Auf und Davon ins Diesseits
Anmerkung des Autors: Klugscheißermodus ein
- Meines Wissens nach gibt es im Großraum Berlin keine Amish.
- Amish und Hutterer sind nicht dasselbe.
- Rumspringa ist eigentlich dazu da, dass die pubertierenden Amish sich innerhalb der Gemeinde beschnuppern und einen potentiellen Heiratskandidaten ausfindig machen können.
- Während der Rumspringa sind die Jungs 16, die Mädchen zwischen 14 und 16. Das Ganze ist sehr, sehr züchtig.
- Moderate Amish-Gruppen lassen Kontakte in die „große böse Außenwelt", durch Diesel-Generatoren produzierten Strom und ein Telefon zu.
- …
Für diese FF drehe und biege ich mir dieses Faktengerüst so zurecht, wie es besser zu Lisa, Rokko und Co. passt. Also nicht wundern, wenn das eine oder andere nicht so ganz der Amish/Hutterer-Wirklichkeit entspricht.
Das reicht auch schon an trockenen Fakten, von daher Klugscheißermodus aus. Für alle, die ich jetzt nicht unter den Tisch gelangweilt habe: Viel Spaß mit dem ersten Kapitel.
Auf und Davon ins Diesseits
1.
„Bruno, wieso bist du so spät noch auf?" – „Lisa!", erschrak der junge Mann und fuhr herum. „Du schläfst doch auch noch nicht." – „Ich bin so aufgeregt, weil doch jetzt jeden Tag die Lämmchen geboren werden können." Schweigend schulterte Bruno einen prall gefüllten Rücksack. „Was machst du da?", fragte seine kleine Schwester. „Ich verschwinde von hier." Lisas blaue Augen weiteten sich entsetzt. „Wieso? Und… und wohin? Deine Taufe ist doch…" – „Vergiss meine Taufe, Lisa. Das hier, das ist nicht mehr meine Welt. Ich habe dir doch von Berlin erzählt, oder? Diese große, bunte Stadt und von dem… diesem Zug, der dorthin fährt. Lisa, ich will in dieser Welt leben. Nicht hier, das ist so… so…" – „Heimelig", vervollständigte Lisa. „Und rückständig. Die Welt da draußen funktioniert ganz anders und ich will ein Teil dieser Welt sein. Ich will Mutter und Vater keine Schande machen. Ich will nicht, dass ihnen Meidung zu Teil wird, darum… ich verabschiede mich nicht. Alle werden denken, ich sei auf Wanderschaft." – „Und deine Taufe? Es bleibt dir nicht viel Zeit für deine Entdeckungsreise." – „Es ist eine Reise ohne Wiederkehr, Lisa. Rumspringa soll uns zeigen, wo wir hingehören und mein Platz ist nun einmal nicht hier. Du wirst das selbst sehen, wenn es bei dir soweit ist." – „Ich werde die Gemee nie verlassen und schon gar nicht für ein Moloch wie diese Stadt – sie ist böse und gefährlich. Ich werde Mutter und Vater keine Schande machen", erwiderte Lisa trotzig. „Das habe ich auch einmal gesagt und jetzt sieh mich an! Ich verschwinde einfach so, mitten in der Nacht. Hier", sagte Bruno und drückte Lisa einen Zettel in die Hand. „Das ist die Adresse meines Freundes Jürgen, wenn du jemals… falls du nach Berlin kommst, dann… ich würde mich freuen, wenn du mich nicht vergisst." – „Ach, Bruno, das werde ich nicht, niemals. Du bist doch mein großer Bruder." Die Geschwister umarmten sich fest. „Ich muss los. Gleich steht Vater auf, um in den Stall zu gehen." Ohne sich noch einmal umzusehen, verließ Bruno den elterlichen Hof.
„Hey Bruno! Ich hätte ja nicht gedacht, dass du so schnell wieder hier sein würdest", freute Jürgen sich einige Zeit später. „Ich habe mich eben nicht so tollpatschig angestellt wie sonst, so hat niemand gemerkt, dass ich Göberitz verlasse." – „Sieht so aus, hätte ja nur noch gefehlt, dass ich dich vom Marterpfahl losbinden muss." – „Was hast du denn für eine Vorstellung von unserer Lebensweise?", empörte Bruno sich. „Gar keine, das ist ja das Problem. In der Schule ward ihr immer ein Grüppchen für euch und dann ward ihr plötzlich alle weg." – „Weil wir unsere eigene Schule gekriegt haben. Das war bestimmt nicht im Sinne des Herrn, einen solchen Rechtsstreit darum zu führen." – „Ich meinte ja auch eher, dass die meisten von euch nach ihrem 16. Geburtstag einfach so weg waren – ohne Abschluss und vor allem ohne Abschied. Tut mir leid, Bruno, aber dafür kann und will ich kein Verständnis aufbringen. Umso schöner ist es, dass wir uns wieder getroffen haben – ich meine, Berlin ist eine Millionenstadt, da trifft man sich nicht einfach so zufällig wieder. Blöderweise bist du noch nicht schnell genug für die Geschwindigkeit, in der hier gelebt wird." – „Ich weiß", seufzte Bruno. „Aber das hole ich jetzt nach", strahlte er plötzlich. „Ich meine, ich bin Schuster und ich bin gut – das werde ich der Welt jetzt zeigen." – „Ja", meinte Jürgen knapp. „Naja, wozu ist das hier ein Kiosk? Lass uns gleich mal den Anzeigenmarkt durchgehen", fügte er dann unternehmungslustig hinzu. „Was meinst du, wie lange das dauert?", fragte Bruno verunsichert. „Ein paar Sekunden – ich muss ja nur zum Regal rübergehen", zog Jürgen ihn auf. „Und dann noch lesen, anrufen, Lebensläufe verschicken, Vorstellungsgespräche besuchen… du brauchst eine Wohnung. Das wird ein ganzes Stück Arbeit, aber hey, ich habe dir versprochen, dass du bei mir bleiben kannst, bis alles im Lot ist und dazu stehe ich. Na komm, das ist für mich genauso aufregend wie für dich. Wann habe ich schon einmal die Chance, einem guten Freund den Ausstieg aus einer Sekte zu ermöglichen?" – „Wir sind keine Sekte!", widersprach Bruno. „Das ist eine Frage der Sichtweise", murmelte Jürgen, während er Zeitung um Zeitung aus dem Regal zog. „Es ist eine Lebensart." – „Okay, wenn du meinst. Ich kann mir gar nicht vorstellen, so zu leben – kein Fernseher, kein Internet… und diese Klamotten – wie aus dem Museum entlaufen! Wobei wir auch schon beim Thema sind, ich habe dir ein paar von meinen Sachen rausgesucht und Hannah hat etwas von einem befreundeten Designer organisiert – zweite Wahl, aber das sieht man nicht. Ist auch nicht von Hugo Haas, also nicht so überdreht, sondern eher jung und flippig." – „Flippig?", hakte Bruno nach. „Hip, cool, modisch… naja, anders als deins", erklärte Jürgen unbeholfen. Bruno sah an sich herab – er trug tatsächlich noch die schwarzen Hosen mit den Hosenträgern, das weiße Leinenhemd, die schwarze Jacke mit den vielen Knöpfen, die ihn sofort als das verrieten, was er war – nur den breitkrempigen Hut hatte er beim Warten auf die S-Bahn in seinem Rucksack verstaut. „So, dann lass mal gucken", riss Jürgen ihn aus seinen Gedanken. „Ja, zeig her. Es wird doch bestimmt etwas für einen anständigen, fleißigen Mann wie mich geben", gab Bruno sich euphorisch.
