das Ohr aus, marschierte zum Kamin und apparierte. An diesem Mittwoch Abend war sie das erste Mal tränenüberströmt in den Lachenden Esel gestolpert und war seit dem jeden Mittwoch wieder gekommen. Seit vier Monaten verbrachte sie jede Mittwoch Nacht hier.

Ginnys Blick schweifte wieder zur Uhr, es war kurz vor vier Uhr morgens, wenn sie morgen rechtzeitig zur Arbeit erscheinen wollte sollte sie sich bald auf den Weg machen. Sie war so vertieft in ihre Gedanken gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, dass ein Mann neben ihr Platz genommen hatte. Er trug einen schwarzen Umhang der schon an einigen Stellen geflickt war. Die Kapuze hatte er so tief ins Gesicht gezogen, dass Ginny nur seinen faltigen Mund sehen konnte. Sie unterdrückte ein Seufzen und wandte sich wieder ihrem halbleeren Bierglas zu. Es kam beinahe jede Woche vor, dass sich ein Mann neben sie setzte und einen meist eher schlecht als recht durchdachten Spruch losließ um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.
„Zwei Feuerwhiskey für mich und die Dame bitte." rief der alte Mann dem Barkeeper zu. Seine Stimme war tief und kehlig. Der junge Barkeeper stellte ihnen in Windeseile zwei Gläser auf den Tresen und nickte anerkennend als der alte Mann ihm eine Galleone in die Hand drückte. Ginny war zu müde und zu betrübt um dem Mann eine Absage zu erteilen, betrachtete das Whiskeyglas jedoch nicht.

„Kindchen, Sehnsucht ist ein zweischneidiges Schwert nicht wahr?" seine tiefe Stimme war ungewöhnlich. Sie klang unnatürlich und angsteinflößend zugleich hatte Ginny das Gefühl ihm um jeden Preis zuhören zu müssen. „Die Sehnsucht macht uns menschlich und gleichzeitig saugt sie uns das Leben aus nicht wahr?" Aus irgendeinem Grund wusste sie, dass er keine Antwort auf diese Frage erwartete. „Kindchen, die Sehnsucht frisst dich auf nicht wahr?"
Ein unangenehmes Gefühl kroch in Ginny hoch und trotzdem waren ihre Ohren auf jedes Wort des Greises gebannt. Sie überlegte sich aufzustehen und zu gehen, doch ihre Beinen waren schwer wie Blei. Sie versuchte einen Fuß zu heben, doch egal wie sehr sie es wollte, ihre Glieder bewegten sich keinen Millimeter.

„Du brauchst keine Angst zu haben Kindchen." Sowie er diese Worte gesprochen hatte breitete sich ein angenehm warmes Gefühl in ihrer Magengrube aus und sie spürte wie sich ihre angespannten Muskeln entspannten. Ein vertrautes Gefühl kam in ihr auf und Ginnys Herzschlag verlangsamte sich. Sie hatte keine Ahnung was hier vor sich ging, wusste aber, dass sie sich seit langem nicht so gut gefühlt hatte.

„Ich weiß du verzehrst dich vor Sehnsucht geliebt zu werden und du verzehrst dich danach zu lieben, nicht wahr?" Ginny wollte antworten, dass sie liebte. Sie liebte Harry von ganzem Herzen, doch er konnte ihr nicht mehr abgewinnen als Hermine, doch ihre Lippen waren zu schwer um zu sprechen.

„Kindchen, du liebst diesen Mann nicht so wie du es dir wünschst, nicht wahr?" Alles in ihr schrie, dass das nicht stimmte und dass sie Harry mehr als alles andere liebte, doch kein einziger Laut verließ ihren Mund.
„Tief in dir weißt du, dass du dich belügst. Lügen sind einfacher nicht wahr? Die Wahrheit schmerzt oft viel zu sehr nicht wahr?" Ginnys Entspannung war wie verflogen als ihr gesamtes Sein kämpfte um ihm zu widersprechen. Sie wusste, was sie fühlte und ihre Gefühle waren bestimmt keine Lügen.

„Türen öffnen sich Kindchen, gleich wie sie sich schließen. Türen führen in Hallen und Keller, in Türme und Kerker, keine gleicht der anderen und hinter jeder liegt ein Abenteuer. Du suchst deine Tür noch nicht wahr?" Ginny wollte gehen, sie wollte diesen Mann und seine seltsamen Sprüche hinter sich lassen und trotzdem konnte sie nicht anders als jedem seiner Worte zu lauschen als ob ihr Leben davon abhinge.

„Kindchen diese Tür hat sich geschlossen, wann wirst du durch die nächste gehen?" Sie hatte das Gefühl, dass seine Stimme immer kehliger und tiefer wurde. „Suche deine Tür und gehe hindurch ohne zurück zu schauen. Das Abenteuer wartet dahinter. Das Abenteuer und die Sehnsucht. Suche und finde dort wo du nie annahmst zu finden Kindchen. Man findet doch immer dort am besten wo man nicht sucht nicht wahr?" Zum ersten Mal sah der alte Mann auf und seine Kapuze rutschte ein wenig von seinem Kopf. Gerade soweit, dass sie seine stechend grünen Augen und ein schwarzes Mahl auf der Stirn erkennen konnte. Schwerfällig erhob der Mann sich, verließ die Bar so schnell und leise wie er sie betreten hatte und ließ eine völlig verwirrte Ginny zurück. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und sie bemerkte, dass ihre Stirn nass von kaltem Schweiß war. Ohne ihr Bier oder ihren Feuerwhiskey zu trinken zog sie ihren Mantel an und verließ die Bar. Erstmals seit vier Monaten kreisten ihre Gedanken dabei nicht um Harry.