Das leere Grab (by Ralina)
Kapitel 1
John wusste nicht, wie er in diese Lage geraten war. Eben war er noch auf dem Weg zur Arbeit und nun erwachte er im Halbdunkel eines leeren, fensterlosen Raumes. Sicher, es geschah nicht das erste Mal in seinem Leben, dass man ihn entführt hatte. Allein in seiner Zeit mit Sherlock wurde er zweimal das Opfer einer Entführung, die 2Ausflüge" mit Mycroft und seinen Schergen mal außen vorgelassen. Der Unterschied war, dass ihm dieses Mal niemand zu Hilfe kommen und ihn befreien würde. Sherlock, das verrückte Genie, hatte sein Leben vor einem halben Jahr auf dem Gehweg des St. Barts Krankenhauses ausgehaucht und sein Körper ruhte nun unter einem Fleckchen Erde auf einem Friedhof am Rande Londons. Kurzum, Johns Chancen waren mehr als aussichtslos. Dennoch ließen ihn seine Gefühle im Stich. Sollte er in so einer Situation nicht so etwas wie Angst oder Verzweiflung verspüren? Zorn? Oder vielleicht Kampfeslust? Doch da war nichts. So sehr er auch in sich hinein horchte, er spürte nur die dumpfe Leere, welche ihn schon in den letzten Monaten gequält hatte. Es fühlte sich an als wäre mit Shelocks Tod etwas in ihm verloren gegangen – verpufft. In den ersten Wochen nach „dem Fall" hatte er noch so etwas wie Trauer verspürt und im hintersten Winkel seines Verstandes sogar so etwas wie Hoffnung. Es ging hier schließlich um Sherlock Holmes, Soziopath aus Leidenschaft und kalkulierendes Genie. Wenn jemand so einer Situation entkommen oder seinen Tod vortäuschen konnte, dann er. Doch als die Wochen vergingen und ein Lebenszeichen von Sherlock ausblieb verschwand zuerst die Hoffnung und nach einer Weile auch die Trauer. John hatte schon vorher Kameraden zu Grabe getragen. Gute Männer waren das, zum Teil Freunde, und John hatte jedes Mal weitergemacht und gekämpft. Doch dieses Mal was es anders. Sicher, er hatte seinen Job wieder aufgenommen, war nach einigen Wochen sogar wieder in seine Wohnung in der Baker Street gezogen, doch das Leben hatte seine Farbe verloren und hatte nun nur noch den Charme eines schwarz-weiß Stummfilmes, wo es ihn vorher mit der Macht eines 3D Kinofilmes gefesselt hatte. Mit Sherlock verschwanden Adrenalin und Spannung aus seinem Leben und wichen einem Alltag aus tropfenden Kindernasen und Schrott-TV. Es war erbärmlich und John schauderte bei dem Gedanken daran, was Sherlock über ihn gedacht hätte. Doch Sherlock war nicht hier, würde nie wieder hier sein. Und wer konnte John ihm verdenken, dass er einem Wiedersehen mit seinem Freund im Jenseits mit etwas anderem als Furch entgegenblickte?
Halbherzig zerrte er an seinen Fesseln und stöhnte auf. Seine Handgelenke waren bereits wund vom viel zu eng geschürten Kabelbinder und das Gefühl in einen Fingern war einem dumpfen brummen gewichen. Ohne Hilfsmittel würde es unmöglich sein diesen Fesseln zu entkommen und seine Entführer waren gründlich gewesen. Man hatte ihm nicht nur eine Arzttasche sondern auch Brieftasche und Handy abgenommen. Insgeheim überraschte es John, dass man ihm seine Kleider sonst komplett gelassen hatte. Wer auch immer ihn entführt hatte, hatte ganze Arbeit geleistet. Doch das brachte ihn unweigerlich zu der Frage: wer hatte ein Interesse an John Watson? Nach Sherlocks Tod war das Interesse an ihm groß gewesen. Zeitungen und Fernsehen hatten ihm förmlich die Wohnungstüre eingerannt. Jeden einzelnen hatte er weggeschickt und die Aussage verweigert. Seine einzige Stellungnahme stellte ein kurzer Eintrag auf seinem Blog dar. Dort hatte er klargestellt, dass er trotz aller Widrigkeiten an Sherlock glaubte und dass er der beste Freund war, den er sich hätte wünschen können. Sonst nichts. Nach etwa 4 Wochen war das Interesse an ihm schließlich verloschen. Nicht nur die Medien hatten sich neue Interessensobjekte gefunden, sondern auch Mycroft und Mollie verschwanden komplett aus seinem Leben. Greg hatte John seither nur zweimal gesehen, zu Sherlocks Beerdigung und zu einem seltsamen schweigsamen Abend über einem Bier in einer Fußballkneipe in der Nähe des Polizeireviers. Der Detective Inspector hatte John sein Beileid und Bedauern darüber ausgedrückt, dass er nicht mehr hätte tun können. Er hatte versucht Sherlock zu warnen, sagte er, doch hatte er damals nicht gesehen, wie sich die Dinge entwickeln würden. Das war das Problem. Niemand hatte ahnen können, dass Sherlock sich tatsächlich vom Dach des Krankenhauses stürzen würde - dem Gebäude das nach Baker Street zu seiner zweiten Heimat geworden war. John hatte sich bemüht Lestrade zu beruhigen, es sei nicht seine Schuld gewesen, doch sein Versuch war halbherzig geblieben. Und so hatten sich die beiden nach einer Stunde wortkarg voneinander verabschiedet und keiner von beiden hatte seither den Versuch unternommen noch einmal in Kontakt zu treten. Kurzum, niemand interessierte sich diese Tage für John Watson, und doch saß er hier in der Enge eines betonverschalten Raumes an einen Stuhl gefesselt. Früher oder später würde er eine Antwort auf seine ungestellte Frage erhalten und seine Entführer kennen lernen. Bis dahin musste er sich in Geduld üben.
John schreckte aus dem Halbschlaf auf als die Tür des Zimmers mit einem lauten Poltern aufgestoßen wurde. Er wusste nicht wieviel Zeit vergangen war, doch das Grummeln seines Magens verriet ihm, dass es mehrere Stunden gewesen sein mussten. Plötzlich schritten drei Männer in seine Zelle, ein großer breitschultriger blonder Hüne mit blauen Augen und einer imposanten Narbe auf der rechten Wange, und zwei braunhaarige kleinere Typen, die sich unauffällig im Hintergrund hielten. Der Blonde war eindeutig ihr Anführer. Seine Art machte es unübersehbar dass er es gewohnt war Befehle zu geben und diese befolgt zu sehen. Es brauchte kein halbverrücktes Genie um das zu deduzieren.
„Captain John Watson." Tönte der Blonde in selbstgefälligem Tonfall. „Es ist eine Weile her. Ich würde ja sagen, dass sie gut aussehen. Aber das wäre gelogen." Er grinste und schritt auf ihn zu. „Ich nehme an sie erinnern sich an mich?"
John verengte die Augen und musterte sein Gegenüber misstrauisch. Tatsächlich kam ihm etwas an diesem Typen vage bekannt vor. Das breite Kinn , die gerade Nase und vor allem diese kühlen Augen brachten tief in seinem Unterbewusstsein eine Saite zum Schwingen und weckten Erinnerungen an heiße Tage in der Wüste unter der Sonne Afganistans.
„Colonel Moran?"
Seine Frage wurde mit einem wölfischen Grinsen belohnt. „Ich wusste Sie erinnern sich an mich."
„Was wollen Sie von mir?" Johns Frage hallte für einen Moment in der Leere des Raumes wieder. Er bemerkte den hilflosen Unterton in seiner Stimme und verzog in Gedanken das Gesicht. Er war jämmerlich, nur noch ein winselnder Schatten seiner selbst. Und der Colonel wusste es.
„Nun Captain, das kommt ganz darauf an." Sagte Moran mit einem raubtierhaften Grinsen und begann damit John mit langsamen Schritten zu umkreisen. „In den letzten paar Monaten sind einige meiner Leute verschwunden – gute Leute – und ich habe mich gefragt ob sie nicht vielleicht eine Idee haben, wo diese abgeblieben sein könnten."
John konnte es sich nicht verkneifen nüchtern aufzulachen. „Ich? Sie glauben – was? Das ist sie entführt habe? Umgebracht?" Wären da nicht seine Fesseln und das Wissen, dass Colonel Moran einer der gefährlichsten und skrupellosesten Männer seines ehemaligen Regimentes gewesen war, wäre die Sache unglaublich komisch gewesen. Doch falls Johns Antwort Moran irritierte, ließ er sich davon nichts anmerken.
„Nun, das ist die Frage, nicht wahr?" erwiderte der Hüne und blieb abrupt vor seinem Stuhl stehen. „Ich war nie der Meinung, dass Sie aus dem richtigen Holz für so eine Sache geschnitzt sind. Auf dem Übungsplatz waren sie zugegeben ganz vorzeigbar. Aber auf dem Schlachtfeld? Da haben Sie sich lieber in den hintersten Reihen an den Bahren der Kranken versteckt. Nur gewinnt man Kriege nicht mit verarzteten Krüppeln, nicht wahr?"
John antwortete nicht, sondern blickte Moran stoisch entgegen. Wenn der Colonel tatsächlich davon überzeugt war, dass er die Schuld am Verschwinden seiner Männer trug, dann würde er ihn nicht umstimmen könnten. Dies bedeutete jedoch unweigerlich, dass John diesen Raum nicht wieder verlassen würde. Zumindest nicht lebend.
„Andererseits haben Sie über ein Jahr mit Sherlock Holmes zusammen gelebt und ihn sogar zu einigen seiner Fälle begleitet. Wäre es da nicht möglich, dass Sie bei dieser Gelegenheit das eine oder andere aufgeschnappt haben? Ich habe mir sagen lassen Holmes sei ein kalter berechnender Mann gewesen, ein Mann ohne Herz und Gewissen. Er wäre sicher im Stande gewesen, diese Männer verschwinden zu lassen. Aber er ist tot, oder nicht?"
Bei der Erwähnung von Sherlocks Namen zuckte John unweigerlich zusammen- die Erinnerungen an seinen Freund taten immer noch weh, doch gleichzeitig konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es sah Sherlock ähnlich, dass er John sogar noch nach seinem Tod in Schwierigkeiten brachte. „Ich nehme an, dies ist keine rhetorische Frage?" bemerkte er schließlich trocken. Der Colonel taxierte ihn mit seinem Blick, sagte jedoch nichts. „Nun, ich habe ihn von diesem Dach springen sehen und habe unten auf dem Asphalt seinen Puls genommen. Wenn ich als Arzt auch nur annähern etwas tauge und wir die Existenz von Geistern und wandelnden Toten ausschließen, dann ist Sherlock Holmes definitiv tot, ja."
Wieder taxierte Moran ihn mit seinen Blicken und begann schließlich erneut damit John zu umkreisen. „Nun, wie dem auch sei. Sie, Captain, sind unser vielversprechendster Anhaltpunkt für den Verbleib unserer Männer. Vielleicht besitzen Sie tatsächlich nicht den Schneid und das Geschick für so eine Tat, aber wer sonst sollte einen Grund haben gegen Jims Männer vorzugehen?"
„Jim? Moment mal, wer ist denn nun plötzlich Jim? Gerade eben waren es doch noch ihre Männer." John stutzte und hatte plötzlich eine ungute Vorahnung. „Sie meinen Moriarty?"
„Es wäre doch denkbar, dass sie nach dem bedauerlichen Vorfall mit ihrem Herzblatt plötzlich einen kleinen Rachefeldzug ins Leben gerufen haben, finden sie nicht?" fuhr Moran unbeirrt fort.
„Wir waren kein Paar!"
„Vielleicht mit der Hilfe ihrer Freunde in der Regierung? Oder der Polizei?"
Die Sache war absolut lächerlich und doch schien Moran mit jedem seiner Worte überzeugter zu werden. Doch wer weiß? Ein anderer John Watson hätte sich vielleicht tatsächlich auf die Jagd nach Moriarties Männern begeben, ein John Watson der nicht von Trauer zerfressen und Fragen verfolgt wurde. Doch dieser John Watson existierte nicht mehr. Der John Watson auf diesem Stuhl führte ein langweiliges Leben und arbeitete halbtags in einer kleinen Praxis fünfzehn Minuten zu Fuß von der Baker Street.
„Sei es wie es sei, wir können nicht zulassen, dass sie in die Baker Street zurückkehren Captain Watson. Ihr Tod ist eine unvermeidliche Sache, und sei es nur um einen weiteren unsicheren Faktor in unserer Rechnung auszuschließen." Sagte Moran schließlich und setzte einen bedauernden Gesichtsausdruck auf.
John musste unweigerlich lächeln. Moran glaubte tatsächlich, dass er für das Verschwinden seiner Männer verantwortlich sein konnte. Das bedeutete auch, dass er im Grunde keinen Schimmer hatte, wer tatsächlich dahinter steckte. So oder so, sein Tod würde demjenigen hoffentlich ein wenig Zeit verschaffen und das war zumindest ein kleiner Trost. „Warum überrascht mich das nicht?" Wieder wurde er von Moran taxiert, doch sein Gegenüber blieb vollkommen still. „Also gut, wie wollen sie es machen?"
Das schien den Colonel doch ein wenig aus der Fassung zu bringen. „Machen? Was machen?"
„Nun, mich umbringen, dachte ich. Wollen sie mich erschießen? Verhungern lassen?"
Dies entlockte Moran ein wölfisches Grinsen so dass John sich unweigerlich die Nackenhaare aufstellten. „Nun, ich hatte an einen netten kleinen, inszenierten Selbstmord gedacht. Keiner ihrer Freunde wäre überrascht, wenn Sie ihren Geliebten nach einem halben Jahr der Trauer schließlich doch ins Grab folgten, oder? Und was läge für einen Doktor näher als die eine oder andere Pille? Zudem habe ich einen netten Abschiedsbrief für Sie geschrieben…" Mit diesen Worten griff er in das Innere seiner Jackentasche und zog einen schlichten Umschlag hervor. „Ich verspreche Ihnen, Ihre Freunde werden zu Tränen gerührt sein. Und wer weiß? Vielleicht druckt man den Brief sogar in der Zeitung ab?"
John konnte sich eine Grimasse nicht verkneifen. Moran hatte Recht. Vermutlich würde man über seinen Tod nur mitleidig über ihn den Kopf schütteln und anmerken, dass man so etwas schon seit Sherlocks Beerdigung vermutet hatte. Man würde ein oder zwei Tränchen vergießen, bemerken was für ein guter Kerl John gewesen sei und ihn schließlich neben Sherlock begraben. Das würde Futter für die Medien geben. Sherlock Holmes und John Watson, im Tode wieder vereint. Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken.
„Sie müssen zugeben, der Plan hat einen gewissen Charme." Bemerkte Moran schließlich gutgelaunt und griff erneut in seine Jacke. „Noch irgendwelche letzten Worte und Gedanken? Ein letzter Wunsch vielleicht? Aber bitte nichts zu ausführliches, ich habe heute noch einen Flug nach Dublin zu erwischen."
John blickte stoisch nach vorn. Das war es nun also. Er würde nicht den Tod eines Soldaten, sondern den eines Feiglings sterben. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Moran zwei Kapseln in seine Hand schüttelte.
„Man hat mir versichert die hier wären völlig schmerzfrei." Sagte er und beäugte die weißen Kapseln fasziniert. „Nun Captain Watson. Wir können das jetzt auf die nette oder die weniger nette Tour lösen. Sie können die Pillen freiwillig nehmen oder wir zwingen sie dazu. Was soll es sein?"
John seufzte, lächelte und sah dem Colonel geradewegs in die Augen. „Sie haben nicht zufällig ein Glas Wasser?"
