Disclaimer:
Alle Rechte an den entliehenen Figuren liegen bei J. R. R. Tolkien. Ich
verfolge mit der Geschichte keine geschäftlichen Interessen.
Rating: PG
Drama
Das Geschenk
In dieser kleinen Geschichte geht es um Arwen, ihre Gefühle und ihr
Verhalten nach Aragorns Tod – und um den
Lauf der Zeit. Ein Geschenk spielt dabei noch eine besondere Rolle. – Story ist
komplett.
‚Er ist tot. Das Licht meines Lebens ist erloschen.' Wie versteinert stand
Arwen neben dem Bett ihres Mannes. Aragorn – oder Elessar – Telcontar, der
Erneuerer, König des wie-dervereinigten Reiches von Gondor und Arnor, hatte
sein von den Valar einst geschenktes Privileg genutzt, freiwillig aus dem Leben
zu scheiden, sich einfach zur Ruhe zu legen. Er wolle nicht „unmännlich und einfältig*"
irgendwann vom Thron fallen, so sagte er seiner Frau. Arwen versuchte ihn
umzustimmen: „Bleib wenigstens noch ein paar Jahre bei mir ... ein Jahr ...
oder wenigstens ein paar Tage ..." Doch Arwens Flehen half nichts. Aragorns Entscheidung
stand fest.
Nun war es vorbei. Über der Zitadelle von Minas Tirith schien sich ein Schatten
auszubreiten. Ein fast lähmende Stille lag über den Menschen, die sonst
lebhaft, manchmal laut, durch die Räume liefen, wenn sie arbeiteten oder
Besorgungen machten. Auch die Waffenübungsplätze waren verwaist. Das Klirren
der Schwerter, das Surren der Bögen und Pfeile war verstummt. Es schien, als ob
die Welt den Atem anhielte. Dennoch nahm alles seinen vorgeschriebenen Gang:
Ein Herold verkündete den Tod des Königs und den Beginn der Herrschaft seines
Sohnes Eldarion. Gleichzeitig wurde die feierliche Bestattung des verstorbenen
Königs vorbereitet.
Arwen schien nichts davon wahrzunehmen. Sie saß in ihren Gemächern, ließ alles
geschehen, reagierte kaum auf ihre Umgebung. Sie fühlte sich wie jemand, der
fremde Ereignisse von außen beobachtete. Sie aß und trank, mechanisch, einfach
aus Gewohnheit, wenn ihr etwas gebracht wurde. Sie bestickte eine Tischdecke –
genau, fehlerlos, unermüdlich, als ob es nichts Wichtigeres gäbe. Arwens
Bedienstete wussten nicht, wie sie sich ihr gegenüber verhalten sollten. Ihr
Sohn Eldarion versuchte, sie zu trösten, ihr zu helfen, doch seine Bemühungen,
seine Zuneigung prallten an ihr ab. Vor vielen Jahren hatte Arwen aus Liebe zu
Aragorn ihre Unsterblichkeit als Frau der Elben aufgegeben, hatte sich für ein
Leben an seiner Seite entschieden. Ihr Vater Elrond, der Herrn Bruchtals, der
letzten Elbenfestung Mittelerdes, versuchte lange Zeit seine Tochter vor einem
sterblichen Leben zu bewahren, ihr die Liebe zu Aragorn auszureden – doch ohne
Erfolg. Zuletzt hatte er ihre Entscheidung akzeptiert. Inzwischen aber weilte
Elrond schon lange nicht mehr in Mittelerde. Ein paar Jahre nach der Zerstörung
des Einen Ringes hatte er den Weg zu den grauen Anfurten genommen und ein
Schiff bestiegen, das ihn nach Valinor brachte.
Viele Tage lang hielt Arwens Zustand der Erstarrung an. Die Bestattung ihres
Mannes lief vor ihren Augen ab, schien sie äußerlich nicht zu berühren. Ohne
eine Träne zu vergießen stand sie vor Aragorns Sarkophag, hörte den Reden zu,
die die großen Verdienste des alten Königs hervorhoben, lauschte den
Trauergesängen und bedankte sich für die mitfühlenden Worte der vielen
Menschen, die zu der Feier eingeladen waren.
Erst bei Eldarions Krönungsfeier einige Wochen später, als die Stimmung unter
den Gästen immer gelöster wurde, fand Arwen langsam in die Wirklichkeit zurück.
Sie hatte viele Stunden neben ihrem noch unverheirateten Sohn gesessen, wie
stets edel gekleidet und wunderbar anzusehen mit ihren schwarzen Haaren, die
keine silbrige Strähne durchzog, ihren grauen Augen und ihrem noch immer
faltenlosen Gesicht. Ja – äußerlich hatte es die Zeit gut mit ihr gemeint.
Musik spielte, ein paar Tänzer bewegten sich gekonnt im Takt dazu. Arwen hörte
die Melodie, ein altes Lied, das schon viele Jahre lang am Hof von Minas Tirith
gespielt wurde. Sie sah sich um – es kam ihr auf einmal vor, als ob sie nach
einem langem Schlaf erwacht wäre. Doch in diesem Moment wurde ihr auch klar,
dass sie die Menschen in dem Festsaal, selbst ihren Sohn, nicht ertragen
konnte. Ohne ein Wort der Entschuldigung eilte sie deshalb nach draußen, lenkte
ihre Schritte in den nachtdunklen, jetzt im späten Winter noch kargen Garten
hinter dem Haupthaus der Zitadelle. Dort angekommen ließ sie sich ungeachtet
der herrschenden Kälte auf einer kleinen Bank nieder, auf der sie in den
letzten Jahren oft mit Aragorn gesessen hatte.
'Eldarion, Aragorns und mein Sohn, ist nun König des wiedervereinigten
Reiches...', dachte sie. Arwens kleiner Sohn war erwachsen geworden, hatte die
Verantwortung für das Königreich und alle, die darin lebten, übernommen. Er
brauchte sie nicht mehr. Die Leute von Gondor und Arnor, auch die Verbündeten,
an ihrer Spitze Elfwine, der König von Rohan, hatten den Wechsel bereits
akzeptiert. Eldarion repräsentierte die Zukunft, Aragorn war Vergangenheit.
In aller Deutlichkeit erkannte Arwen jetzt, was sich für sie verändert hatte.
Zum ersten Mal fühlte sie mit voller Wucht den erlittenen Verlust. Nie wieder
würde sie der Stimme ihres geliebten Mannes lauschen, sein seltenes, aber immer
befreiendes Lachen hören, seine Bewegungen sehen, seine Berührungen fühlen. Sie
versuchte sich Aragorn vorzustellen, wenn er mit ihr zusammen war, sie in die
Arme genommen hatte, doch alles, was vor ihrem inneren Auge erschien, war das
Bild, als er sich endgültig zu Ruhe gelegt und von ihr Abschied genommen hatte.
Auf einmal fühlte sie Tränen auf ihren Wangen. Sie versuchte, sich zu
beherrschen – es gelang ihr nicht. Der viele Wochen lang unterdrückte Schmerz
in ihr brach sich in einem verzweifelten Weinen Bahn. Sie sank auf der Bank
zusammen, glitt dann zu Boden und hielt sich vollkommen verkrampft an einer
Lehne fest. Niemand bemerkte etwas. Die Menschen der Zitadelle waren bei
Eldarions Krönungsfeier...
Irgendwann konnte Arwen nicht mehr weinen. Mühsam erhob sie sich, sah in den
Himmel, doch Sterne konnte sie nicht erkennen; es hatte sich bewölkt,
vielleicht würde es sogar noch regnen. ‚Ohne Aragorn ist auch mein Leben nichts
wert', dachte sie. ‚Was soll ich noch in Minas Tirith? Die Steine dieser Stadt
bringen mir keinen Trost...'
***
Arwen verließ Minas Tirith unbemerkt noch in der gleichen Nacht. Einen
Kapuzenumhang tief in ihr Gesicht gezogen, noch immer in ihr Festgewand gekleidet,
galoppierte sie mit ihrer Stute Sternenglanz in Richtung Nordosten. Sie reiste
mit leichtem Gepäck und unbewaffnet. Was sollte ihr schon passieren? Wenn sie
von Straßenräubern überfallen und getötet würde, täten sie ihr einen Gefallen.
Nur einen kleine Tasche mit eine paar wenigen Vorräten hielt sie in einer Hand
fest. Ihrem Sohn hatte sie eine Nachricht hinterlassen, in der sie ihm für die
Zukunft alles Gute wünschte und ihn gleichzeitig bat, nicht nach ihr zu suchen.
Viele Tage lang ritt sie vorbei an fruchtbarem Ackerland, kleinen Dörfern und
kargen Ebenen, geeignet nur als Weiden für Schafe. Sie sah lichte Wälder und
liebliche Täler. Sie überquerte Bergpässe und kleine Flüsse. Rast machte sie
immer nur kurz, um ein paar Stunden zu schlafen, schnell brach sie wieder auf,
sobald sie sich ein wenig ausgeruht hatte.
Schließlich erreichte sie ihr Ziel, den goldenen Wald von Lothlorien. Hier, im
Reich ihrer Großmutter Galadriel, hatte sich Arwen einst mit Aragorn verlobt
und die glücklichsten Stunden ihres langen Lebens verbracht. Konnte sie die
Erinnerung an dieses Glück zurückholen?
Arwen stieg von ihrem Pferd ab und flüsterte ihm mit sanften Worten zu, sich
einen Gefährten zu suchen und nicht mehr zurückzukommen. „Hier gibt es für dich
nur Einsamkeit, meine Schöne, und du hast noch ein langes Leben vor dir."
Sternenglanz stupste sie mit den Nüstern leicht an, so als wollte sich das Tier
nicht von ihr trennen. Arwen streichelte den Kopf der Stute, dann sagte sie
nochmals bestimmt: „Geh jetzt... lebe frei und suche dein Glück." Sternenglanz
wieherte, so als hätte das Tier genau verstanden, was ihm Arwen sagte, wandte
sich um und galoppierte davon.
Als Arwen langsam durch das Reich der Galadhrim wanderte, wuchs ihre
Enttäuschung stetig. Der einst goldene Wald hatte sich verändert. Sein Glanz
war verblasst. Die Mellyrn hatten fast alle Blätter abgeworfen, allein der
Anblick zeugte von der Vergänglichkeit allen Lebens. Doch was hatte sie
erwartet? Galadriel, das Herz des Elbenreiches, war nach Westen gesegelt, so
wie Elrond. Celeborn, Galadriels Mann, hatte sich nach Bruchtal zurückgezogen,
lebte dort zusammen mit Arwens Brüdern. Lothlorien war verlassen.
Der Cerin Amroth, der Hügel auf dem sich Arwen mit Aragorn verlobt hatte,
wirkte kalt und abweisend. Vergeblich versuchte Arwen, freundliche Erinnerungen
an ihren geliebten Mann in ihr Gedächtnis zurückzurufen. Sie sah nach wie vor
nur Aragorns Gesicht nach seinem Ende, blass, starr, unbeweglich - mit offenen
Augen, die sie ihm zudrückte... Hatte ihr Vater doch Recht behalten, als er sie
warnte, mit einem Sterblichen den Bund einzugehen, selbst wenn es ein
langlebiger Numenorer war? 'Nein', gab sie sich selbst die Antwort, denn in
diesen wenigen Jahren hatte sie eine Liebe erfahren, die vielen ihres Volkes in
Jahrtausenden verwehrt blieb. Sie musste einen hohen Preis dafür zahlen, doch
das hatte sie von Anfang an gewusst...
Auf einmal hörte Arwen von Ferne Stimmen - und Gelächter. Sie konzentrierte
sich auf die Geräusche, erkannte die Stimme einer Frau und die eines Kindes.
Wer konnte das sein? Was machten die Leute in diesem Wald? Arwen konnte sich
noch gut an frühere Zeiten erinnern, als die meisten Menschen bereits die Nähe
zu Galadriels Reich mieden, weil sie fürchteten, unter den Bann einer Zauberin
zu geraten.
Sie stand auf, wollte sich in den Schatten der Bäume zurückziehen, um nicht gesehen
zu werden, doch es war schon zu spät: Ein kleines, vielleicht sieben- oder achtjähriges
Mädchen mit langen braunen Locken, barfuß, gekleidet wie die Tochter eines Bauern,
hatte sie entdeckt und starrte sie mit großen blauen Augen an. Die Frau, die
das Kind offenbar begleitete, war nicht zu sehen.
„Was machst du denn allein im Wald?" fragte die Kleine neugierig. Arwen rang
sich ein Lächeln ab. „Ich wandere nur herum", erwiderte sie, „weißt du, vor
vielen Jahren habe ich hier in der Nähe gewohnt." „Im Wald?" „Ja. Aber wie
heißt du und wo ist deine Mutter?" „Ich heiße Miri und Mama sammelt Wurzeln.
Sie macht daraus Medizin." „Ist sie eine Heilerin?" Miri rieb sich nachdenklich
die Nase. „Weiß nicht, kann sein..."
Plötzlich hatte Miri Arwens Halskette entdeckt – ein schmales Collier aus
Mithril mit blütenförmig gefassten blauen Edelsteinen. „Das ist aber schön",
sagte sie und deutete auf die Kette. „Darf ich es mal anfassen?" Arwen nahm die
Kette ab und betrachtete sie nachdenklich. Aragorn hatte sie ihr einst
geschenkt, an einem Jahrestag ihres Kennenlernens – als ihr gemeinsamer Sohn
Eldarion etwa in Miris Alter war. Spontan fasste sie einen Entschluss. Sie
reichte die Kette an Miri hinüber, die sie bewundernd durch ihre Finger gleiten
ließ. „Nimm die Kette, sie ist ein Geschenk...", sagte sie. Miri strahlte. „Ich
darf sie behalten?" fragte sie ungläubig. „Ja, behalte sie..."
In diesem Moment kam ihre Mutter – schon etwas besorgt, wohin ihre Tochter
verschwunden war. Sie erkannte, was dem Mädchen entgangen war. Vor ihr stand
eine äußerst vornehme Dame, auch wenn sie es etwas seltsam fand, dass eine solche
Frau allein im Wald war. Aber was ging es sie an. „Ich hoffe, meine Tochter hat
Euch nicht belästigt..." sagte sie zögerlich mit einer kleinen Verbeugung. „Das
hat sie nicht", entgegnete Arwen und dachte im Stillen, dass es gut war, wie
sie ihre Haare frisiert hatte. Ihre Ohren waren bedeckt und so konnte sie nicht
sofort als Elbin – oder als ehemalige Elbin, wie sie mit einem Anflug von
Ironie feststellte – erkannt werden. Neugierige Fragen der Mutter des Mädchens
wollte sie nicht beantworten.
„Schau mal Mama", rief plötzlich Miri und zupfte ihre Mutter am Ärmel, „das habe
ich geschenkt bekommen." Miris Mutter sah fassungslos auf die kostbare Kette.
„Das ... das können wir nicht annehmen", stammelte sie und wollte das Collier
schon zurückgeben. Arwen hob die Hand in einer abwehrenden Geste. „Nein", sagte
sie bestimmt, „die Kette ist wirklich ein Geschenk ..." Leise, fast flüsternd
fügte sie hinzu: „Ich brauche sie nicht mehr. Sie soll eurer Tochter so viel
Glück bringen, wie ich ... es hatte ..." Die Frau sah Arwen nach diesen Worten
lange an, erkannte beim Blick in ihre Augen, dass sich hinter dem freundlichen
Äußeren der Dame tiefes Leid verbarg. Sie nickte, bedankte sich höflich und zog
ihre Tochter von Arwen weg. Sie wollte nicht länger stören. Doch Arwen rief dem
Mädchen noch einen Abschiedsgruß nach: „Mögen die Valar dich auf allen deinen
Wegen beschützen, Miri."
Als beide verschwunden waren, bemerkte Arwen, dass sie schon wieder Tränen in
den Augen hatte. „Dein Geschenk habe ich weitergegeben, mein Geliebter", sagte
sie laut, so als ob Aragorn neben ihr stehen würde. „Ich hoffe, es ist dir
Recht. Das kleine Mädchen hat die Kette so bewundernd angesehen ..." Auf einmal
glaubte sie die Stimme ihres Mannes zu hören: „Du hast das Richtige getan. Du
wirst immer das Richtige tun." Plötzlich wurde sie überschwemmt von Erinnerungen:
Aragorn, der lachte, weil sie sich hoffnungslos in den Zierschnüren eines
Kleides verfangen hatte... Aragorn, der auf seinem Thron saß und Streitigkeiten
schlichtete, die ihm vorgebracht wurden... Aragorn, der mit seinem Sohn
spielte, sie um Rat fragte, sie küsste, sie liebte... Ohne es richtig
wahrzunehmen, so sehr hielten sie ihre Erinnerungen gefangen, war sie auf den
Cerin Amroth hinaufgestiegen, hatte sich auf den Boden gesetzt. Ein Lächeln
erschien auf ihrem Gesicht. Und dann traf sie auch für sich die letzte
Entscheidung – die Entscheidung, die sie in ihrem Herzen schon lange
beschlossen hatte, schon vor Jahren, als ihr Mann noch jung und ihr Sohn ein
Kind war: 'Wo immer du auch jetzt bist, Aragorn, mein Geliebter, ich werde dir
folgen ...'
***
Jahre später sah Miralis, oder Miri, wie sie von ihrer Familie und ihren
Freunden genannt wurde, zum ersten Mal Minas Tirith. Sie war zu einer schönen
Frau herangewachsen, hatte Gelmir**, einen Mann, der wie sie aus Gondor
stammte, geheiratet und lebte nun auf seinem Hof in der Nähe des Anduin, einige
Wegstunden von der weißen Stadt entfernt. Ihre Mutter und ihren Vater, die in
ihrem kleinen Dorf, viele Tagesreisen nordöstlich gelegen, geblieben waren,
traf sie seither nur noch selten. Gelmir, Miri und ihr gemeinsamer Sohn
Faron***, ein Kleinkind noch, waren unterwegs zum Markt in der Hauptstadt, um
Teile ihrer Ernte zu verkaufen. Auf einem von zwei Ochsen gezogenen Wagen
transportierten sie frisches Obst und Gemüse. Bisher hatten sie ihre Ernte in den
benachbarten Dörfern immer den Handwerkern angeboten, aber es hieß, dass in
Minas Tirith Obst und Gemüse zu höheren Preisen zu verkaufen sei. Die Familie
war nicht arm, aber auch nicht besonders wohlhabend; einen zusätzlichen
Verdienst konnten sie gut brauchen. Doch nie war Miri auf den Gedanken
gekommen, das Geschenk aus ihrer Kindheit, die Kette der traurigen Dame aus dem
Wald, wie sie sie insgeheim immer bezeichnete, zu verkaufen. Auch ihr Mann
hatte das nie von ihr verlangt. Meist trug Miri die Kette verdeckt, denn
inzwischen wusste sie so ungefähr, was sie wert war und sie wollte keine Diebe
oder Räuber anlocken.
In Minas Tirith kam sie aus dem Staunen gar nicht heraus. Sie hatte nie eine so
riesige Stadt gesehen mit solch großen, schön verzierten Häusern und so vielen
Menschen, die gleichzeitig auf den Straßen unterwegs waren. Gelmir kannte die
Stadt bereits und Faron war noch viel zu klein, um das Außergewöhnliche dieser
Umgebung wahrzunehmen. „Kann ich noch ein bisschen herumlaufen und mich umsehen,
während du das Obst und das Gemüse für den Verkauf herrichtest?" fragte Miri
ihren Mann, als sie am Marktplatz angekommen waren. Er zögerte nur einen
Moment, dann meinte er: „Minas Tirith ist sicher, dafür sorgen die Wachen des
Königs. Sieh dich nur um, aber verlaufe dich nicht. Obwohl – jeder wird dir den
Weg zum Marktplatz weisen können."
Miri machte sich also auf den Weg, schaute Straßen und Plätze an, sah Händler
ihre Waren anbieten und beobachtete Musikanten, die die Menschen für ein wenig
Geld zu unterhalten suchten. Die Zitadelle machte auf sie einen eher
abweisenden Eindruck, die Tore waren schwer bewacht, aber der Turm Ecthelion
leuchtete in der Morgensonne und der weiße Baum auf dem Platz davor, das
Wahrzeichen Gondors, ragte groß und gesund in den Himmel.
Dann sah sie auf einmal ein gewaltiges steinernes Gebäude, nahe der Zitadelle.
Auch dort standen Wachen, dennoch gingen Menschen ein und aus. „Was ist darin?"
fragte sie eine Frau, die mit einem Korb im Arm gerade ihr Haus in der Nähe
verließ. „Kann da jeder hinein?" „Gewiss", antwortete die Frau freundlich.
„Dort befinden sich die Grabmäler der Könige und der Truchsesse..." Miri
bedankte sich und trat mit klopfendem Herzen ein. Steinerne Räume mit riesigen
Säulen, erleuchtet von Fackeln, erwarteten sie. Riesige Grabmäler, ebenfalls
aus Stein gehauen, standen an den Wänden, einige auch inmitten der Räume.
Solche Grabmäler hatte Miri nie gesehen, sie lagen bis zu diesem Tag völlig
außerhalb ihrer Vorstellungskraft.
Vor einem der Grabmäler standen besonders viele Leute. „Wer liegt da?" fragte
sie einen Mann, vielleicht zehn oder fünfzehn Jahre älter als sie selbst. Das
erkannte sie jedoch erst, als er sich ihr zuwandte und sie ihm ins Gesicht
blicken konnte, denn er trug einen der in Minas Tirith wohl beliebten dunklen
Kapuzenumhänge, die fast nichts über ihre Träger verrieten. „Ihr seid wohl
fremd hier?" erwiderte der Mann, erklärte aber freundlich; „Das ist der
Sarkophag König Aragorns, des ersten Königs des wiedervereinigten Reiches..."
„Mein Vater und meine Mutter müssten hier sein", sagte Miri, „sie haben diesen
König verehrt, obwohl sie ihn nie gesehen haben. Er habe Mittelerde den Frieden
gebracht, erzählten sie mir schon als Kind." „Und was bedeutet er für Euch?"
„Er war ein Held, der unbegreifliche Taten vollbrachte, aber es ist für mich
so, als ob er in einer längst vergangenen, weit zurückliegenden Zeit gelebt
hätte. Ich kann nicht begreifen, dass er noch regierte, als ich ein Kind war.
Er ist eine Erinnerung, nicht mehr richtig wahr ... so wie die Elben." Der Mann
nickte, schwieg aber.
Etwas später stand sie nur noch allein mit dem fremden Mann vor Aragorns Sarkophag.„Es
ist warm hier drin", meinte sie, und streifte das Tuch ab, das sie um den Hals
geschlungen hatte. Auf einmal schien ihr Gegenüber zu erstarren. 'Die Kette',
dachte sie erschreckt, 'warum passe ich nicht besser auf.' Unwillkürlich trat
sie einige Schritte zurück, bis sie fast an der Wand des Raumes stand. Doch der
Mann folgte ihr. Als sie noch überlegte, ob sie vielleicht fliehen könnte,
sprach er wieder und seine Stimme klang seltsam brüchig: „Woher habt Ihr die
Kette? Sie ist sehr kostbar." Miri atmete tief ein, dann erwiderte sie bestimmt
„Das geht Euch nichts an, mein Herr" und legte sich das Tuch wieder um. „Ich
denke doch. Sie gehörte meiner Mutter ..." Die Stimme des Fremden war hart
geworden, klang befehlsgewohnt. „Habt Ihr sie gestohlen?" „Nein, natürlich
nicht, ich bin keine Diebin", entgegnete Miri schnell. Der Mann sah ihr lange
in die Augen, dann meinte er, wieder freundlicher: „Nein, das habe ich auch
nicht angenommen ... Aber wollt Ihr mir nicht die Geschichte erzählen, wie sie
in Euren Besitz kam?"
Miri atmete vor Erleichterung aus. Erst jetzt bemerkte sie, wie angespannt sie
gewesen war. Der Mann wollte sie anscheinend nicht berauben und er begann
sogar, sie anzulächeln. Sie war endgültig besänftigt und erzählte nun offen von
ihrer Begegnung mit der Dame im Wald, als sie noch ein Kind war – und von deren
großzügigem Geschenk. „Ich habe nie ihren Namen erfahren", beendete Miri ihre
Schilderung. Der Mann nickte nachdenklich. „Ihr und Eure Mutter gehört
wahrscheinlich zu den letzten Menschen, die sie je gesehen haben. Obwohl sie es
nicht wollte, habe ich nach ihr suchen lassen, auch im Wald von Lothlorien. Keiner
hat aber eine Spur gefunden."
„Wer war eure Mutter?" fragte Miri. Er schaute sie an, dann sagte er: „Meine
Mutter war Arwen, die Tochter Elronds, die Königin von Gondor... Sie hat Minas
Tirith verlassen, als sie um ihren Mann trauerte..." Leise fügte er hinzu: „Ich
hätte sie so gern getröstet, aber sie ließ es nicht zu..." Miri war vollkommen
fassungslos ... „Die Königin von Gondor? Dann ... dann war König Aragorn, der
sagenhafte Held, ihr Mann? Und Ihr ... Ihr seid ..." Sie stockte. „Ich bin
Eldarion", erwiderte der Mann. Sie schluckte. „Ich ... ich weiß nicht, was ich
sagen ... leider bin ich nicht geübt im Umgang mit ... vornehmen Leuten ... äh,
Königen ..." 'Reiß dich zusammen', dachte sie in diesem Moment, 'der König muss
dich ja für eine Idiotin halten.' Sie wollte auf ihre Knie fallen, wurde aber
von Eldarion davon abgehalten, indem er sie an den Oberarmen fasste. „Lasst das
... ich möchte von Euch keine Ehrenbezeugungen. Ihr habt meine Mutter zum
Lächeln gebracht, als ich es nicht vermochte ..."
„Ich danke Euch, mein König", erwiderte Miri und nestelte an ihrer Kette.
„Bitte nehmt sie zurück", bat sie, als sie es geschafft hatte, den Verschluss
zu lösen. „Nein, die Kette gehört Euch. Niemals würde ich ein Geschenk, das
meine Mutter jemandem gemacht hat, zurücknehmen. Und ihr habt bewiesen,
Miralis, dass ihr die Kette in hohen Ehren haltet, sonst hättet Ihr sie längst
verkauft."
Eldarion erkundigte sich dann nach Miris Familie und ihren Lebensumständen,
fragte sie, ob sie irgendwelche Unterstützung bräuchten. „Wir haben alles, was
wir benötigen", erklärte Miri daraufhin rasch. „Dann ist es ja gut", sagte
Eldarion und lächelte. „Aber wenn ihr dennoch eines Tages meine Hilfe braucht,
scheut Euch nicht zu kommen. Nennt den Wachen am Eingang der Zitadelle dann
einfach Euren Namen ..." Miri nickte und lächelte ihrerseits den König an. Eine
Zeit lang standen sie schweigend nebeneinander, Miri blickte das Grabmal
Aragorns jetzt mit neuem Interesse an. Doch dann erklärte sie Eldarion
schließlich, dass sie gehen müsse. „Meine Familie wartet – und ich habe viel zu
erzählen." „Dann lebt wohl", erwiderte Eldarion, „und mögen die Valar Euch auf
allen Euren Wegen beschützen, Miralis."
***
Als Miri längst wieder im Freien und auf dem Weg zum Marktplatz war, kamen ihr
die letzten Worte des Königs in den Sinn. Sie waren fast die gleichen, die
seine Mutter bei ihrem Abschied gesagt hatte. Nur, dass Königin Arwen damals zu
einem Kind sprach und ihr Sohn heute zu einer Erwachsenen. Ja, die Valar hatten
sie beschützt – davon war Miri überzeugt. Sie hatte den Mann gefunden, den sie
vorbehaltlos lieben konnte, so wie die Königin Aragorn vor langer Zeit liebte –
bevor sie um ihn trauern musste.
Je mehr sich Miri dem Marktplatz näherte, desto unwirklicher kam ihr das Gespräch
mit König Eldarion vor. Der wieder beginnende Alltag forderte seinen Tribut.
'Hoffentlich verkauft Geldir unsere Waren nicht zu billig', dachte sie. 'Er ist
ein guter Bauer, aber kein Händler ... ich werde die Sache in die Hand nehmen,
sobald ich angekommen bin', nahm sie sich vor. Dann sah sie Geldir und Faron.
Als ihr Sohn sie erblickte, stürmte er auf sie zu, um sie zu umarmen. Miri nahm
ihn hoch, wobei sie sich ein paar Mal um die eigene Achse drehte. Faron
jauchzte vor Freude. Geldir lachte und meinte gespielt verzweifelt: „Es ist
gut, dass du wieder da bist... dein Sohn hört überhaupt nicht auf mich..."
„Mein Sohn? Du meinst wohl unser Sohn...?" „Meinetwegen auch das – es ist
jedenfalls gut, dass du wieder da bist", bekräftigte Gelmir. Miri nickte. Einen
kleinen Moment dachte sie an Arwen, dann schob sie die Erinnerung weg – für den
Augenblick zumindest. Sie schaute auf ihre kleine Familie, und plötzlich
durchströmte sie das gleiche Glücksgefühl wie an dem Tag, als sie sich mit
Geldir verbunden hatte. „Na, da wollen wir doch mal sehen, ob wir die letzten
Äpfel und das restliche Gemüse noch verkaufen können", sagte sie energisch.
Erst wenn sie wieder zu Hause waren, wollte sie Geldir erzählen, was sie heute
erlebt hatte...
Ende
*Zitat: J.R.R. Tolkien, HdR, Bd III, Anhänge, Erzählung von Aragorn und
Arwen
(Übersetzung: M. Carroux)
**Gelmir = Himmelsjuwel
***Faron = Jäger
Ganz herzlich bedanken möchte ich mich an
dieser Stelle bei Annaluva, die mich ermuntert hat, mit dem Schreiben von
Fanfictions anzufangen, bei meiner Betareaderin Lessien Taralom, die die
Entstehung meiner Geschichten durch ihre wertvollen Anmerkungen und Anregungen
immer unterstützt und - nicht zuletzt - bei Eowyn, die im Sommer des letzten
Jahres meine allererste Fanfiction auf ihrer Seite veröffentlicht hat.
***
Über Feedback zu der Geschichte, eure
Meinung, Lob, Kritik, Anregungen – was
auch immer – (per E-Mail oder als Review) würde
ich mich sehr freuen.
