memories
Auf
den Ländereien von Hogwarts
16. November 1997
Der
Abend war kalt und klar. Kein Windhauch rührte die Äste der Bäume,
drüben im Verbotenen Wald, kein Laut war zu hören auf den grünen
weiten Hügeln. Das Schloss Hogwarts, hoch über dem See wachend,
schwarz abgezeichnet gegen den dunkler werdenden Himmel wirkte wie
ausgestorben, nur vereinzelt waren Lichter in den Fenstern zu
erkennen.
Niemand war auf den Ländereien. Die einzigen Menschen
die sich ausserhalb des Schlosses befanden, waren die beiden
Torwachen, reglos standen sie da und liessen ihre wachsamen
Blicke über das ruhige Land schweifen. Sie trugen lange, nachtblaue
Roben, die kunstvoll verziert waren und dem Kundigen ihre Profession
verrieten. In den Händen hielten die beiden Männer Onyxstäbe,
jederzeit bereit Hogwarts zu verteidigen. Doch noch immer regte sich
nichts auf den Ländereien. Doch da, am Ufer des schwarzen, wallenden
Sees, dort wo die Gräber der Gefallenen lagen, kniete eine Gestalt
in schwarzem Umhang. Das Haupt mit dem schwarzen, zerzauste Haar
gesenkt. Direkt am Ufer des Sees, von schwarzen Wellen umspült stand
das weisse, marmorne Grabmal des grössten Zauberers der je gelebt
hatte, den viele für unbesiegbar, ja vielleicht sogar unsterblich
gehalten hatten – Albus Dumbledore, der Mann, der sich wie kein
anderer gegen die Dunkelheit gestellt hatte, in einem erbitterten,
lebenslangen Kampf. Vor seinem Grabmal waren zehn Kreuze errichtet
worden, ebenfalls aus Marmor, in einer Reihe. Auf den frischen
Grabhügeln lagen Blumen und Kerzen flackerten traurig in der kalten
Abendluft. In das Kreuz, vor dem der junge Mann kniete, war folgende
Schrift graviert worden:
R. I. P.
Ginerva Lea Weasley
7.2.1981 - 14.11.1997
Mors ultima linea rerum non est
Portare pax in cor
Zwei
weisse Kerzenständer flankierten das Grab und spendeten schwaches
Licht.
Harry streckte die Hand aus und legte die weisse Rose, die
schönste, die er finden konnte auf die frische Erde. Er spürte, wie
ein glühender Speer sein Herz durchstach und er ballte die Hände zu
Fäusten. So gern hätte Harry geweint. So gern hätte er all den
Schmerz, all den Hass und die Dunkelheit, die sein Herz gefangen
hielt heraus geschrieen. Doch er konnte nicht weinen. Erst musste er
verstehen. Er musste annehmen, was geschehen war, akzeptieren, dass
er nichts mehr tun konnte.
Fast gegen seinen Willen wandte er
den Kopf nach rechts, die Reihe der Gräber entlang. Hermine hatte
neben Ginny ihre letzte Ruhe gefunden. Das klügste Mädchen, dass er
je gekannt hatte und wahrscheinlich je kennen würde lag hier, wo sie
doch noch so viel gutes hätte vollbringen können.
Etwas zog
Harrys Blick auf sich. In der Mitte des schwarzen Sees breitete sich
ein Licht aus. Die Oberfläche begann geisterhaft zu leuchten,
schwach flackernd.
Eine Gestalt tauchte aus den Fluten auf. Ihr
einst feuerrotes Haar war nun mehr ein blasses weissliches rot. Ihr
Gesicht schien fahl und durchscheinend. Auf der linken Wange hatte
sie eine tiefe Narbe, die sich in ihrem wallenden Haar verlor.
Dennoch hatte Ginny nichts von ihrer einstigen Schönheit verloren.
Ihre grossen, braunen Augen sahen Harry unentwegt an. Sie lächelte.
Harry wusste nicht was geschehen war, doch fühlte er sich
merkwürdig leicht, als würde er, genau wie Ginny einige Zentimeter
über dem See schweben.
Hermine erschien neben ihr und lächelte
ebenfalls. Auch ihr einst volles braunes Haar war fahl und sie wirkte
geisterhaft weiss. Die beinahe durchsichtigen, weissen Gewänder
flatterten leicht um ihre Körper. Sie wirkten so glücklich und
frei. Dann sah er Ron, lächelnd die Hand ausstrecken. Fred und
George erschienen, Arm in Arm, Luna, verträumt lächelnd, wie als
sie noch gelebt hatte. Und da waren Collin und Denis Creevie. Sie
waren noch so jung gewesen.
An ihrer Seite standen die
Patil-Zwillinge, kaum zu unterscheiden, aber auch sie lächelten. Und
da war Albus Dumbledore, der Bart länger denn je, die Arm
ausgebreitet, als wolle er Harry auffordern, sich zu ihnen zu
gesellen. Der Anblick war überwältigend und die Zeit schien still
zu stehen. Im Hintergrund tauchte die Sonne das Land in blutrotes
Licht.
Harry streckte die Hand aus, wollte wieder bei denen sein, die er geliebt hatte, wollte Ginny, Hermine und Ron wieder in die Arme schliessen. Doch dann, als sich ein kleiner Funken Hoffnung in seinem Herzen entfacht hatte, kam ein kalter Windhauch über den See, zerrte an Harrys Umhang und die Menschen vor ihm vergingen mit dem eisigen Ruf des Windes. Ginny erhob ein letztes Mal lächelnd die Hand, dann war auch sie verschwunden und nichts mehr war geblieben, ausser den kalten, marmornen Kreuzen, auf denen für immer ihre Namen eingraviert waren. Doch was waren Namen? Namen würde man irgendwann vergessen, in Büchern niederschreiben vielleicht, nichts weiter als Legenden in fernen, verschleierten Tagen.
Doch in
Harrys Herz würden sie alle weiterleben. Er würde kämpfen, bis zu
seinem Tod.
»Geht und findet Frieden«, flüsterte er und
erneut huschte ein leiser Windhauch über das Land und liess die
Kerzen flackern. Harry meinte Ginnys zarten Rosenduft auf seiner
Zunge zu schmecken. Flüchtig erinnerte er sich an ihren letzten
Kuss, ihre letzte Berührung. Dann sah er Ginny in seinen Armen
liegend, tot. Er hatte nichts mehr für sie tun können, dennoch
wusste er, dass Ihr Tod sein verschulden gewesen. Wieder brannte es
in seinen Augenwinkeln, als er erbittert flüsterte:
»Es
tut mir leid«
Sein Herz wurde von tausenden Messerstichen
traktiert und sein Magen drehte sich um. Für einen Moment
verschleierte seine Sicht, die dunklen Wogen der Hoffnungslosigkeit
und der Verzweiflung umspülten ihn und drohten ihn zu überwältigen.
Harry presste die Zähne zusammen, um die Schmerzen zu ertragen, die
nicht nur seelisch waren.
Dann, ganz plötzlich, legte sich eine Hand auf seine Schulter, sie war gross, aber zart und nur ihre Anwesenheit drängen die Wogen der Trauer für einen Moment zurück. Eine kalte, leere Ruhe erfüllte Harry. Genau diese Ruhe, vor der er sich so gefürchtet hatte, die ihm alle Möglichkeit nahm zu weinen, zu schreien, sich von diesem Schmerz zu befreien. Diese Ruhe, die ihn gefangen nahm und nicht mehr los liess, diese Ruhe, die seine Seele eisig umklammerte und alles um ihn klarer werden liess, alle Gefühle verbannte.
Langsam, als fürchtete er, hinter ihm könnte eben diese kalte Dunkelheit lauern und ihn verschlingen, wandte sich Harry um. Dort stand Draco Malfoy und sah mit einem unergründlichen Blick auf Harry hinunter. Kein Hass, kein Hohn lag auf seinem Gesicht. Der Stolz war von seinen Zügen gewichen, nichts mehr war davon geblieben, als er Harry ansah.
Harry konnte nicht
anders, als dem Jungen, den er seit so langer Zeit schon hasste, in
die grauen Augen zu sehen. Am liebsten hätte er Draco für all das
verantwortlich gemacht, ihn ein bisschen dieser Qualen spüren
lassen, die in ihm brannten, wie ein loderndes Feuer. Doch er konnte
nichts tun. Er konnte Draco nicht angreifen, er wusste nicht einmal
mehr ob er es überhaupt tun wollte.
»Was willst du
hier?«, fragte Harry verbittert. »Bist du gekommen um mir den
letzten Funken Hoffnung zu nehmen?«
»Nein, Bruder«,
antwortete Draco leise. »Ich bin gekommen, weil ich dir etwas geben
wollte.«
Draco steckte die Hand in die Tasche seines Umhangs und
Harry glaubte, er wollte seinen Zauberstab ziehen, doch war er zu
schwach um sich zu verteidigen.
Als er Harry seine Hand
hinstreckte, konnte dieser etwas aufblitzen sehen.
Mit zitternder
Hand und verschwommener Sicht, aus Angst, welch Schrecken sich nun
offenbare, nahm er ein kleines, goldenes Amulett an einer langen
Kette, aus Dracos ausgestreckter Hand. Harrys Eingeweide zogen sich
zusammen, und ein weiterer glühender Speer drang in sein Herz ein,
als er die feinen Linien auf der Oberfläche las: Auf
immer Dein.
Kaum hatte er zu Ende gelesen, sprang das kleine Deckelchen auf und
Harry konnte ein Foto von Ginny, auf einem roten Samtdeckchen sehen.
Das Foto bewegte sich nicht, und so war Ginnys lächeln für immer
gebannt.
Er konnte dieses Glück und diese Zuversicht, die Ginnys hübsches Gesicht ausstrahlten nicht ertragen und klappte das Amulett zu. Er ballte die Hände zu Fäusten und hob sie zu einem Schrei der Verzweiflung, der weit über die Ländereien zu hören war und das Leid eines Liebenden durch die kalte Luft trug. Dracos Hand strich über Harrys Gesicht. Sie fühlte sich so weich und warm an und augenblicklich kehrte wieder diese kalte Ruhe zurück.
In Dracos Augen lag tiefe Trauer. »Es war ihr letzter Wunsch gewesen, dass ich es dir übergebe. Es ist nicht vorbei. So darf es nicht enden«, flüsterte Draco in Harrys Ohr. Er hatte sich Harry gegenüber auf den Boden gekniet und sah ihm unentwegt in die Augen. Harry versuchte, seinen Blicken auszuweichen, er wusste, dass es falsch war, er wusste, dass er diesen Jungen verachtete, doch konnte er nicht anders, als in diese grauen Augen zu sehen, in denen er eine Wärme erkennen konnte, wie Ginny sie ihm immer gegeben hatte.
»Ich
weiss, du verachtest mich«, sagte Draco und ein Schatten huschte
über seine Augen. »Mit Recht, doch heute weiss ich, dass ich viel
falsch gemacht habe. Zu vielen Menschen habe ich das Leben schwer
gemacht, auch dir, wo du es doch schon schwer genug hattest. Zu lange
habe ich geglaubt es wäre richtig was mein Vater und all die Anderen
getan haben, die Lord Voldemort blind gedienten. Aber heute weiss
ich, dass es einen anderen Weg gibt.«
»Es hat immer einen
anderen Weg gegeben«, sagte Harry mit schwerer Stimme. Das Sprechen
fiel ihm schwer. Es war, als liege ein schwerer Stein in seiner Kehle
und er blickte zu Boden.
»Meine Sicht war verschleiert,
mein Weg gewunden. Ich weiss, dass ich viel getan habe, was ich heute
bereue.«
In Harry kamen langsam wieder die kalten Wogen der
Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung auf. Fast sehnte er sich nach
einer weiteren Berührung von Dracos feiner Hand, nicht nur um seinen
Schmerzen zu entkommen.
Doch mit der Hoffnungslosigkeit kehrte
nicht, wie erwartet der Hass auf den jungen Mann vor ihm zurück,
nein es war ein anderes Gefühl, nicht zu beschreiben, ein Gefühl
von... Klarheit, das den Sturm aus Gefühlen und Erinnerungen in
seiner Seele beruhigte, der ihn all das vergessen liess, was
geschehen war, denn dies war nun nicht mehr wichtig.
»Ich
weiss, dass du am liebsten deinen Zauberstab ziehen würdest, mich
ein wenig von dem spüren zu lassen, dass dich innerlich zerreisst.
Ich weiss, dass du mir nicht verzeihen kannst, was ich getan habe,
aber dennoch, möchte ich mit Würde sterben.«
»Nein«,
flüsterte Harry, kaum hörbar, gegen den Wind, der kalt über das
Land wehte und traurig an ihren Umhängen zerrte. »Es gibt nichts
mehr zu verzeihen« Er blickte Draco wieder in die Augen, in denen
sich eine Mischung aus Verwunderung und Freude zeigte. »Die Zeiten
des Hasses sind vorbei. Die Zeiten des Krieges sind vorbei. Nun ist
die Zeit der Trauer angebrochen und alles was war, ist nun vorbei,
all der Hass und die Feindschaft ist vergangen in den Wogen der
Erinnerungen und der Trauer um jene, die ihr Leben liessen um das zu
retten, was sie geliebt haben. Wir sollten dieses Andenken mit Ehre
in uns tragen, so sollen aus Feinden Brüder werden, aus Freunden
Liebende, aus der Nacht soll Tag werden, denn wir sind noch
da.«
Draco blickte Harry lange an. Er streckte die Hand aus
und legte sie um Harrys Nacken.
»Ich danke dir«
Harry
schloss die Augen und langsam kamen ihre Lippen sich näher, bis sie
schliesslich die Wärme des anderen spüren konnten, gefolgt von
einer Welle ungeahnter Glückseeligkeit, denn wurde ihnen bewusst,
dass sie nicht alleine waren, nicht ganz.
Harry konnte nicht
sagen wie lange dieser Kuss gedauert hatte, doch als sie sich wieder
voneinander lösten war die Sonne schon halb hinter den Hügeln
verschwunden und das Land wurde immer dunkler, noch ein letztes Mal
durchdrungen von der Wärme des Tages, bevor die Unendlichkeit der
Nacht begann.
Draco erhob sich. »Ich weiss, Ginny hätte es
so gewollt«, sagte er leise. »Deine Zeit wird kommen«
»Es
tut mir leid« sagte Harry, doch Draco unterbrach ihn. »Es gibt
nichts mehr zu verzeihen, mein Freund. Dein Lied sei meines.«
»So
soll es sein.« sagte Harry und Draco nickte. »Vergiss dies nie,
mein Freund, ich werde warten.«
»Niemals« Mit diesen
Worten schritt Draco von Dannen, hinein in die letzten Strahlen der
untergehenden Sonne.
Seine Umrisse wurden noch einmal hell
erleuchtet, dann verschwand er, mit dem Wind, wie es schien, der
wieder zu wehen begann. Harry war nun wieder allein. Doch hatte er
begriffen.
Er kniete sich vor Ginnys Grab nieder und sprach:
»veritas in aeternitas«
Dann ging er davon. Der kalte
Wind liess die Kerzen erlöschen und tauchte die Welt in Dunkelheit.
