1 Ein neuer Anfang
Ruhelos trommelte er mit den Fingern auf das Pult. Wie lange war er schon hier? Er hatte keine Ahnung. Er wusste nur, seine Geduld war erschöpft. Vor ihm herrschte ein reges Treiben. Leute kamen und gingen. Scheinbar kam jeder vor ihm dran. Er hatte versucht, aus seinem Umfeld schlau zu werden, aber er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war, dass ihn Nagini, das Biest von Voldemort, gebissen hatte.
Ab da herrschte Dunkelheit. Bis hierher. Aber was hier war, dass wusste er nicht so genau. Auf jeden Fall eine Art Behörde. Es gab mehrere Schreibtische, die alle besetzt waren und an denen eifrig auf weiße Blätter geschrieben wurde. Alles wirkte sehr kalt, steril und unwirklich auf ihn. Das lag vermutlich an der unnatürlichen Stille hier. Außer dem gelegentlichen Kratzen der weißen Federn auf dem Papier war nichts zu hören und das obwohl sich die Schreibtischmenschen mit den Menschen, die kamen, sehr wohl unterhielten.
Ungeduldig schnaubte er durch die Nase und versuchte so Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Normalerweise zuckten bei dieser Geste alle, die sich in seiner Nähe befanden, ängstlich zusammen, hier nicht. Ärgerlich runzelte er die Stirn, da entdeckte er, wie einer der Beamten frei wurde. Schnell, bevor dieser jemanden anderen aufrufen konnte, hetzte er zu dessen Schreibtisch.
„Sie sind noch nicht dran!" meinte er bestimmt, ohne aufzublicken.
„Sie sind frei, ich bin da und ich kann auch niemand anderen entdecken." stellte er nüchtern fest. Er würde sich auf keinen Fall abwimmeln lassen. Für sein Empfinden hatte er lange genug gewartet.
„Nun gut!" seufzte der Beamte und schenkte ihm doch noch einen Blick. Kaum merklich runzelte er die Stirn.
„Was machen Sie hier?" Severus sah ihn finster an. Woher zum Teufel sollte er das wissen? Er wusste noch immer nicht, wo dieses „Hier" war, wie sollte er dann wissen, warum er hier war? Aber diesem Menschen würde er das nicht auf die Nase binden!
„Ich denke, Sie sollten schnell meine Akte oder was auch immer bearbeiten und schon bin ich weg!"
Missbilligend betrachtete ihn der Beamte. „So einfach geht das nicht!" wies er ihn schroff zurecht. Ihn – Severus Snape!
„Wir haben hier Regeln, an die wir uns sehr streng halten!"
Er wollte sich schon über diese Behandlung empören, doch der Beamte sprach schon weiter.
„Sie sollten gar nicht hier sein! Da hat wieder einer in der Schutzengelabteilung fürchterlich geschlampt!" Er hob den Hörer vom weißen Telefon und redete in diesen, ohne vorher eine Nummer eingegeben zu haben.
„339.222.456 ist hier! Kann mir einer sagen, was der hier soll?" fragte er leicht verschnupft. „Aha."
„Aha."
„Oh!"
„Soso, ein Neuer? Name und Dienstgradnummer!" Er nahm die weiße Schreibfeder in die Hand und begann den Namen zu notieren.
„Gut, habe ich!" Eine Weile lauschte er seinem Gesprächspartner und nickte dazu immer wieder.
„Ja! Schicken Sie ihn rauf!" wütend legte er auf und starrte auf sein Papier.
„Immer diese Neuen. Warum lassen sie sie bei ihrem ersten Auftrag gleich alleine? Weiß doch jeder, dass sie's meist verbocken!" murmelte er halblaut vor sich hin, dann hob er plötzlich den Kopf.
„Sie wollten mich sprechen, Sir?"
Severus erstarrte. Er kannte diese Stimme. Langsam drehte er sich um.
„Das wollte ich Mr. …" weiter kam er nicht, denn Severus beendete den Satz für ihn.
„Dumbledore?"
Verblüfft sah der Beamte von einem zum anderen.
„Sie kennen einander?"
Severus nickte lediglich, mehr brachte er im Moment nicht zustande. Er hatte diesen Mann umgebracht. Er war tot. Warum stand er dann jetzt vor ihm? Es sei denn… Der Beamte hatte sich wieder gefasst und sah auf seine Unterlagen.
„Sie sind also Dumbledore. Schutzengel in Ausbildung. Nummer 44-702/25c? Was haben sie heute Vormittag, als ihr Schützling ihre Hilfe hätte brauchen können, gemacht?"
Dumbledore sah verlegen auf den Boden.
„Ich habe nach Harry gesehen. Er war so alleine und hätte es beinahe nicht geschafft, Voldemort zu besiegen. Hätte ich von deiner Neigung, dich in todbringende Situationen zu bringen, gewusst, hätte ich dich bestimmt nicht alleine gelassen." warf er seinem Schützling vor und bat ihn gleichzeitig um Verzeihung und Verständnis. Dieser schüttelte nur unverständlich seinen Kopf. War doch klar, dass er, einzig um Harry Potter zu retten, ihn wieder vernachlässigte.
„Nun gut. Wie lange sind Sie schon als Schutzengel für 339.222.456 zuständig?" fragte der Beamte weiter.
„Seit gestern, Sir!" antwortete Dumbledore.
„Was ist mit ihrem Vorgänger passiert?" verlangte der Beamte streng zu wissen.
„Er hat gekündigt. Er fand Severus' Einstellung zum Leben so deprimierend und sagte, dieser würde schön langsam sein Chakra zerstören."
Nun sahen ihn beide Männer verblüfft an. Der Beamte ordnete die ordentlichen Blätter auf seinem Tisch, um seine Hände irgendwie zu beschäftigen und dachte darüber nach.
„Nun, der Schaden ist nun mal angerichtet. Tja, Sie…" egal was er noch sagen wollte, es ging im Läuten des Telefons unter.
Hastig hob er ab. Das Gespräch kam von ganz oben. Sein Gesicht bekam einen ganz feierlichen Ausdruck.
„Sie haben davon schon gehört?" Kurzes Schweigen.
„Natürlich wissen Sie alles!" Wieder schwieg er.
„Ja, Sir!
„Ja, Sir!"
„Mach ich, Sir!" sagte er dazwischen immer wieder unterwürfig. Er legte den Hörer wieder zurück auf die Gabel und holte tief Luft.
„Sie haben zwei Möglichkeiten!" eröffnete er Severus.
Dieser zog interessiert eine Augenbraue in die Höhe.
„Wie Ihnen sicher bereits klar geworden ist, sind Sie tot, weil er seine Pflichten vernachlässigt hat!" er deutete auf Dumbledore. „Das wird noch Konsequenzen für Sie haben!" drohte er diesem. Dumbledore nickte leicht zerknittert mit dem Kopf. „Ich hätte eigentlich gedacht, der Job wäre einfach, da ich ihn ja schon so lange kenne!" fügte er leise zu seiner Verteidigung an.
„Aber nun zu Ihnen. Sie haben zwei Möglichkeiten. Entweder Sie gehen in die Zeit zurück, in der Sie gestorben sind, oder…" hier machte er eine kunstvolle Pause und blätterte raschelnd in seinen Unterlagen und zog draus ein weiteres weißes Blatt hervor.
„Oder Sie gehen noch weiter zurück."
Stirnrunzelnd betrachteten Severus und Dumbledore den Mann, der vor ihnen saß.
„Wie meinen Sie das ‚weiter zurück'?" hakte Severus neugierig nach.
„Nun, es gab in Ihrer Vergangenheit noch ein Ereignis, wo Sie beinahe den Tod fanden und das sich für eine Rückkehr anbieten würde. Sie waren damals 16 Jahre alt und wären beinahe einem Werwolf zum Opfer gefallen!"
Severus ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen und verschränkte die Arme vor der Brust. Ein lauernder Ausdruck huschte über sein Gesicht.
„Das würde gehen?" Er betrachtete den Beamten scharf.
„Nein Severus, das darfst du nicht! Du würdest alles durcheinander bringen!" warf Dumbledore besorgt ein.
„Aber mit Sicherheit!" erwiderte Severus salopp.
„Da Ihr Fall so außergewöhnlich ist, ja, das würde gehen!" sah sich der Beamte müßig zu sagen.
„Sagen wir, mal angenommen, ich gehe in meine tatsächliche Zeit zurück. Da bin ich doch gestorben. Wie würde das aussehen?" Der Beamte sah sie leicht hochnäsig an, auf diesem Gebiet war er in seinem Element.
„Sie wachen einfach wieder auf. Wie ein Wunder! Menschen glauben gerne an Wunder. Wenn Sie so wollen, passiert jeden Tag eines. Das ist für uns überhaupt kein Problem!" erklärte er ihnen.
Severus dachte kurz nach. Was würde ihn in seiner alten Welt erwarten? Kummer, Schmerz, Leid, Elend und Verachtung.
„Und wenn ich die andere Alternative wähle? Wie würde das aussehen?" Der Beamte besah sich kurz eines seiner Blätter, dann hob er wieder den Kopf.
„Das ist schon eine Spur komplizierter. Sie wären wieder sechzehn. Natürlich! Aber Sie könnten sich an alles erinnern."
Ein Sechzehnjähriger mit den Erinnerungen eines Sechsunddreißigjährigen. Dumbledore legte seine Hand auf Severus Schulter, um so seine Aufmerksamkeit zu erlangen.
„Ich bitte dich, tu es nicht! Du würdest die ganze Geschichte verändern! Nichts wäre so, wie wir es kennen!" sagte er eindringlich und löste in Severus ganz andere Gedanken aus.
Er könnte Lilys Tod verhindern. Verhindern, dass Voldemort an die Macht kam und James und Sirius so richtig fertig machen. Er könnte seinem Leben eine bessere Wendung geben. Ein listiges Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Gut, er wäre wieder Schüler, aber er konnte doch schon alles. Für ihn wäre das doch ein Klacks. Er war doch schon einmal sechzehn gewesen, dann war er es eben noch einmal.
„Ich muss Sie warnen! Sie wären wieder ein Teenager, konfrontiert mit den Problemen eines Teenagers! Sind Sie sich darüber im Klaren?"
Der Beamte wusste sehr wohl, dass die meisten Erwachsenen keine Ahnung mehr davon hatten, was es hieß, mitten in der Pubertät zu stecken und einem der eigene Körper fremd war. Dass dieser einem zuweilen Streiche spielte, denen man dann peinlich gegenüberstand, nicht wissend, wie man damit fertig werden soll. Für Jugendliche war das kein so großes Problem, die hatten eine Art Schutzgen, das da noch aktiv war, aber Severus hatte das nicht mehr, aber das sollte nicht seine Sorge sein. Er hatte die Wahl und egal wie er sich entschied, er musste damit zurechtkommen.
„Bevor ich mich entscheide, hätte ich noch eine Frage. Was hat es mit dieser langen Nummer, 339. noch etwas, auf sich?"
„Oh, das ist Ihre Kennziffer. Unter dieser sind Sie hier gespeichert. Jeder Mensch hat so eine. Nach dem Ableben ändert sie sich nur, wenn Sie in den öffentlichen Dienst wechseln. So wie es Ihr Bekannter getan hat. Wenn auch wenig erfolgreich!" Wieder warf er Dumbledore einen missbilligenden Blick zu.
„Wegen Ihnen haben wir den Schlamassel hier! Ich muss deswegen noch ganz viele Formulare schreiben. Eines dafür, dass Sie, 339.222.456, überhaupt hier aufgetaucht sind. Dann eines, wo begründet steht, wie es zu diesem Vorfall kam. Ein weiteres, was wir besprochen und entschieden haben und zum Abschluss noch eines, wo Sie sich zukünftig aufhalten! Ich werde die nächsten zwei Tage nicht aus dem Büro kommen und alles wegen Ihnen!" jammerte der Beamte und sah dabei Dumbledore anklagend an.
„Ich hoffe, dass ist Ihnen eine Lehre und so etwas wie heute kommt nicht mehr vor!" sagte er noch streng, dann wandte er sich wieder an Severus.
„Nun, wie haben Sie sich entschieden? Wir sind hier im Himmel, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit! Es warten noch andere, die tatsächlich hierher gehören und die endlich erfahren möchten, wo sie hingehen sollen. Diese Abteilung hier dient nur zur Durchreise."
Severus wog immer noch das Für und Wider der beiden Optionen ab, obwohl er sich schon fast sicher war, wie er sich entscheiden würde. Er müsste seinen Eltern nur noch einen Sommer ertragen, dann wäre er volljährig. Die Vorstellung, bei diesen seine Sommerferien zu verbringen, jagte im Schauer des Grauens über den Rücken. Spinners End war kein guter Ort, andererseits könnte er mit Lily zusammen sein.
„Severus, sei vernünftig und kehre in die richtige Zeit zurück!" sagte Dumbledore noch einmal eindringlich. Severus drehte sich zu ihm um und sah auf zu ihm.
„Was fürchtest du? Warum willst du unbedingt verhindern, dass ich in die Vergangenheit gehe? Ich könnte meinem Schicksal eine bessere Wendung geben! Was erwartet mich im Hogwarts von heute? Alle hassen und verachten mich. Sie halten mich alle für einen Mörder, weil du mich dazu gemacht hast!" bitter warf er Dumbledore diese Worte vor.
Endlich konnte er sie einmal laut aussprechen. Wie dachte er denn, dass er sich dabei fühlte? Er musste ihn, der ihm all die Jahre wie ein Freund zugetan war, töten. Seit einem Jahr nagte dieser Kummer an seinem Herzen und nun bot ihm das Schicksal, all dies ungeschehen zu machen. Er wäre doch schön blöd, wenn er auf Dumbledore hören würde.
„Aber Severus bedenke, du wirfst die ganze Geschichte durcheinander und keiner weiß, wo das dann enden wird!" gab er ihm zu bedenken.
„Wir wussten auch vorher nicht, wie das hier enden würde! Es hätte auch passieren können, dass Voldemort den Sieg davonträgt und deinen ach so heiligen Harry Potter tötet!" fauchte er ihn grob an.
Er hatte die Schnauze gestrichen voll. Er würde sich sicher nicht noch einmal bei einer seiner Entscheidungen von Dumbledore beeinflussen lassen. Das hatte er sein ganzes Leben lang zugelassen. Egal wie er sich heute entschied, es würde seine Entscheidung sein, ohne Rücksicht auf Dumbledore oder sonst wem. Er holte tief Luft. Er wusste, wohin er gehen würde. Sein Schicksal lag in seinen Händen und er würde es nie wieder hergeben. An niemanden!
„Ich weiß jetzt, was ich tun möchte!" sagte er laut.
Die Beiden warteten gespannt. Dumbledore hoffte immer noch, er würde sich für die Gegenwart entscheiden, dem Beamten war es ziemlich egal. So oder so musste er dafür ein Formular ausfüllen, aber das konnte er erst, wenn er Severus' Wahl kannte.
„Und was möchten Sie tun?" fragte der Beamte leicht ungeduldig.
Nichts als Scherereien hatte man mit denen, die gar nicht hierher gehörten. Gut, dass das nur sehr selten vorkam, aber dennoch kam es vor und heute hatte es ihn erwischt. Er wusste das schon am Morgen, als er seine Schicht begann, es würde kein guter Tag zum Arbeiten werden. Wieder seufzte er und sah drängend auf Severus. Dieser rieb an seiner Hose seine Handflächen trocken. Er war tatsächlich ein kleines bisschen nervös, aber dafür bestand doch überhaupt kein Grund.
„Ich würde gerne…"
