~Der Rat der Nacht Chroniken~

Prolog

»Ein Gedanke«

Das Jahr 1188

»Und an wen dachtest du dabei ...? « Der Mann, der die geflüsterten Worte so ehrfurchtsvoll gesprochen hatte, zeigte verwunderlicher weise keinerlei Ehrfurcht, während seine toten Finger abwesend über den schweren Rosenkranz um seinen Hals strichen. Vielmehr handelte es sich um mäßige Neugierde, ein wenig Langeweile und das Wissen, dass hinter jenen kalten Mauern Geheimnisse begraben lagen, die seinen Geist für eine ganze Weile beschäftigen könnten. Nicht, dass er sich nicht für die Worte seines treuen Freundes interessierte – nur war die Ablenkung ebenso groß wie die Begeisterung über die eben ausführlich dargelegte Idee, die die Welt der Nacht, wie man sie gegen Ende des zwölften Jahrhunderts nun einmal kannte, grundlegend verändern sollte.

Als zunächst keine Antwort fiel, wandte der Vampir mit den schwarzen Locken langsam den Kopf, betrachtete seinen Weggefährten eingehend und stellte fest, dass der seinen Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet hatte. Magnus ließ sich davon nicht stören, wusste er schließlich nur zu gut um die zeitweiligen Eigenarten des dunklen Königs.

Der Ort ihres Zusammentreffens hätte verbotener und geheimnisvoller nicht sein können und spielte letztlich mit einer gewissen Ironie – beide wandelte sie in stummer Überlegenheit durch die unterirdischen Räumlichkeiten des Vatikans.

Magnus, obgleich er kein Freund der Kirche war, war nicht zum ersten Mal an diesem verbotenen Ort unterwegs, schätzte jedoch nachwievor diesen besonderen Umstand, der in dieser Zeit nicht einmal den angesehensten Mitgliedern der Stadt so einfach zuteilwurde. Doch ob der Tatsache, dass sein eigener Schöpfer, Marcus, wie auch dessen Brüder Aro und Caius, seit jeher ihre Finger im Spiel der Mächte hatten, war es kein allzu großer Aufwand, Vertrauliches in den Tiefen der römischen Stadt auszutauschen: Vorbei an Grabstätten; Kammern, die Schätze von unermesslichem Wert beinhalteten; bis hin zu Laboren, hinter deren Türen laut dem Volksmund Unfassbares geschehen sollte. Doch alle jene Dinge ließen die beiden Unsterblichen unbeachtet hinter sich ...

In lange Kutten gekleidet, hatten sie die schweren Türen und die dunklen Katakomben hinab überwunden und wandelten nun wie zwei Geistliche durch die ewigen, für Unwürdige verbotenen Gänge. Dabei zeigten sie sich auf eine eigenwillige Art frevlerisch, indem sie in diesen konservativen Hallen Gedanken austauschten, die als revolutionär zu bezeichnen wären. Der jüngere Vampir - ein römischer Redner, Philosoph und Politiker, sowie alter Freund der königlichen Familie - wickelte die edlen Perlen des Rosenkranzes um seine toten Finger, ließ sie wieder los und lauschte deren verhallendem Klimpern. Er blickte nach vorn in die Dunkelheit, die nur ab und an von tanzenden Fackeln erleuchtet wurde: »Aro? Ich stellte eine Frage. «

Sein Nebenmann gab durch nichts zu erkennen, dass er den leisen Tadel wahrgenommen hatte, wandte den Blick nicht, noch blinzelte er. Seine Worte kamen auch ohne jede Vorwarnung: »Ja? Verzeih mir. Ich war der festen Meinung, ich hätte bereits geantwortet … «

Magnus ließ sich zu einem dünnen Lächeln hinreißen, mit einer großen Portion Verständnis gegenüber der Abwesenheit seines Freundes. Auch ihm ging in diesem Augenblicken ein absurder, großer und unfassbarer Gedanke nach dem nächsten durch den Kopf. Kaum, dass er einen zu Ende geführt hatte, ward er angesichts einer neuen Flut von Möglichkeiten und Ideen wieder vergessen! In dieser Erkenntnis verschränkte Magnus die Finger wie zum Gebet, um nicht versehentlich Aro zu berühren, der wohl selbst bereits genug zu bedenken hatte. Eine weitere Welle von Überlegungen war kaum nötig ...

»Also? Wer soll Teil deines Vorhabens werden? «

Aro hob das Kinn etwas, das einzige Anzeichen dafür, dass er nicht wieder abgeschweift war. »Ein paar ältere Vampire … nun, sie sollen es eines Tages sein, nachdem sie sich ihre Wege geebnet haben. Viele gibt es nicht, wie du weißt – von den uns Bekannten bist du der Älteste, der nicht zu uns gehört. «

»Ich gehöre zu euch. «, berichtigte Magnus nebenbei, wenngleich er sehr wohl wusste, wie diese Worte gemeint waren. »Bitte fahr fort. «

Das tat sein Freund auch, ganz so, als hätte die kurze Unterbrechung nicht stattgefunden: »Bisher schweben mir nur wenige Namen im Kopf herum – zum einen gab es da einst einen Russen, ich bin mir nicht sicher, ob dir sein Name viel sagt – Michail ruft man ihn … «

Magnus unterbrach abermals: »Sicher sagt mir dieser Name etwas. Er hatte eine nicht unwesentliche Rolle in den Russischen Schlachten, wenn ich mich nicht irre. Territorialkämpfe waren es damals, nicht wahr? «

»In der Tat, mein Freund. Er war der Grund, weshalb wir damals nicht einschreiten mussten … das ist nicht einmal zweihundert Jahre her. «

Magnus lauschte kurz den Schritten, die im weiten Kellersystem verklangen, ging sicher, dass ihre Unterhaltung weiterhin vertraulich war und nickte geschäftig. »Was hat er gleich noch einmal dafür getan? « Aro zuckte die verhüllten Schultern, als wäre dieser Verdienst nur ein gänzlich unwichtiges Detail am Rande. »Er konnte sich damals behaupten und ich meine, seine Körpergröße war dabei ein wesentlicher Vorteil. Durchsetzungsvermögen, Führungsqualitäten und einen Sinn für die Wahrung des Geheimnisses – ich halte dies für wünschenswerte Voraussetzungen und ihn für einen Mann, der im Wohle unserer Gemeinschaft wichtige Entscheidungen fällen kann und soll. Desweiteren dachte ich an einen guten, alten Freund deines Vaters, Racheed. «

»Den Namen hörte ich schon das ein ums andre Mal, habe den Mann aber leider selbst nie getroffen. Arabien? «

»Ja. Vermutlich hörtest du von seinem strengen Glauben – oder der ein oder anderen Sitte, wie sie uns nur seltsam erscheinen kann. Ein sehr zivilisierter Mann, diszipliniert, engagiert … vertrauenswürdig und dennoch unglaublich herzlich und intelligent. Auch sehr wichtige Voraussetzungen – Komm. « Mit einem knappen Blick zur Seite nickte der König in einen anderen, wesentlich schmaleren Gang. Magnus lauschte. »Dann meine Freundin aus dem Osten. Myu-Sama. Sie betreibt ein Freudenhaus auf den Yaeyama-Inseln und ist mir durch einen Vorfall nur kurze Zeit nach ihrer Verwandlung bekannt worden … sie hatte sich gegen ihren Schöpfer gewandt. Eine interessante Geschichte, ich glaube, ich habe sie dir noch nicht erzählt …? «

Magnus schüttelte nur den Kopf.

»Was bereitet dir Bedenken? « Aro streckte die Hand aus, als freundliches Angebot. Der Rhetoriker ging nicht darauf ein, betrachtete indessen die Steinwände eingehend. »Nichts Besonderes. Ich fragte mich nur eben, ob es denn unbedingt von Vorteil ist, jemanden in diese Gemeinschaft zu holen, der sich gegen den eigenen Schöpfer gewandt hatte …? Oder verstehe ich das falsch? «

»Gar nicht, doch du solltest die ganze Geschichte kennen. Sulpicia kann sie dir aus erster Hand erzählen, erinnere sie einfach daran. Wie dem auch sei … Dann gibt es da noch Naadir. Afrika. Ein Mann mit einer unglaublich mächtigen Gabe, ebenso eindringlich wie unbegreiflich – du erinnerst dich an ihn? Er ist … so könnte man sagen geheimnisvoll, zurückhalten und dennoch nicht zu unterschätzen. «

»Natürlich! Ich glaube, man kann jenen Mann und dessen Gabe nicht vergessen. Ich erinnere mich an meine Überraschung, als ich mich plötzlich nicht mehr bewegen konnte - ohne ersichtlichen Grund. « Magnus Blick verlor sich ehrfurchtsvoll in der Dunkelheit, ehe sich ein amüsiertes, kleines Lächeln auf seine Lippen schlich. »Er war noch amüsierter, vermutlich stellte ich ein recht dummes Gesicht zu Schau. Aber wer erwartet auch einen Schattenspieler? Ich hätte niemals gedacht, dass so etwas möglich wäre …«

Aro wirkte sehr zufrieden mit der Reaktion und nickte etwas abwesend: »Ja, wer erwartet so etwas? Ich glaube sein ruhiges Gemüt und die Rationalität qualifizieren ihn für meine Idee, zudem bringe er eine völlig fremde Welt und interessante Meinungen in diesen Rat ein. Vier Mitglieder genügen jedoch bei weitem nicht, um der Welt der Nacht einen Maßstab zu setzen. Um ihr zu zeigen, dass wir nicht sind, was wir sind. Was denkst du? Fällt dir ein weiterer Name ein? Ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, du mögest weiterhin so guten Kontakt zu deinem hinsichtlich der Politik begabten Freund Raphael pflegen … « Aro lächelte warmherzig.

»Raphael? In einem Vampirrat? « Vermutlich war nur selten so herzlich in diesen tiefen Gefilden der Katholischen Kirche gelacht worden. Verhalten zwar, doch bebten die starken Schultern unter der unziemlichen Erheiterung. »Verzeih mir, mein Freund – natürlich ist Raphael alles andere als ungeeignet, nur die seltsame Vorstellung übermannte mich. Wie du dir vielleicht denken kannst, kenne ich ihn von seiner weniger diplomatischen Seite, doch ich … bin der letzte, der an seinen Kompetenzen zweifelt … Oh, Aro – ehrlich gesagt bin ich nicht sicher, ob ich wirklich überrascht bin. Vermutlich nicht, denn ich dachte mir schon länger, dass du mir bald derartige Gedanken offenbaren würdest. Andeutungen machtest du über die letzten Jahre hinweg schließlich viele. Also – Japan, Arabien, Afrika, Russland und womöglich auch Frankreich. Fünf Länder? «

Magnus blickte nach rechts, begann zugleich wieder unbewusst mit dem langen, edlen Rosenkranz zu spielen, der neben der Kutte das beste Stück Tarnung darstellte. Aro warf das lange, tiefschwarze Haar über die Schulter, lächelte spitz und überzeugt. »Es müssen mit Sicherheit mehr werden, doch ich habe auch nicht vor, diese Idee gleich morgen in die Tat umzusetzen, ich dachte dabei eher ein weitere Jahrhunderte … Sage mir nur … Magnus, was denkst du darüber? «

Der rote Blick, der für ein menschliches Auge in dem flackernden Licht kaum zu erkennen war, schimmerte für den anderen Unsterblichen seicht - abwartend, neugierig … überschwänglich. Magnus blickte nach vorn und ordnete seine Gedanken. Schon zuvor waren ihm viele Einfälle gekommen und auch jetzt waren es nicht unbedingt weniger geworden. Manche Fragen waren bei Aros vorigen Ausführungen offen geblieben und Bedenken waren aufgekommen, jedoch auch Faszination für etwas gänzlich Neues. Ehe er jedoch all jenen Überlegungen und Unklarheiten Wort verleihen konnte, ließ sich sein nachdenklicher Blick von etwas ganz anderen ablenken, etwas, was er auf einem solch verlassenen Gang nicht erwartet hatte.

Die einzige Tür weit und breit - nicht einmal halb so groß wie er es vielleicht erwartet hatte und doch prunkvoll und auffällig genug, um sofort zu erahnen, was sich dahinter befinden musste. Möglicherweise handelte es sich bei der mit goldenen Ornamenten und mit viel Liebe zum Detail verzierten Pforte auch nur um einen Nebeneingang. Hinter den schweren Türen konnte die feine Nase jedoch deutlich den unverwechselbaren Geruch von altem Pergament, Tinte und viel Staub vernehmen. Holz, viele Webarbeiten und Ölfarbe, vermutlich von einigen Gemälden, die die hohen, fensterlosen Wände der verborgenen Bibliothek zierten.

Das geheime Archiv: Wissen, unvorstellbare Erkenntnisse, Geheimnisse und verborgene Wahrheiten der Bibel, versteckt vor der Welt … Magnus fühlte sich magisch von der Tür angezogen, beschleunigte schon seine beinahe lautlosen Schritte, die nur dank der bleiernen Stille zu vernehmen waren und streckte die Hand danach aus, als ihn die strengen Worte seines Freundes aufhielten. »Magnus, nicht ... «

Der Philosoph, ganz versunken in seinen Vorstellungen, wandte sich etwas zu schnell um, als dass es ein Mensch vermocht hätte - Die Augen geweitet, ein seliges Lächeln, Euphorie! »Aber Aro – nur ein winziger Blick! Im Gegensatz zu dir habe ich nicht die Möglichkeit, diese heiligen Gefilde zu betreten und mich womöglich mit dem ältesten Wissen unserer Zeit einzuschließen, wann immer es mir beliebt! Ich würde wirklich sehr gerne einen kurzen Blick riskieren, mir ein paar Geheimnisse aneignen – dann hätte ich auch für Eneas etwas zu erzählen … Ich nehme nicht an, dass du möchtest, dass er etwas von deinen jüngsten Plänen erfährt? Ich fühle mich … erschlagen von dieser Überflutung an Reizen ... Verzeih mir. «

»Natürlich. «, wehrte der herbeikommende Aro ab, fasste nach dem verhüllten Arm Magnus' und zwang jenen, die Hand zu senken. Der ließ es geschehen – was sollte er auch anderes tun? – und blickte etwas sehnsüchtig zurück zu der auffälligen Flügeltür. »Wir können hier nicht verweilen, man sollte uns auch unter keinen Umständen sehen. Du willst wissen, was sich in der sagenumwobenen Bibliothek des Vatikans befindet? Frag Marcus, er kann es dir sagen. Er hat dort deutlich mehr Zeit verbracht als Caius und ich zusammen. Er weiß alles. Ich berichte es dir meinetwegen auch, doch nicht jetzt, nicht hier und nicht heute. Und wenn dir so viel daran liegt, solltest du auch Marcus fragen – er wird dir alles ermöglichen, wenn du darum bittest … « Der dunkle Graf zog sanft an dem Arm, Magnus folgte brav. Die Männer nahmen wieder etwas Abstand zueinander ein, ein letzter sehnsuchtsvoller Blick zurück … und dann war wieder alles, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. Nur Magnus´ enttäuschter Blick verriet seinen Gram über das Verbot.

»Das klingt beinahe so, als würde Marcus mich verwöhnen – bitte, Aro. Er ist mein Schöpfer, aber kein Vater, der eine kleine Prinzessin erzieht. «

»Ich danke für diese Vorstellung. Aber bitte Magnus «, Aro lächelte sein schemenhaftes Lächeln und meinte dann mit Nachdruck. »Ich wüsste gerne, was du von all dem, was ich dir heute offenbart habe, hältst? Du weißt, welche Bedeutung deine Meinung für mich hat. In dieser Idee liegt mein Herzblut und all meine Träume, seit ich denken kann. «

Magnus zog eine Augenbraue empor, zweifelte aber keineswegs an den Worten. Für einen kurzen Augenblick hingen seinen Gedanken noch der großen Bibliothek nach. Er überlegte, ob Inhalte von ihr im Laufe der Jahre schon ihren Weg in die schlosseigene Bibliothek der Herrscher der Nacht gefunden hatten, doch dann besann er sich seiner Aufgabe entsprechend wieder auf das Wesentliche und darauf, was Aro von ihm erwartete. Eine Meinung zu einer beinahe wahnsinnigen Idee also? Nur fragte sich, ob diese Idee nur wahnsinnig war oder vielleicht doch eher wahnsinnig genial.

»Was ich davon denke? Zunächst habe ich ein paar Fragen, mein Freund: Wie lange planst du das bereits? Seit wie vielen Jahrhunderten spielst du mit jener wahnwitzigen Idee? «

Der andere Schwarzhaarige neigte leicht den Kopf und Magnus konnte sehen, wie er die schmalen Lippen kräuselte, ehe der Vorhang aus seidigem, wunderschönem Haar das markante Gesicht verdeckte. Sie passierten eine Fackel und der Schein tanzte auf der glänzenden Haarpracht – Magnus wandte lächelnd den Blick ab, bereit, auch noch länger auf seine Antwort zu warten. »Lange. Du weißt, wie lange sich solche Gedanken entwickeln. «

»In der Tat. Und ich weiß sehr gut, dass sie einen nicht mehr loslassen. Aber warum erzählst du mir erst jetzt davon? Muss ich enttäuscht sein? «, fügte der römische Rhetoriker neckend hinzu. Aro schien das schalkhafte Grinsen jedoch weder zu hören, noch wirklich zu sehen. Er selbst lächelte auch geheimnisvoll, vermutlich über etwas, was nur er verstehen konnte. Vielleicht sogar über einen flüchtigen Gedanken – vielleicht würde er jenen auch teilen, schließlich stellte sich heraus, dass dem aber nicht so war.

Seine Antwort fiel ernst und simpel aus: »Ich denke nicht jeden Tag über diese Möglichkeit nach. Es ist eine Idee und es wird noch Jahrhunderte dauern, bis sie umsetzungsfähig ist. Vampire aus aller Welt müssen zustimmen, wie du weißt und auch mehr oder weniger zusammenpassen. Obendrein habe nicht vor, daraus ein offenes Geheimnis zu machen. Nur diejenigen, deren Loyalität ich mir sicher sein kann, werde ich einweihen und - «

»Du hast die letzten Jahrzehnte benötigt, um dir zu überlegen, ob ich dir gegenüber loyal bin? «, scherzte Magnus lachend.

Aro stimmte leise mit ein und zeigte sich ausgelassener als die ganzen Stunden zuvor. Er klopfte seinem langjährigen Freund schließlich auf die Schulter. »Natürlich. Marcus war sich nicht ganz sicher … «

»Genug der Scherze, Aro «, hauchte Magnus freundlich und legte ihm ebenfalls eine Hand auf die Schulter. »Ich bin wirklich ein wenig enttäuscht. Diese Idee – ich müsste lügen, wenn ich nicht sagen würde, sie hätte Unmengen an Potenzial. «

»Deine Meinung bedeutet mir viel, Magnus. Um ehrlich zu sein, wollte ich dir ein fertiges Konzept präsentieren, gerade auch, wo du dich doch so sehr um Eneas kümmern musst. Apropos – hast du ihn bereites zu uns geholt? «

Magnus zog ob des erneuten Themaumschwungs eine Augenbraue empor, schüttelte dann jedoch seicht den Kopf. »Noch ein paar Jahre … er ist noch zu jung. Er soll noch etwas erleben, lernen und sehen, was die Welt in ihrer fleischlichen Hülle bietet, ehe er sich mir für immer anschließt. Bis dahin bleibe ich sein Lehrer. Ich liebe ihn zu sehr, um ihn nicht zu verwandeln, doch es muss nichts überstürzt werden. «

»Ich vertraue dir in dieser Hinsicht mehr als mir selbst, wie du weißt. «

Der Philosoph neigte den Kopf etwas und lächelte wieder. »Ich danke für das Vertrauen und die Rücksicht, doch genug davon! Du kannst mir so etwas Bewegendes nicht vorenthalten! Wirklich, du solltest dich etwas schämen … «, der schalkhafte Ton wollte nicht weichen. Aro sagte nichts dazu, sondern blickte seinen Begleiter nur kurz abwartend an, was dazu führte, dass auch Magnus sich wieder auf den Ernst und die Wichtigkeit der Situation besann. »Didyme…? Was denkt sie darüber? «

Ein unbemerktes Zucken glitt durch den Körper des schwarzen Grafen. Seine Augen wurde enger und seine Mimik von Trauer überschattet, als er so gefasst wie möglich sagte: »Du kannst es dir sicherlich denken … « Er sah streng nach vorn, wo der Weg nicht enden wollte. Keine Menschenseele weit und breit.

»Ehrlich gesagt nicht. Zumindest jetzt nicht mehr – kann sie sich nicht dafür erwärmen? Nicht einmal hierfür? «

»Wie sie eben ist … - es ist schwer, gar unmöglich, sie zu überzeugen oder gar zu begeistern. Sie sehnt sich nicht … nach etwas Neuem, auch Veränderung in unserer Politik will ihr nicht gefallen. Ich rede jedoch ungern so über sie, vielleicht solltest du sie selbst fragen ... « Ein bitteres Lächeln.

Auf Magnus´ Stirn hatte sich indes eine steile Falte gebildet, die ein untrügliches Zeichen für Verwirrung und Unverständnis war. Er sah Aro abwartend an, doch von ihm kam tatsächlich kein weiteres Wort über seine Schwester. Der Philosoph räusperte sich dezent. »Du willst mir sagen, sie erkennt den Wert jener Möglichkeit nicht, weil sie sich keine großen Veränderungen erwünscht? Ich kenne sie tatsächlich mehr als bereits tausend Jahre lang, weiß jedoch bis heute nicht, was sie wirklich von mir denkt. Ich will aber nicht glauben, dass sie sich etwas derart Großem, Durchdachtem und Wertvollem … in den Weg stellen würde. «

Als Aro sprach, klang er, als hätte er dieses Verhalten schon einmal zu oft erklären müssen und wäre dem müde geworden. Er sprach es monoton, anders und wie auswendig gelernt. »Sie will die Macht nicht in anderen Hände sehen … Sie denkt, wir könnten ewig allein die Welt überblicken, nur leider müssen auch wir erkennen, dass die Welt zu groß für nur fünf Unsterbliche ist, vor allem, da die Zahl unsereins weiter und weiter steigt. Noch hinzu kommen die Gedanken von uns drei, dass es falsch ist und schon immer falsch gewesen war, allein zu regieren. Es ist mein Wunsch und mein Traum vielschichtige, treuherzige, faszinierende Begleiter. Eine Revolution... Doch genug davon – ich darf deinem Ton ein gewisses Interesse entnehmen? «

»Das darfst du. Nur eins noch: Marcus? Steht er hinter dir oder hinter seiner Frau? Und überhaupt, wie steht es um die anderen drei? «

Der dunkle König warf seinem Freund einen schiefen Blick zu. »Du machst deine Meinung doch nicht etwa von ihnen abhängig? « Und das war so absurd, dass Angesprochener einfach nur den Kopf in den Nacken warf und lautlos lachte. Aro quittierte dies mit einem zufriedenen Lächeln. »Nun. Sie haben mich seit jeher unterstützt, Magnus und natürlich selbst Ideen beigesteuert … Der Anreiz kam zwar von mir, doch gemeinsam gaben wir diesem ersten, kleinen Gedanken eine Gestalt und einen Nutzen. Sie hören mich an und lassen mir freie Hand, sind jedoch auch gewillt, sich in jeder erdenklichen Form zu beteiligen. Es war schließlich Marcus, der Naadir und Racheed vorgeschlagen hat und damit einen wichtigen Schritt nach vorn getreten ist. Natürlich blickten wir auch auf Indien und China, nach Südamerika und auf unsere gesamte Alte Welt ... «

»Ehrlich gesagt hätte ich von Caius genau das nicht erwartet … Seltsam … «, sinnierte Magnus weiter, schon wieder gänzlich in Gedanken versunken. Alle drehten sich um die neuen Offenbarungen, die seinen Geist ansprachen und Weiterentwicklung forderten. Er hatte sogar das Archiv vergessen. Sein nach Wissen durstiger Geist hatte es jedoch mehr als verinnerlicht.

»Schätze ihn nicht falsch ein. «, erfolgte prompt der Tadel. »Er ist ein Mann des Rechts, immer auf der Suche nach dem richtigen Weg … und dieser ist in seinen Augen die Hinwendung zur Demokratie. Zumindest so etwas Ähnliches. «

»Es ist ein guter Anfang. «, nickte Magnus nachdenklich. »Und ich muss ehrlich sagen, wie schwer es mir fällt, die richtigen Worte für meine Begeisterung zu finden. All die Möglichkeiten! Ein Netz aus Getreuen und Loyalen! Eine Bereicherung für unsere Politik! Ich sehe Versionen einer Zukunft, die uns großes bringen wird und ich denke, dass du sehr stolz auf dieses Streben sein kannst. Wann hast du vor die "Ratsmitglieder" zum ersten Mal zusammenzuführen? Soll ich Raphael kontaktieren? «

Aro lächelte väterlich, als er träge die Hand hob, wie um zu signalisieren, dass es keinen Grund zur Eile gab. »Das, mein Lieber, hat noch lange Zeit. Die Welt ist noch nicht bereit für so etwas, lass sie groß werden und vernünftig, lass deren Entzauberung Früchte tragen, die gerade erst interessant wird. Erst, wenn die Welt gereift ist und erkennt, dass ein jeder ebenbürtig ist, werden wir einen Anfang wagen ... «

Magnus schwieg und lauschte jenen mächtigen Worten. »Und erst, wenn wir um die Vertrauenswürdigkeit unserer Auserwählten und deren Gunst wissen, werden wir diesen Gedanken in die Tat umsetzen. Und bis es soweit ist, müssen weitere Vampire ein Alter erreichen, das ihnen Entscheidungsfähigkeit über das Wohl unserer Welt ermöglicht kann. Sie müssen selbst von der Sache überzeugt sein, um wirklich den Grundgedanken verstehen zu können und jenen auch wahr werden zu lassen. Um ehrlich zu sein, hatte ich sehr gehofft, auch mit dir rechnen zu können – ich weiß, was du nun denkst. «, Aro lächelte ihm zu, »Italien muss nicht vertreten werden, doch deine Meinung ist nicht zu unterschätzen, mein liebster Denker. Auch Marcus und Caius würden sich freuen, in Form deiner Genialität und philosophischen Betrachtungsweise Unterstützung zu erfahren ... Ich kann es nicht erwarten! Der Gedanke macht mich beinah wahnsinnig vor Freude und erfüllt unser Leben mit einem großartigen Sinn! Gar wie ein Frühling in meinem Herzen! Nun … also, was sagst du? «

Es war der Moment, in dem der König der Welt der Nacht seinen Freund lange ansah, mit eigener, unverhohlener Begeisterung und einer Anspannung, wie sie vielleicht niemals mit Worten zu beschreiben war. Magnus hätte an Aros Stelle vermutlich wieder abwesend mit dem Rosenkranz gespielt, doch es schien, als wäre jener Schmuck für den Grafen ohne jede Bedeutung und nicht mehr als ein lästiges Stückchen Tarnung. Magnus für seinen Teil blickte noch immer nach vorn, die Schritte der beiden Männer wurden allmählich langsamer und kamen letztlich mitten in der Dunkelheit zum Stehen. Zum ersten Mal in jener Nacht standen sich die beiden Unsterblichen gegenüber, blickten sich direkt in die fürchterlichen Augen und lächelten, auf eine recht verschwörerische Art und Weise. Magnus atmete tief ein.

»Du versammelst also die mächtigsten Unsterblichen dieser Welt um dich, schaffst einen Rat, zusammengesetzt aus den ältesten Vertretern aller Kontinente, um eure schwer erarbeitete und wohlverdiente Macht zu teilen – um Entscheidungen auf einer neuen Ebene zu treffen. Du hast vor, Vertraute und Freunde um dich zu scharen, die mit euch, in Sinne unserer Gemeinschaft, das Geheimnis wahren und für euch im jeweiligen Land agieren und darüber berichten? Deren Meinung ihr achten und würdigen werdet und deren Verdienst unsere Existenz weiterhin sichern soll ... Ein Rat ... Du willst eure unbestrittene Macht teilen … Ihr wollt euch selbst einen Teil der Unantastbarkeit nehmen, um auch unsere Welt ein Stück demokratischer und gerechter werden zu lassen und wollt in diesem Sinne die Kulturen vereinigen, um einen ultimative Gemeinschaft zu schaffen, die jedes Problem gemeinsam und unvoreingenommen angehen kann? – Wirklich Aro, muss ich wahrhaftig aussprechen, was ich hiervon denke?! Oder ist es offensichtlich, dass meine Unterstützung für dieses Vorhaben nicht größer sein könnte! Wenn es Zeit für Veränderung ist, dann eine solche! Lach nicht, doch in diesem Fall bin ich wirklich ohne weitere Überlegungen Caius' Meinung – das muss der richtige Weg sein, oder zumindest ein sehr guter Anfang. Nicht zuletzt ist es mir eine Ehre, daran Teil haben zu können, was auch immer kommen mag … Ich folge dir überallhin, mein König. «

»Ich hatte sehr darauf gehofft, dass du das sagen würdest, mein Freund. «