I dreamed that God would be forgiving

von Michelle Mercy

Ein unbedachter Satz, in Wut ausgestoßen, bringt Javerts und Valjeans Beziehung an den Rand des Abgrunds. Slash, spielt zwischen „It's Valjean and Javert" und „Would you leave the best behind?"

Für Yamx, die mich dieses Plotbunny adoptieren ließ und es gelegentlich in die richtige Richtung treten mußte.

Danke für das Plotbunny und Deine wundervollen Übersetzungen.

Die Jungs gehören Hugo und wirklich noch einander?

Hugo gehören auch die anderen Charaktere, nur Lucien samt Familie und die Prinzessin sind meins.

AN: Ein Kullerkeks für jeden, der herausbekommt, welchen Fall Javert zu Beginn von chapter 1 abgeschlossen hat. Ein Tip: Es gibt zwei Opern dazu, es kommt jedoch nur in der bekannteren vor…

1. Kapitel

Mit einer energischen Bewegung setzte Javert seine Unterschrift unter den Abschlußbericht im Falle des getöteten Papageis. Es war ihm gelungen, die Täter und deren Auftraggeber zu entlarven. Jetzt konnte sein eigener Auftraggeber Schadensersatzansprüche geltend machen.

Natürlich war der Fall mehr als lächerlich gewesen, der Nachbar des Auftraggebers, ein spleeniger englischer Lord, hatte einen Musiker dafür bezahlt, daß dieser vor Weihnachten 1842 solange spielte, bis der Papagei verstarb. Da das Tier offenbar nicht zu sterben wünschte, hatte der Musiker das Hausmädchen des Auftraggebers bestochen, das Tier zu vergiften, damit der Musiker den Weihnachtsabend in Ruhe zusammen mit seinen Freunden feiern konnte.

Eigentlich war ein solcher Fall Javerts Fähigkeiten nicht würdig, aber seit er den weißen Elefanten der Oper vor sechs Jahren wiederbeschafft hatte, galt er in einigen Kreisen als Experte für Fälle mit Tieren – häufig zu seinem Leidwesen.

Aber diesen Fall hatte er nicht ablehnen können, der Besitzer des Papageis war ein wichtiger Förderer der Fantine-Stiftung, und eine Ablehnung des Falles hätte möglicherweise zur Folge gehabt, daß die Spenden ein wenig sparsamer geflossen wären. Somit war Javert kaum eine Wahl geblieben, als den Fall zu übernehmen und zu lösen. Letzteres war ihm gelungen, sein Honorar war bereits bezahlt worden, und er hatte allen Grund zu hoffen, daß seine nächste Aufgabe etwas weniger exotisch und exzentrisch sein würde; vielleicht würden sogar ausnahmsweise keine Tiere eine Rolle spielen.

Nach dieser Anstrengung hatte Javert den Abend, der ihm vorschwebte, sich redlich verdient, wie er fand. In den nächsten Minuten würde Valjean von seiner Tätigkeit bei der Stiftung zurückkehren, sie würden zusammen zu Abend essen, wobei Javert all die skurrilen Einzelheiten des Falles des ermordeten Papageis schildern würde, und nachdem sie den Abend vor dem Kamin hatten ausklingen lassen, würden sie sich ins Schlafzimmer zurückziehen. Dieser Ablauf hatte sich in den vergangenen zehn Jahren eingebürgert, immer wenn Javert einen Fall abgeschlossen hatte.

War es absehbar, daß ein Fall zuende gehen würde, hielten sie sich einen Abend von Verpflichtungen frei. Dieses Ritual half, den manchmal durch Fälle, die Stiftung und familiäre Pflichten vollgestopften Alltag zu vergessen, und ihren Blick auf das Wesentliche zu lenken, nämlich ihr Zusammensein.

In den ersten Jahren hatte Javert gelegentlich heimliche Zweifel gehegt, ob es wirklich andauern konnte, dieses unglaubliche Glück, doch in den letzten Jahren war dieser Zweifel vollständig verstummt. Er fühlte sich sicherer, als je zuvor in seinem Leben.

Javert hörte, wie unten die Tür sich öffnete. Mit einem leisen Lächeln erhob er sich, ging hinüber zum Tisch und goß ein Glas aus der dort stehenden Rotweinkaraffe ein. Er stellte das Glas auf dem Tischchen neben Valjeans Sessel ab und räumte noch schnell die Unterlagen seines abgeschlossenen Falles zusammen. Es entging seiner Aufmerksamkeit dadurch, daß die Schritte auf den Stufen langsamer und schwerer waren, als dies gewöhnlich war. Auch dauerte es länger als üblich, bis sich die Tür öffnete.

„Das Dienstmädchen und der Musiker waren es", sagte Javert und wollte weitersprechen, als er den Ausdruck in Valjeans Gesicht sah. Die Augen waren gerötet, als habe er geweint, seine Haut war fast so weiß wie der Bart, und zum ersten Mal wirkte Valjean wirklich so alt, wie er tatsächlich war. „Mein Gott, was ist passiert?"

Valjean machte ein paar unsichere Schritte, stützte sich an einem der Bücherregale ab und lehnte sich mit der Stirn gegen eines der Borde.

Javert fühlte Panik in sich aufsteigen. Was konnte Valjean in einen solchen Zustand versetzt haben? Doch nur ein Ereignis von entsetzlichen Ausmaßen. War etwa Cosette oder einem der Kinder etwas passiert? Er ging zu Valjean hinüber und wollte ihn berühren, doch dieser machte eine abwehrende Handbewegung.

„Gib mir einen Moment", bat Valjean mit einem Zittern in der Stimme. Die Bewegung, mit der er sich von dem Regal abstieß, war voller Verzweiflung und Wut.

Wut bei Valjean? schoß Javert durch den Kopf. Bei seinem heiligen Jean? „Um Himmels Willen, Valjean, sprich mit mir."

Mechanisch ging Valjean zu seinem Sessel herüber, griff nach dem Wein auf dem Tischchen und stürzte den Inhalt des Glases geradezu in sich hinein. Der Wein bewirkte, daß Valjeans Gesicht wieder etwas Farbe annahm, und daß er nunmehr ziellos im Raum auf und ab zu laufen begann.

Geduld war nicht unbedingt Javerts stärkste Seite, wenn er in größter Sorge war. So packte er Valjean bei den Schultern und zwang ihn damit, sowohl innezuhalten, als auch ihn anzusehen. „Ich möchte, daß du mir jetzt sagst, was geschehen ist."

Valjean sah zur Decke auf, als suche er dort nach Unterstützung. „Es ist in der Stiftung etwas Grauenvolles passiert. Eine junge Frau kam zu uns. Sie… sie hatte Prellungen und Wunden am ganzen Körper. Ein Straßenmädchen."

Javert hörte aufmerksam zu. Da mußte noch mehr sein, denn eine Prostituierte mit Verletzungen mochte zwar traurig sein, aber kam in der Stiftung fast jeden Tag vor. Das allein konnte Valjean nicht so außer Fassung gebracht haben.

„Nun, sie berichtete uns, was ihr geschehen ist", fuhr Valjean fort. „Sie wurde von der Polizei gestern abend aufgegriffen. Offenbar haben die Polizisten sie als Freiwild betrachtet, und sie die ganze Nacht mißhandelt, und… noch anderes." Er schloß für einen Moment die Augen. „Sie war in einem fürchterlichen Zustand. Sie erinnerte mich so schrecklich an Fantine."

„Oh, Valjean", flüsterte Javert und zog ihn an sich.

Valjean lehnte seinen Kopf für einen kurzen Augenblick gegen Javerts Schulter, dann machte er sich los. „Ich wünschte, das wäre alles, aber das ist es nicht." Valjean begann erneut, auf und ab zu laufen. „Ich habe ihr dann gesagt, daß wir dafür sorgen können, diese Polizisten zur Strecke zu bringen. Ich schlug vor, sie sollte mir dir sprechen, weil du ein ehemaliger Polizist seiest und wüßtest, was zu tun wäre." Seine Stimme brach. „Sie hörte nur ‚Polizist' und stürzte hinaus auf die Straße. Der Kutscher des Wagens hat noch versucht, die Pferde zum Halten zu bringen, aber es war zu spät. Als wir bei ihr waren, war sie bereits nicht mehr am Leben."

Javert schwieg. Er wußte nicht, was er tröstendes sagen konnte, und körperlichen Trost hatte Valjean gerade zurückgewiesen.

„Wenn ich wüßte, welche Polizeistation das war, ich schwöre dir, ich wäre schon dort und würde diesen Polizisten einprügeln, wie man Frauen zu behandeln hat, bevor ich sie verhaften ließe." Valjean schleuderte das Weinglas zu Boden, wo es zerbrach.

„Ohne sie wirst du nie wissen, ob du die richtigen Polizisten erwischt."

„Ich bin im Augenblick nicht sicher, ob es einen Falschen gäbe."

„Das meinst du nicht wirklich ernst", sagte Javert besänftigend.

„Nimmst du das Verhalten dieser Polizisten etwa in Schutz?"

„Das habe ich nicht gesagt."

„Aber gedacht hast du es, nicht wahr?" Valjean funkelte Javert an, so außer sich vor Wut und Frustration war er. „Sie war ja nur eine Hure."

„Was willst du damit andeuten?" Langsam begann Javert die Geduld zu verlieren. Er hatte keine Erfahrung damit, wie er mit einem tobenden Valjean umgehen sollte. Ein solcher Ausbruch war ihm gänzlich unvertraut.

„Immerhin hast du zu deinen Zeiten auch mal ganz gerne Prostituierte in Angst und Schrecken versetzt." Valjeans Stimme nahm einen verletzenden Unterton an. „Ich erinnere mich daran, daß schon dein bloßer Anblick genügt hat, um eine Frau vor Entsetzen sterben zu lassen."

Javert stand stocksteif mitten im Raum. Er hatte das Gefühl, als habe ihm jemand mit aller Gewalt ins Gesicht geschlagen. Er spürte, wie seine Knie weich wurden, wie sein Magen rebellierte, wie er etwas erwidern wollte, aber seine Stimme den Dienst versagte. Eine Ewigkeit lang, die tatsächlich nur wenige Sekunden angedauert hatte, war er unfähig, sich auch nur zu rühren. Er erwiderte Valjeans noch immer zornigen Blick, ohne die Augen abzuwenden.

Endlich wandte er sich um, öffnete die Tür und sagte leise: „Ich werde jetzt einen langen Spaziergang machen, weil ich sonst mit Sicherheit etwas tun oder sagen würde, was ich später bedauerte. In ein paar Stunden werde ich zurückkommen."

Mit schnellen, aber nicht hastigen Schritten verließ Javert das Zimmer und, nur aufgehalten durch das Mitnehmen seines Mantels, das Haus.

Es war kalt und zudem schon recht dunkel, und eigentlich hatte er auch kein Ziel, das er ansteuern wollte oder konnte. Also lief er einfach ziellos drauflos.

Nach etwa zehn Minuten war der erste Schock über das, was geschehen war, so weit abgeklungen, daß Javert in der Lage war, einen ersten klaren Gedanken zu fassen. Absurderweise war dieser Gedanke die Frage, ob er mit dem Verlassen der Wohnung nicht das Versprechen brach, nicht mehr voreinander wegzulaufen, das Valjean und er sich vor so vielen Jahren in einer Kutsche von Toulon nach Paris gegeben hatten. Nachdem er ein paar Dutzend Schritte intensiv über die Frage nachgedacht hatte, kam Javert zu dem Schluß, daß er nicht weggelaufen war. Er hatte erklärt zurückzukommen, und da er sich an seine Versprechen hielt, war dies auch seine Absicht.

Nur fiel es ihm schwer, eine Antwort zu finden, wohin er zurückkehren würde. Es war ihm unmöglich zu begreifen, wie es geschehen konnte, daß der sanfteste, liebevollste Mensch der Welt, der alles vermied, was einen anderen verletzen konnte, zu einem solchen Schlag ausholen konnte, zumal er auch noch ohne jede Vorwarnung gekommen war.

Sie hatten nicht gestritten, es war nichts in den vergangenen Tagen oder Wochen geschehen, was Javert darauf hätte vorbereiten können. Dieser Satz war aus heiterem Himmel, vollkommen überraschend, gekommen…

Das Schlimmste daran war, daß dieser Satz genau dort getroffen hatte, wo es am meisten wehtat. Javert war sich seiner Fehler, seiner Mißerfolge und auch seiner wenigen Sünden sehr bewußt. Das Wissen, daß er für Fantines Tod zumindest mitverantwortlich war, hatte in ihm geschlummert, auch wenn er nicht wußte, wie er damals anders hätte handeln können. Doch Valjeans zornige Worten hatten dieses Wissen mitsamt so etwas wie einem Schuldgefühl geweckt, und das bereitete Javert fast körperliche Schmerzen.

Niemand auf der Welt konnte ein größeres Wissen über Schuldgefühle haben als Valjean, der war unangefochtener Experte auf diesem Gebiet. Wie aber konnte jemand, der sein ganzes Leben sich mit Schuld beschäftigt hatte, ausgerechnet einen solchen Satz sagen? Er mußte doch zumindest ahnen, wie verletzend diese Worte sein mußten.

Noch niemals zuvor, gleichgültig was geschehen war, wie aufgewühlt Valjean gewesen war, hatte er derart blind und gleichzeitig zielgerichtet gewütet. Er hatte genau den wunden Punkt getroffen, an dem er den größtmöglichen Schaden anrichten konnte.

Javert fühlte sich verletzt, wütend und einsam. Verletzt wegen dem, was Valjean gesagt hatte, wütend, weil es ihn so sehr verletzte, und einsam, weil er nicht wußte, mit wem er über seine Wut und seine Verletztheit sprechen sollte. Immer, wenn ihn in den vergangenen zehn Jahren zuvor unbekannte Emotionen überschwemmten, konnte er darüber sprechen, denn Valjean war da, um ihn aus der Flut ans rettende Ufer zu ziehen. Doch jetzt war er nicht da, um wieder hinter Javert ins Wasser zu springen, in das er ihn gestoßen hatte.

Javert erkannte, daß er keine andere Wahl hatte, als allein mit seiner Wut und seiner Verletztheit umzugehen. Wie war er in den ersten zweiundfünfzig Jahren seines Lebens damit ungegangen? Er konnte sich nicht erinnern, er wußte nur, daß er, als er viel zu früh begriffen hatte, daß er die Liebe seiner Mutter niemals würde erringen können, sein Herz in einem Stein verschloß. Niederlagen mochten ihn ärgern, die Tatsache, daß es ihm nicht gelang, einen bestimmten Sträfling zu verhaften, mochte an ihm nagen, das Verhalten eben dieses Sträflings mochte noch so verwirrend sein, aber er geriet nicht in Gefahr, sich davon überwältigen zu lassen, wie es jetzt gerade geschah. Valjean hatte den Stein in seinem Herzen auseinandergebrochen, zehn Jahre lang so getan, als sei das, was sich in dem Stein befand, das Wertvollste überhaupt, und es jetzt zu zerbrechen versucht.

So verletzt und im Innersten getroffen, wie Javert auch war, wußte er dennoch, daß ihm keine Wahl blieb. Er mußte nach Hause zurückkehren. Es war immer noch ein Versprechen, und außerdem mußte er sich eingestehen, daß sein Hinausstürmen in den kalten Januarabend ohne Hut und nur mit normalen Schuhen, statt der Winterstiefel, keine ganz durchdachte Idee gewesen war. Es war eisig, durch seine aufgewühlten Emotionen spürte er die Kälte noch mehr, als er es sonst getan hätte, und letztendlich half es auch nichts, die Rückkehr weiter hinauszuschieben.

Javert neigte nicht dazu, unangenehme Situationen hinauszuzögern. Aber dennoch wußte er nicht, was er Valjean sagen wollte oder sollte. Eigentlich hatte er nicht das Bedürfnis, mit ihm zu sprechen nach dem, was geschehen war. Letztlich wollte er sich am liebsten irgendwo verkriechen, und wo sollte er das sonst tun, wenn nicht zuhause?

Javerts Schritten fehlte die Wut und die Entschlossenheit, als er sich auf den Rückweg machte, die ihnen innegewohnt hatte, als er die Wohnung verlassen hatte. Er war heilfroh, daß die Straßen nicht auch noch verschneit oder vereist waren, denn mit den wenig sicheren Schritten und den unpassenden Schuhen hätte leicht die Gefahr bestanden, auszurutschen und zu stürzen.

Als er schließlich vor dem Haus angelangt war, in dem ihre Wohnung lag, atmete er noch einmal tief durch. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß er jemals soviel Kraft benötigt hatte, um eine Tür zu öffnen. Der Weg nach oben war beschwerlich. Javert hatte sich niemals tatsächlich alt gefühlt, doch jetzt fühlte er in jedem Knochen die einzelnen Stufen.

Er hängte seinen Mantel noch sorgfältiger auf als sonst, vertauschte seine Schuhe mit den von Marie-Eponine selbstgestrickten und ihm als Weihnachtsgeschenk überreichten Hausschuhen in diesem unglaublichen Rot mit dem schwarzen Puschel. Das war sicherlich keine Farbzusammenstellung, die er freiwillig getragen hätte, aber seinem Patenkind konnte er nichts abschlagen. Außerdem mußte er seine Füße wärmen, die eisig kalt waren.

Die Tür zum Salon zu öffnen, kostete beinahe noch mehr Kraft, als die Haustür aufzumachen.

Valjean hockte zusammengesunken auf dem Fußboden vor der Chaiselongue und hob jetzt den Kopf. Sein Blick war verzweifelt und noch immer voller Zorn. Bevor Javert sich entscheiden konnte, was er tun sollte, ob er das Zimmer betreten wollte, sagte Valjean: „Tritt bitte nicht in das Weinglas. Ich habe für heute schon genug Schaden angerichtet."

Javert blickte auf den Teppich, wo die Splitter des Glases lagen, das Valjean zu Boden geschleudert hatte. Er bückte sich und klaubte die Scherben zusammen, soweit sie zu sehen waren. Er legte sie ab auf dem Tisch, wozu er das Zimmer vollständig betreten mußte. „Danke der Warnung", sagte er, ohne daß aus seiner Stimme irgendeine Regung zu erkennen war.

Valjean vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Ich hätte das nicht sagen dürfen."

„Das Problem ist, daß du es aber gesagt hast."

„Es tut mir leid." Mühsam zog Valjean sich auf die Füße.

„Und?" fragte Javert zurück. Er hatte jahrzehntelange Erfahrungen damit, sein Herz zu verschließen. Was waren da schon zehn Jahre, in denen er gelernt hatte, es zu öffnen? „Meinst du, daß das etwas ändert daran, was geschehen ist?"

„Nein, wahrscheinlich nicht." Valjean ließ seinen Kopf hängen. „Ich hoffte nur, daß du mir vielleicht vergeben kannst."

„Du verlangst ziemlich viel."

„Ich bin nicht in der Position, irgend etwas zu verlangen."

„Da hast du wohl recht." Es wäre so leicht gewesen, Valjean zu sagen, daß alles vergeben und vergessen sei, doch das wäre nicht ehrlich gewesen. Es entsprach einfach nicht der Wahrheit. Javert fühlte sich nicht in der Lage, zu vergeben, und ebensowenig konnte er lügen.

„Was immer ich tun soll, um wieder gutzumachen, was ich getan habe, ich werde es tun", sagte Valjean flehend.

„Ich bin nicht sicher, ob du das wieder gutmachen kannst", erwiderte Javert mit brutaler Offenheit und kam sich im selben Moment grausam vor. Dabei sagte er doch nur die Wahrheit über das, was er empfand; aber wenn die Wahrheit so verletzend war, mußte man sie dann sagen? „Entschuldige", brachte er nach einer Pause hervor, „ich hätte das vielleicht diplomatischer formulieren können."

„Ich ziehe es vor zu wissen, woran ich bin", gab Valjean zurück; das Sprechen fiel ihm schwer, denn er fühlte sich nicht als Herr seiner Stimme. „Wie gehen wir jetzt damit um?"

„Ich weiß es nicht." Javert strich mechanisch eine Haarsträhne, die sich aus seinem Zopf gelöst hatte, aus dem Gesicht.

„Und es gibt wirklich nichts, was ich tun kann?" Valjean wirkte, als sei er am Ende seiner Kräfte.

„Ich befürchte, ich werde zunächst einiges verdauen müssen, bevor ich darüber nachdenken kann, was die Zukunft bringt." Den stummen Zusatz „wenn es denn eine gibt" hörten sie beide, ohne daß er ausgesprochen werden mußte.

„Das verstehe ich." Valjean mußte diese Worte seiner Zunge förmlich abtrotzen, da sie ihren Dienst zu versagen schien. „Wenn du möchtest, dann… dann kann ich ein paar Tage zu Cosette ziehen, damit du Zeit zum Nachdenken hast." Sein Gesicht wirkte, als würde ihn gleich übel werden.

„Nein." Javert schüttelte den Kopf. „Das wäre zu einfach. Es wäre eine Form von Weglaufen."

„Vermutlich hast du recht." Valjean atmete erleichtert auf. Die Vorstellung, neben der emotionalen Distanz auch noch eine räumliche zwischen sie zu bringen, war quälend gewesen, doch wenn es Javerts Wünschen entsprochen hätte, wäre ihm keine Wahl geblieben.

Javert sah zu Boden und hob nach wenigen Sekunden den Kopf, um Valjean anzusehen. Sie hatten in den letzten zehn Jahren über alles sprechen können, was sie bewegte, doch jetzt fehlten ihnen die Worte.

Plötzlich wußte Javert, daß er diese und vielleicht auch die nächsten Nächte nicht in ihrem Schlafzimmer neben Valjean verbringen konnte. Es war unmöglich, diese Nähe jetzt in dieser Situation zuzulassen. Das würde nur seine Gedanken vernebeln, ihm verbieten, klar zu denken. „Ich denke allerdings, daß es besser ist, wenn ich erst einmal hier schlafe", brachte er schließlich hervor. „Ich glaube, alles andere wäre zu kompliziert."

Valjean spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. Natürlich konnte keiner von ihnen jetzt einen Gedanken verschwenden an das, was zwischen ihnen in ihrem Schlafzimmer geschah, doch die Vorstellung, nicht einmal beim Aufwachen in der Nacht die beruhigenden Atemzüge des anderen zu hören, war beängstigend. „Ich verstehe", würgte er heraus.

Javert war erleichtert, obgleich sich in diese Erleichterung ein Stückchen von Enttäuschung mischte, daß Valjean keinerlei Gegenwehr zeigte. Das mußte daran liegen, daß dieser trotzt seiner Entschuldigung noch immer das dachte, was er gesagt hatte. Mit leicht herunterhängenden Schultern ging Javert nach nebenan ins Schlafzimmer und griff nach seinem Kissen und einer der Decken. Normalerweise benutzten sie ihre Decke gemeinsam, aber in den kalten Januarnächten lag am Fußende noch eine zusätzliche Decke. Er warf beide auf die Chaiselongue und mußte sich unwillkürlich auf die Lippen beißen. Wie oft hatten sie gemeinsam auf diesem Möbelstück gelegen, wo dann eines zum anderen geführt hatte…

Valjean blickte ebenfalls auf die Chaiselongue, gab einen schwer zu definierenden Laut von sich und verließ mit zögernden Schritten den Salon.

Javert ließ sich auf der Chaiselongue nieder und verbrachte die Nacht damit, eine Position zu finden, in der er hätte schlafen können, wenn er nicht durch seine trüben Gedanken und das heimliche Lauschen auf Laute aus dem Schlafzimmer wachgehalten worden wäre.

Solche Laute kamen jedoch nicht, denn Valjean hatte schließlich eine jahrzehntelange Erfahrung, ohne ein einziges Geräusch von sich zu geben, in sein Kissen zu weinen.