Die Straßen des Ligusterwegs waren im Dunkeln fast schwarz. Man sah das reflektierende Licht der Laternen in den Wasserpfützen spiegeln. Niemand, aber auch wirklich niemand, war noch auf der Straße. Bei diesem Wetter jedoch kein Wunder. Ja, kaum zu glauben, dass es Juli war. Es regnete und regnete, doch trotzdem lag immer noch diese widerlich schwüle Wärme in der Luft.
Harry Potter saß in der Küche und starrte auf den Tisch, während sein Onkel und seine Tante Zeitung lasen und ihn keines Blickes würdigten. Dudley ging mal wieder seiner Lieblings-Beschäftigung nach und saß essend vor dem Fernseher. Ja, bald musste er die Breite des Großbildfernsehers übertroffen haben, dachte Harry. Onkel Vernon schlug eine Seite seiner Zeitung um und warf Harry einen Blick zu, als er jedoch sah, dass Harry zurückstarrte, richtete er sein Augenmerk wieder auf die Zeitung.
"Hast du das gehört, Petunia?" fragte er laut und Tante Petunia sah neugierig auf, "Die haben immer noch kein gutes Wetter angesagt. Unfassbar, dass so etwas im Juli sein kann. Gibt es doch gar nicht. Normalerweise müsste zu dieser Zeit strahlender Sonnenschein sein."
"Vielleicht wird es ja nächste Woche besser," sagte Tante Petunia und wandte sich wieder ihrer eigenen Zeitung zu.
"Diese vollidiotischen Wetterfuzzis! Haben doch nichts Besseres zu tun, als uns den Tag zu verderben, indem sie sagen, dass es regnerisch bleibt."
So etwas musste Harry sich den ganzen Tag anhören. Egal, wann er nach unten kam, immer hörte er Onkel Vernon, wie er über irgendetwas schimpfte und Tante Petunia, die immer nur zustimmte. Langsam hatte er es satt. Das gute jedoch an den Dursleys war, dass sie ihn nicht mehr schikanierten, ihn reizten oder ihn in irgendeiner Weise zu beschimpfen. Nein, das würden sie nicht wagen....Nicht, nachdem sie Moody am Ende des letzten Schuljahres auf dem Bahnhof gesehen haben. Sie sahen Harry nicht an, sprachen ihn nicht an und taten alles, um ihn nicht irgendwie zu reizen, damit er auch ja nicht auf die Idee kam, "diesem Typen mit dem komischen Auge" zu schreiben. Oh nein, sie waren jetzt wie ausgewechselt. Tante Petunia räumte täglich Harrys Zimmer auf, machte die Betten und etwas zu Essen, Onkel Vernon tat einfach überhaupt nichts und Dudley hatten sie befohlen, sich am Riemen zu reißen, indem er Harry einfach beseite liegen lässt. Sie hatten einfach Angst. Angst vor einem Mann, den sie nicht einmal kannten...Angst vor einem Mann, den sie eine Minute lang gesehen hatten und den sie nach seinem Auge beurteilten. Obwohl Harry ihnen das eigentlich nicht verdenken konnte. Als er das erste mal sah, wie Moody bzw. Barty Crouch in die Große Halle kam, stockte ihm der Atem und ja, dort hatte er auch Angst vor ihm. Dudley schaltete überraschenderweise das erste Mal seit Tagen den Fernseher aus und stand auf. Harry konnte es nicht glauben...Dudley bewegte sich? Er kam an dem Tisch vorbeigewatschelt und Tante Petunia sah auf:
"Aah, mein kleiner Engel, ich wollte dich was fragen," sagte sie, stand auf und fuhr ihrem schweineähnlichen Sohn durch das blonde Haar. "Ich habe noch nicht alle Geburtstagsgeschenke für meinen Duddy-Wutz. Eines fehlt mir noch. Was wünschst du dir?"
"Bloodywarteildrei," nuschelte Dudley mit vollem Mund.
"Was hast du gesagt, mein Spatz?"
Dudley schluckte den Bissen herunter und Essensreste klebten ihm am Mundwinkel, woraufhin Harry angewidert wegsah.
"Bloody War Teil Drei," sagte er und Tante Petunia strahlte bis über beide Ohren. Harry fragte sich warum, denn wie zum Teufel konnte man stolz auf seinen Sohn sein, der entweder vor dem Fernseher, vor dem Kühlschrank oder vor der Playstation hockt.
Tante Petunia streichelte Dudley noch einmal über den Kopf und dieser verschwand dann nach oben in sein Zimmer. Harry ging seinem Beispiel nach und ging ebenfalls die Treppe hoch in sein Zimmer. Er legte sich aufs Bett und starrte an die Decke. Und dann geschah es. Er sah Sirius Gesicht vor seinen Augen...Hier konnte er ihm nicht entgehen. Er richtete sich auf und rieb sich die Augen. So sehr hatte er gehofft, sich ablenken zu können, so sehr hatte er gehofft, nicht ständig an seinen Paten denken zu müssen. Eigentlich dachte er, er könnte es einfach verdrängen. Einfach an irgendetwas lustiges denken und schon war Sirius Gesicht nicht mehr vor seinen Augen. Verdammt, er hatte gehofft, dass er sich nicht soo oft mit dem Tod seines Paten auseinandersetzen musste. Aber das schien unausweichlich. Ständig dachte er an ihn, selbst wenn er es nicht einmal wollte, selbst wenn er gerade etwas komplett anderes tat. Er ging zu seinem Koffer und holte das Fotoalbum seiner Eltern heraus. Er schlug die Seite auf, wo das Bild der Hochzeit war. Und da war er. Neben James und Lily...Ein Mann mit kurzen schwarzen Haaren, einem braungebrannten Gesicht und grauen Augen. Ja, dieser gutaussehende Mann war nicht mehr da. Harry merkte gar nicht, wie eine Träne auf das Bild tropfte. Er sah es noch eine Weile lang an und tat es dann wieder in den Koffer. Als er aufstand, hörte er, wie Dudley sein Zimmer wieder verließ und eine Jacke überzog. Vermutlich würde er gleich wieder mit seinen Freunden randalieren und seinen Eltern würde er sagen, dass er wieder irgendwo zum Essen eingeladen ist.
Harry musste sich ablenken, er musste etwas tun, damit er seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtete als auf seinen Paten. Und dann fiel ihm ein, was er machen konnte. Er ging zu seinem Schreibtisch, schob mit einem Ruck die Schublade auf und holte ein Blatt Papier heraus. Er nahm seine Feder, tauchte sie in das Tintenfass und kritzelte los.
Hallo Remus,
mir geht es gut. Die Dursleys behandeln mich immer noch gut. Du brauchst dir keine Sorgen machen, alles ist in bester Ordnung. Was gibt es neues vom Orden?
Harry
Er faltete den Zettel zusammen und wusste genau, dass Lupin ihm keine genaue Antwort auf seine Frage geben würde. Er durfte es Harry natürlich nicht sagen, denn was im Orden des Phönix geschah, war total geheim und man durfte erst in den Orden, wenn man volljährig war. Der Orden des Phönix war eine geheime Organisation unter der Leitung von Albus Dumbledore, die alles dafür tat, um die Pläne von Lord Voldemort zu verhindern. Natürlich würde Lupin ihm darauf nichts schreiben, doch versuchen konnte er es ja trotzdem. Er ging zu Hedwig hinüber und band ihr den Brief ans Bein.
"Bring den zu Lupin, ja?"
Sie ließ ein fröhliches Fiepen hören, offenbar glücklich darüber, endlich mal wieder einen Auftrag zu bekommen und flog dann mit weitausgebreiteten Flügeln aus dem Zimmer. Harry sah ihr noch einen Augenblick nach und setzte sich dann wieder aufs Bett. Ron und Hermine hatten ihm erst einmal geschrieben und auch nur gefragt, wie es ihm geht und was er so macht. Nichts besonderes. Morgen jedoch war sein Geburtstag und er war sich sicher, dass er dort ausführlichere und genauere Briefe bekam. Er hatte keine Ahnung, wie lange er auf dem Bett lag...vermutlich schon ein paar Stunden. Er war sogar schon kurz davor, einzuschlafen, doch er wurde aufgeweckt durch die laute Türklingel. Er richtete sich auf. Wer klingelte denn schon noch so spät an der Tür. Langsam öffnete er die Tür seines Zimmers und lauschte, wie Onkel Vernon öffnete.
"Guten Abend," sagte die Stimme eines Mannes.
"Dudley?" rief Onkel Vernon überrascht, "Was ist denn passiert, mein Junge? War das wieder Potter?"
"Wir haben Ihren Sohn aufgegriffen, als er mit ein paar anderen Jugendlichen einen Zeitungscontainer in Brand steckte."
"Was?! Ist das war, mein Sohn?"
"Ja," ertönte ganz leise die spitze Stimme von Dudley. Harry riss die Augen auf. War Dudley tatsächlich von der Polizei geschnappt worden?
"Wir werden Ihren Sohn mitnehmen für ein paar Aussagen. Vier weitere Jungs sitzen bereits im Wagen. Sie werden Ihren Sohn sicher begleiten wollen?"
"Ja, sicher," sagte Onkel Vernon, "Petunia!"
Tante Petunia kam herbei und war nicht weniger überrascht als Onkel Vernon.
"Dudley? Was ist denn los?"
Als Onkel Vernon ihr berichtet hatte, was passiert war, brach sie in Schluchzen aus. Onkel Vernon brauchte einige Minuten, um sie zu beruhigen. Sie zogen ihre Jacken über und verließen gemeinsam mit Dudley und dem Polizisten das Haus.
