A Lion's Heart

Prologue

~Seventeen Years~

Jamie is over and where can I turn?

Covered with scars I did nothing to earn.

Maybe there's somewhere a lesson to learn.

And I'm still hurting."

The last 5 Years

Er warf den Blick nicht ohne Scheu zurück, auf die finsteren Mauern, umschlossen von weiteren Mauern, Stacheldraht und Flüchen. Es war wie eine Heimat, die er nun verließ. Nur brachte er die Gefühle, die er für dieses Gebäude hegte, in keinen Zusammenhang mit den positiven Gefühlen, die er für sein Zuhause oder für Hogwarts gehegt hatte.

Askaban wollte vieles sein, aber kein Zuhause. Er kannte nun die verschiedenen Wege, die Gänge, die Zellen. Er kannte die Gefangen, die Wärter, das Küchenpersonal sowie er einst die Schüler, die Lehrer und Elfen in Hogwarts gekannt hatte. Es war eine weitere Anstalt gewesen. Hatte Hogwarts ihm Werte und Wissen beizubringen versucht, so hatte Askaban ihm lediglich eine Sache eingeschärft: Man wurde bestraft. Letztendlich und unweigerlich wurde man Tag ein und Tag aus bestraft für das, was man war. Für das, was man getan hatte. Egal, was es war, egal, warum man es getan hatte.

Askaban lag hoch auf der Insel Catos, versteckt vor Muggelaugen in der westlichen Mitte der Nordsee. Eine magische Insel, geschaffen alleine dafür, zu bestrafen.

Sein Körper war müde, war es nicht mehr gewöhnt, so lange der Natur und ihren Mächten ausgesetzt zu sein. Er stand seit einer halben Stunde am Pier der Insel, je eine Wache rechts und links, die ihn flankierten, während sie auf das Boot warteten, was ihn fortbringen würde – für immer fort von dieser verfluchten Insel. Schon jetzt wusste er, der heulende Wind, die Trostlosigkeit und die raue wilde See würden ihn in seinen Träumen heimsuchen. Man vergaß gewisse Dinge nicht mehr.

Die eisige Brise und die Bitterkeit zerrten an seinen Mundwinkeln. Der Mantel, den er trug, gehörte ihm nicht. Die Sachen, in denen er nach Askaban gekommen war, waren längst vernichtet, dem Feuer zum Opfer gefallen. Er reiste ohne Gepäck, denn er war mit nichts gekommen. Besitztümer waren ihm fremd geworden. Er vermisste keinen Koffer in seiner Hand, wenn er, wie jetzt, auf Reisen ging.

Der dichte Bart in seinem Gesicht verbarg erfolgreich jede Mimik, jedes neue Gefühl, was er verspürte. Seine langen Haare peitschten ihm ins Gesicht, umwehten ihn wie langen Äste einer Trauerweide, und hier im Tageslicht bemerkte er, dass sie dunkler geworden waren. Die Sonne hatte sie in den letzten Jahren nicht bleichen können, denn hier schien keine Sonne. Catos war stets umgeben von grauen Sturmwolken. Die Insel des ewigen Regens wurde sie genannt. Es war eine weitere Form der Strafe. Die Sonne wurde den Gefangenen verwehrt.

Und durch die Desillusionierung brach plötzlich der Bug des Bootes, das sich schwankend der Insel näherte. Es hatte zu regnen begonnen, und kalte Tropfen fielen auf seinen Kopf. Aber er legte den Kopf in den Nacken, streckte sein Gesicht fast gierig dem Regen entgegen, denn den Regen hatte er seit Jahren nicht mehr auf seinem Gesicht gespürt.

Er beobachtete müßig, wie das Boot näher glitt. Ungeduld empfand er nicht mehr. Es war vielleicht die eine Tugend, die Askaban einen lehrte. Denn wenn man nicht lernte, geduldig zu sein, kamen einem die dunklen Jahre umso länger vor. Und das einzige, was man in Askaban hatte, war Zeit. Jede Menge Zeit.

Nach bestimmt einer Viertelstunde legte das Boot am Steg an. Zwei weitere Wärter – Externe wurden sie hier genannt – verließen als erste das Boot. Er erkannte zumindest einen von ihnen. Becket Bones war öfters die begleitende Wache der Rechtsmagier gewesen, die ihn hier verhört hatten. Die externen Wärter blieben nicht in Askaban. Sie konnten am Abend wieder abreisen, erledigten Dinge außerhalb des Gefängnisses. Nur die internen Wärter mussten auf der Insel wohnen. Zumindest unter der Woche. Es war ein eigener Kosmos auf der Insel. Ein konstruierter, trauriger Kosmos.

Dann stieg die dritte Person aus dem Boot. Den Trenchcoat fest um den Körper gewickelt, den Kragen hochgeschlagen. Er schien die See und das Wetter nicht gewöhnt zu sein, denn er wankte etwas im tosenden Wind, und seine wohl sonst streng gestriegelte Frisur gab sich den Naturgewalten hin. Er kam mit schnellen Schritten näher, Unbehagen in seiner ganzen Ausstrahlung.

„Malfoy", begrüßte Blaise Zabini ihn, wenn man es eine Begrüßung nennen wollte, stummer Schrecken auf den gesunden Zügen, gemischt mit Ekel und Abschätzung. Draco kannte diesen Blick. Er war diesen Blick gewöhnt. Mittlerweile nahm er an, es gab nur noch diesen Blick gegenüber seiner Erscheinung. Draco hatte ihn sofort erkannt, aber gleichzeitig sah er vollkommen anders aus. Älter. Erschreckenderweise wie sein Vater. Er sah den Hauch einer unverhohlenen Genugtuung auf Blaises Zügen. Als gönne er ihm genau das hier und mehr noch. Als wäre es schade, dass Draco entlassen wurde. Aber es war ihm gleichgültig, was Blaise dachte.

Er begrüßte ihn nicht, hatte verlernt, Konversation zu betreiben, genauso wie er verlernt hatte, sich auf Kleidung und äußere Erscheinung etwas einzubilden.

Kurz besprachen sich die Wachen, gingen mit Blaise den Ablauf durch, und Draco folgte dem Gespräch nicht wirklich. Er betrachtete das Boot vor sich, was nicht sonderlich stabil wirkte, aber wohl geeignet genug war, ihn fortzubringen.

Anscheinend war alles geklärt, denn schon trennten sich die Parteien, und seltsamerweise folgte er Blaise, ging nicht mehr zurück, musste nicht mehr in den undankbaren Mauern von Askaban verrotten. Langsam beschritt er den hölzernen Steg, genoss das Gefühl von etwas anderem als Stein unter seinen Füßen, die in alten Schuhen steckten, und erst als er sich unter Deck begab, sich auf die ausgediente Bank setzte und aus den schmierigen Bullaugen des Bootes zurück auf die Insel blickte, begannen sich die eisernen Bänder der Angst und Einsamkeit, die um sein Herz lagen, zu lockern.

Die Wachen setzten sich abermals rechts und links neben ihn, während Blaise ihm gegenüber Platz nahm, und seinen feinen Mantel fester um sich schlang. Anscheinend herrschte auf dem Festland anderes Wetter, nahm Draco dumpf an. Blaise wirkte minimal grün im Gesicht, schien den Seegang nicht zu vertragen, aber auch solche Empfindlichkeiten kannte Draco nicht mehr. Er hatte Blaise das letzte Mal kurz vor seiner Inhaftierung gesehen. Während seiner Haft hatte er keinen Besuch von ihm bekommen. Aber es wäre auch unwahrscheinlich gewesen, waren sie schon auf Hogwarts keine Freunde mehr gewesen.

Dass Blaise jetzt kam, um ihn abzuholen war… unangenehm. Ein Umstand, den er wohl der Tatsache schulden musste, dass Snape nicht mehr in der Lage war selber zukommen. Draco hatte von all den Plänen nur am Rande mitbekommen, war nicht einbezogen worden, und es scherte ihn tatsächlich wirklich kaum, wohin er verbracht wurde, solange er nicht zurück musste. Nur nicht mehr zurück.

Die Bootsfahrt verlief still, dauerte fast eine Stunde, wenn er richtig schätzte, und seine Gedanken verliefen planlos und wirr in seinem Kopf. Sein Körper war überwältigt von allein den Eindrücken, die das ranzige Boot ihm vermittelte, und sein Körper schien wie unter Schock zu stehen, bei dem Gefühl der seltsamen neuen Freiheit, die ihn überkam.

Blaise sprach nicht mit ihm. Draco wüsste auch nicht über was sie sprechen sollten. Es war ihm beinahe schleierhaft, dass Snape überhaupt in der Lage gewesen war, Blaise Zabini überzeugen zu können, ihn abzuholen. Es war schon seltsam genug, dass Snape ihn überhaupt aufnahm. Die Wellen schwappten gegen die gebogenen Wände des Bootes und waren für den Rest der Fahrt das einzige Geräusch, neben Blaises abgehackten Atemzügen.

Erst als das Boot gegen den nächsten Steg krachte, weil es sich wohl nicht sanft gegen die Strömung steuern ließ, spürte er erneute Angst. Angst vor der Welt, die ihn erwartete. Die Welt, die er seit siebzehn Jahren nicht gesehen hatte. Blaise verließ diesmal zuerst das Innere des Boots, konnte wohl kaum erwarten, festen Boden unter den Füßen zu haben. Die Wärter warteten, bis er sich erhob. Müde, als hätte er Wochen in einem Krankenhausbett gelegen, stand er schwach auf den Beinen.

„Sie sollten die Kapuze aufsetzen, Mr. Malfoy", sagte der externe Wärter, den er nicht kannte. Und Draco war kurz verblüfft. ‚Sie' und ‚Mr. Malfoy' – das waren Worte, Umgangsformen, die er nicht mehr kannte. Er war seit der Inhaftierung kaum gesiezt worden. Vielleicht noch der Form halber von Personen des Ministeriums, aber von den Wärtern innerhalb Askabans war selbst sein Nachname eine Seltenheit gewesen. Er hatte begonnen auf Worte wie „Abschaum!" und „Arschloch!" zu hören. Und das waren noch die besonders netten Namen, die er bekommen hatte. Er musterte die beiden Wärter kurz. Fast ohne jede Wertung sahen sie ihm entgegen. Becket Bones hatte sein Leben bei weitem nicht leichter gemacht, hinter den undankbaren Mauern von Askaban. Draco hätte ihm einiges zu sagen, aber er hatte gelernt, dass das Wort, das im Zorn gesprochen wurde, weniger Wirkung besaß als das kalte Schweigen, mit dem ihn die Wärter überwiegend gestraft hatten. Nichts schmerzte so sehr wie die endlose Stille, über all die Jahre, in denen man sich nach einem Gespräch gesehnt hatte.

Aber er war drüber weg. Schlicht und einfach drüber weg. Reden war Silber, wie man sagte. Und deshalb wanderte sein Blick genauso wertfrei über Becket Bones, wie dieser ihn betrachtete.

Mit einem Kopfrucken deutete die fremde Wache erneut auf seinen Mantel. Wenn man so wollte, war es eine weitere Tugend, die Askaban einen lehrte. Denn man lernte, Befehle zu befolgen. Nicht aus freien Stücken heraus, nein, es war wie eine Kondition. Man verlor den eigenen Willen, legte keinen Wert mehr auf eine Meinung. Er setzte in stoischer Bewegung die Kapuze auf, zog sie sich tief in die Stirn, und er nahm an, er wusste, warum.

Er wusste auch, die Angst log. Sie war eine feige Gegnerin, spielte ihm Dinge vor, wie in seinen schlimmsten Albträumen, zeigte ihm stets die böse Seite, und es hatte Nächte in Askaban gegeben, da war er fast gestorben vor Angst. Neunzehn Jahre alt und fast gestorben vor Angst. Er hatte Gespenster in jedem Schatten, in jedem Geräusch gesehen. Manchmal hatten sie ihn zwei Tage lang alleine gelassen. Allein in seinem Dreck, in völliger Dunkelheit, nur um ein wenig Gerechtigkeit zu üben. Und er war gestorben vor Angst.

Aber natürlich nicht wirklich. Er war nicht gestorben, er war nicht verhungert, er war nicht erfroren. Er war immer noch da. Das war das fiese an der Angst, nahm er an. Sie machte all ihre Drohungen nicht wahr. Und wenn er aufwachte, dann war er immer noch gefangen in seinen Albträumen.

Und seine Angst nahm an, der Tag seiner Entlassung konnte unmöglich an London vorübergehen. Nein, wahrscheinlich nicht, dachte er bitter, während er den Wachen folgte, sich abhärtete so gut es ging.

Wieder spürte er das Holz unter seinen Füßen. Das Holz eines neuen Stegs, aber er konzentrierte sich nicht darauf, denn Blitzlicht blendete ihn, Stimmen stürzten auf ihn ein.

„Kein Kommentar!", hörte er Becket Bones zu jedem Reporter sagen, der in seine Nähe kam, während bestimmt zehn Wachen die Massen an Schaulustigen auf knappem Abstand hielt. Draco musste die Stimmen nicht einmal wirklich ausblenden, denn er verstand sowieso nicht alle Worte auf einmal, alle Vorwürfe auf einmal, alle Beleidigungen auf einmal. Seine selektive Wahrnehmung war es nicht mehr gewöhnt, aktiv zuzuhören, denn seit siebzehn Jahren hatte niemand mehr mit ihm tatsächlich sprechen wollen.

Böse Worte konnten ihn nicht mehr treffen. Askaban härtete einen in der Hinsicht ab. Es war nicht so, dass man eine Benimm-Schule voller höflicher Gefangener besuchte. Es war der allgemeine raue Umgangston, und wenn man sich jede Beleidigung, jeden bissigen Kommentar zu Herzen nehmen wollte, konnte man sich direkt in der Toilettenschüssel ertränken.

Der Weg kam ihm trotzdem anstrengend und länger vor, als er tatsächlich war. Eine Kutsche wurde von weiteren Wächtern abgeschirmt, so dass er einsteigen konnte.

Blaise saß bereits in der Kutsche, sichtlich schockiert, und sein gehetzter Blick verriet Draco deutlich seinen Hass ihm gegenüber.

Seinen Trenchcoat hatte er zerknüllt neben sich geworfen und fuhr sich mit Zeigefinger durch seinen engen Hemdkragen, um ihn zu lockern. Er schwitzte leicht, während Draco innerlich erfror. Die Kälte der Zelle steckte ihm noch tief in den Gliedern. Blaise trug einen dunklen Anzug. Er wirkte offiziell, sauber, glatt. Draco nahm an, er arbeitete im Ministerium, wie alle Verräter es taten. Seine Krawatte war lachsfarben und wirkte lächerlich einsam über dem dunklen Hemd und dem schwarzen Jackett. Sofort schien Blaises geübter Griff seine Frisur zu richten, und Draco erkannte eine penible Ordnung hinter Blaises Körpersprache. Er erinnerte sich dunkel daran, als sie noch zur Schule gingen. Blaise hatte seine Federn nach Stärke und Größe geordnet.

Neben ihm lag eine Ausgabe des Tagespropheten. Dracos Blick verfing sich unbewusst an den bewegten Bildern. Er war sich nicht sicher, ob er Blaise um die Zeitung bitten konnte oder ob dieser dann einen nervösen Zusammenbruch bekam. Draco hatte gelernt, die menschliche Körpersprache zu lesen. Es war wichtig, wenn man verhindern wollte, von den Gefangen zusammengeschlagen zu werden. Wenn man es denn verhindern wollte. Und Blaises Ausstrahlung machte ihm eine Sache sehr klar – der Mann ihm gegenüber verabscheute ihn. Mehr noch als das. Er war tief in den Sitz zurückgewichen, hatte so viel Abstand, wie in einer Kutsche nur möglich war, zwischen sich und ihn gebracht, und Draco sah davon ab, Blaise nach der Zeitung zu fragen. Er sah davon ab, überhaupt ein Wort mit ihm zu sprechen.

Er musste nicht sprechen, wenn er nicht wollte. Er konnte monatelang ohne ein einziges Wort auskommen. Er war ein Mönch geworden, wie die Muggel es nannten. Zölibat, Abstinenz, Gelübde. Die Worte sagten ihm etwas, vermittelten wohl gut genug, was er mittlerweile war, aber er glaubte, genug über das muggelartige Mönchstum zu wissen, um behaupten zu können, dass diese Männer ihre Freizügigkeit und ihre Freiheit freiwillig aufgaben und aller Laster und Süchten entsagten, allein aus einem religiösen Antrieb.

Diesen Luxus des freiwilligen Verzichts hatte er nie kennengelernt.

Es musste ein Luxus sein, den man sich erlauben konnte, wenn man etwas mehr liebte als sich selbst, sich etwas höherem verschrieben hatte, als seinen irdischen Werten. Wieder zuckte Bitterkeit über sein Gesicht. Es war ein Schmerz, den er gelernt hatte, zu ertragen, sei es auch nur, mit der eventuellen Aussicht auf Rache. In welcher unbestimmten Form er auch den Wunsch danach verspürte, war unerheblich, aber er wusste, dieser Gedanke hatte ihm die längsten, dunkelsten Stunden erleichtert, hatte es fast erträglich gemacht, Nacht für Nacht von der tosenden Brandung wachgehalten worden zu sein, während er ihr Gesicht vor seinem inneren Auge gesehen hatte.

Die Landschaft rauschte an der Kutsche vorbei, während die Thestrale mit der Desillusionierung verschmolzen waren und die Kutsche in manischem Tempo vorantrugen. Er konnte einzelne Straßen nicht ausmachen, konnte nicht sagen, wie viele Orte sie hinter sich ließen, aber sie erreichten Surrey nach gefühlten zwanzig Minuten, und in Little Whinging wurde die Kutsche langsamer. Es war eine reine Muggelgegend, und Dracos Blick wanderte abwesend wie in einem unwirklichen Traum über die Häuser, die Gartenzäune, die glänzenden Autos, die wie unermessliche Errungenschaften in Vorgärten oder Garagen präsentiert wurden.

Die Bewohner stutzten ihr Gras in mühsamer Kleinstarbeit, ohne durch die Desillusionierung der Kutsche blicken zu können. Muggel. Aber selbst eine Aussicht dieser Art ließ seinen Atem stocken. Andere Menschen. Echte Menschen. In einer Welt, die er nicht mehr kannte.

Und irgendwann hielten sie. Es war eine kleine Straße, eine Sackgasse, gesäumt von Lindenbäumen, die allmählich ihr Laub einbüßten. Draco blickte aus dem Fenster in stiller Ehrfurcht an den prächtigen Bäumen empor. Ein echter Baum. Sanft segelten die Blätter gen Boden, und erst als Blaise sich unmissverständlich räusperte, schreckte Draco aus seiner Starre und öffnete mit eingerosteten Bewegungen die Tür der Kutsche.

Er stieg vorsichtig ins Freie, und verschloss die Augen vor dem grellen Licht der leicht bewölkten Sonne. Es brannte unangenehm fremd in seinen Augen. Blaise ging voran, ließ ihm keine andere Wahl, als ihm zu folgen, und Draco spürte die Kraft, die es ihn kostete, lange Strecken zu laufen. Lang waren sie bei weitem nicht, aber sie maßen ein Tausendfaches an den Schritten, mit denen er seine Zelle durchqueren konnte. Noch hatte er sich nicht gewöhnt an den Gedanken, heute Abend nicht doch wieder zurückzumüssen. In seine Zelle, seine Heimat der letzten siebzehn Jahre. Einzelhaft. Denn das war es, was die Schwerverbrecher bekamen.

Er schüttelte sanft den Kopf, versuchte, seine Gedanken neu zu ordnen, aber es fiel ihm schwer. Blaise durchschritt einen kleinen Vorgarten, und Draco lehnte das baufällige Gartentor an den morschen Zaun zurück, als er ihm folgte. Ihm fiel auf, dass seine Finger nahezu schwarz vor Dreck waren.

Sie blieben vor zwei schmalen Eichenholztüren stehen, und Blaise klopfte laut gegen das Holz.

Dann trat er einen Schritt zurück, und langsam näherten sich Schritte. Einer war lauter als der andere. Tapp, Klonk, Tapp, Klonk. Dann öffnete sich die Tür. Dracos Augen sogen den Anblick auf. Er hatte seit der Bootsfahrt die Kapuze nicht aus dem Gesicht gezogen und verspürte auch jetzt nicht unbedingt den Drang, es zu tun. Snape stand vor ihm, hundert Jahre älter, als seine Erinnerung es ihm vorgespielt hatte, und die Falten auf seiner Stirn legten sich unwillkürlich, als er ihre Erscheinungen einordnete.

Sein Haar war weiß und er trug es kürzer, als Draco es in Erinnerung hatte. Seine Haare waren nicht schüttern, aber sie machten ihn gleich noch mal zehn Jahre älter. Altersflecken zeichneten sich überall auf seiner Haut ab. Nur seine Augen waren noch immer so stechend dunkel, so anklagend und durchleuchtend wie sie es immer gewesen waren. Draco fühlte sich unwohl unter Snapes Blick. Sehr unwohl.

Noch immer stützte er sich auf seinen Stock, aber heute tat er es schwerer, als noch vor siebzehn Jahren.

Nach einem kurzen Moment der Stille wandte Snape sich an Blaise.

„Danke, Blaise. Möchtest du noch reinkommen, bevor-?"

„-nein. Ich werde direkt apparieren", unterbrach Blaise ihn praktisch sofort, als könne er es nicht abwarten, zu verschwinden.

„Ich setze mich mit dir in Verbindung", entgegnete Snape anschließend. Blaise verabschiedete sich nicht von ihm, Draco. Aber er konnte nicht behaupten, dass er darauf wertlegte. Dann waren sie allein. Draco war es nicht gewöhnt, irgendwo alleine zu sein, war er doch auf Schritt und Tritt verfolgt worden, hatte nicht einmal alleine duschen können, in den letzten siebzehn Jahren. Und mit ‚alleine' meinte er kaum die Einsamkeit in der Zelle. Nein. Allein sein. Tun können, was man wollte. Er erinnerte sich nicht mehr daran.

„Komm rein", sagte Snape schließlich, trat zur Seite, stützte sich schwer auf seinen Krückstock, und ließ Draco eintreten.

Draco war noch niemals hier gewesen. Wenn er seine schmale Erinnerung durchsuchte, dann musste er annehmen, dass es sich um das Haus von Snapes Eltern handelte. Draco hatte sich Snape nie woanders vorgestellt als in den Kellern von Hogwarts. Aber Snape war nicht mehr Schulleiter. Snape war pensioniert. So viel hatte Draco mitbekommen, als über seine Zukunft verhandelt worden war. Dracos Ohren vernahmen ein eigentümliches Geräusch. Es war ein regelmäßiges Ticken. Es rührte tatsächlich von einer Standuhr. Verblüfft betrachtete Draco das Monstrum aus Massivholz, während das Pendel sanft von rechts nach links schwang. Zeit. Was für ein Konzept, dachte er ehrfürchtig. Es war viertel nach zwei, nachmittags. Eine Uhr hatte er so viele Jahre nicht mehr gesehen. Er hatte verlernt, was Pünktlichkeit war. Überhaupt hatte Zeit keine Relevanz mehr für ihn.

Und er konnte nicht sagen, ob er fünf Minuten reglos im Flur gestanden hatte oder fünfzig. Snapes Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

„Möchtest du einen Tee?" Die Frage war so altertümlich, so völlig entrückt von Dracos Wahrnehmung, dass er tatsächlich nicht verhindern konnte, dass seine Mundwinkel sich schrecklich verzerren mussten, als er tatsächlich lächelte. Nicht, dass Snape es durch den massigen Bart sehen könnte. Das war er bestimmt zwanzig Jahre nicht mehr gefragt worden. Jetzt gerade konnte er nicht mal behaupten, dass er noch wisse, wie Tee schmeckte.

Alleine die Tatsache, dass ihm jemand eine Frage stellte, die er ohne Aussicht auf Sanktionen mit ‚Ja' beantworten konnte, trieb ihm augenblicklich die Tränen in die Augen. Es war ein Wirbelsturm von Gefühlen, die von seinem Körper Besitz genommen hatten, dass er sich benommen über die Augen fuhr, als Tränen auf seine Wangen fielen. Er weinte stumm, während er nicht verhindern konnte, sich gegen die rettende Wand zu lehnen. Wahrscheinlich wäre er sonst ohnmächtig geworden.

Die Freiheit, das zu tun, was er tun wollte, war… ein unbeschreibliches Gefühl.

Und Snape rührte sich nicht. Und Draco fing sich nach einigen Minuten, wischte sich noch einmal über das Gesicht, und Snape schien nicht verwundert oder bestürzt zu sein. Zumindest ließ er sich nichts anmerken, hob lediglich die Hand und deutete auf das nächste vom Flur entfernte Zimmer. Draco erkannte so viele Habseligkeiten, wie er sie sich schon lange nicht mehr vorgestellt hatte. All das gehörte Snape. Überhaupt mehr zu besitzen als man am Körper trug, war für Draco zu einem unverständlichen Konzept geworden. Bilderrahmen mit unbekannten Gesichtern reihten sich den Flur entlang, auf Kommoden und in Regalen.

Er setzte sich stumm an den ihm zugewiesenen Platz in der Küche. Der Tee war bereits aufgebrüht, und abwesend fuhren seine schmutzigen Hände über das schöne Holz des Tisches in der Küche. Es war echtes Holz. Echtes Holz hatte er lange nicht mehr unter seinen Händen gespürt. Seine Augen brannten noch von den Tränen, aber immerhin weinte er nicht mehr.

„Du… kannst den Mantel ausziehen, wenn du willst", sagte Snape dann neutral. Er trug noch immer den Mantel. Es war ihm kaum aufgefallen. Er zog die Kapuze vom Kopf, schälte sich aus den zu weiten Ärmeln und fühlte sich plötzlich mächtig nackt ohne den Schutz des Mantels. Der schmutzig beige Pullover, den er trug, war mit Löchern übersät und die Ärmel waren ausgefranst. Im Dunkel seiner Zelle hatte er kaum die Farbe ausmachen können. Er sah sich unbewusst um. Aber sie waren allein in der Küche.

Snape setzte sich ihm gegenüber, schob ihm die Tasse über den Tisch, und Draco erkannte, dass es eine Slytherin-Tasse war. Verblichen um das Wappen, aber… er erkannte es deutlich. Dampf stieg aus dem Becher empor, und dieser Geruch…? War es… Earl Grey? Draco konnte sich fast schon nicht mehr erinnern. Ohne es verhindern zu können, starrte er mit Neugierde in den Becher hinab, atmete den unbekannten Duft tief ein, und spürte wie sich sein müder Körper unwillkürlich wie durch einen Zauber ein wenig entspannte.

„Du musst nicht sprechen, wenn du nicht willst", fuhr Snape fort und trank einen Schluck Tee. Draco beobachtete ihn, konnte kaum glauben, dass er selber gleich ebenfalls Tee trinken würde. Es war natürlich eine Kleinigkeit nahm er an, aber eine Kleinigkeit, die man siebzehn Jahre nicht hatte tun dürfen, gewann dementsprechend um Erheblichkeit. Und es war ihm gar nicht aufgefallen, dass er noch nicht gesprochen hatte.

Es hatte niemand mehr auf seine Worte wertgelegt. Es war egal geworden, ob er gesprochen oder geschwiegen hatte. Ob er weinte oder still dasaß. Sein Verhalten hatte keine Konsequenzen mehr auf irgendetwas gehabt. Diese Erkenntnis hatte ihn Jahre der Einsamkeit gekostet und war etwas, was er wohl so schnell nicht würde ändern können. Er räusperte sich, fast verlegen. Er wusste nicht einmal was er sagen sollte, ob er überhaupt noch sprechen konnte, aber er schluckte und sein Mund formte ein einziges Wort –

„-Danke", raspelte seine Stimme fast tonlos, die er weder regelmäßig gebrauchte, noch dazu gebrauchte, um sich bei irgendwem zu bedanken. Es war das erste Wort, das er heute sprach, und es schien kein Wort zu sein, was Snape gerne hörte.

„Es ist nur temporär", sagte der Mann ihm gegenüber, mit unverkennbarer Abwehr in den Worten. Und genauso wenig wie Blaise mit ihm in Verbindung gebracht werden wollte, schien Snape es zu wollen. Draco senkte den Blick auf die Tischplatte. Natürlich nicht.

Fast hatte er es für eine halbe Sekunde vergessen, weil die neuen Eindrücke von ihm Besitz ergriffen hatten, aber niemand wollte mit ihm in Verbindung gebracht werden. Niemand.

Und das war namentlich auch der Grund, weshalb er keinen Ort hatte, an den er gehen konnte. Es war ein furchtbares Gefühl, Askaban als Heimat zu bezeichnen, aber immerhin war dies ein Ort gewesen, an den er tatsächlich gehörte. Jetzt gab es keinen Ort mehr an den er gehörte. Und niemand wollte ihn irgendwo haben.

Und er wusste, Malfoy Manor war vor über einem Jahrzehnt verkauft worden, weil Lucius' Verfahren einiges an Gold verschlungen hatte. Unzählige Millionen waren darauf verschwendet worden, Lucius ein ordentliches Verfahren zu verschaffen, was letztendlich doch im Kuss der Dementoren gegipfelt war. Der Rest, den das Herrenhaus abgeworfen hatte – die ganzen 80 Millionen – waren von seiner Mutter blind in das Unterfangen gesteckt worden, dass ihn, Draco, nicht dasselbe Schicksal ereilte. Das Vermögen der Malfoys war dafür draufgegangen, ihm nicht seine wohlverdiente Todesstrafe zu gönnen.

Das ursprüngliche Urteil hatte sich auf 25 Jahre Haft und anschließendem Kuss belaufen, war dann über die Jahre herabgesetzt worden, durch unzählige schamlose ‚Spenden' seiner Mutter.

Endlose neue Verhandlungen hatten stattgefunden, und seine Mutter hatte das Ministerium in den Wahnsinn getrieben. Draco hatte sich einlassen müssen auf grausame Torturen, hatte seinen Körper zur Verfügung stellen müssen, um magisch-psychische Strafen zu erdulden, nachdem sich sein Geist gegen das Veritaserum verschlossen hatte, und das Ministerium nicht weiter gekommen war. Vom Kuss der Dementoren wurde abgesehen, als er nach fünf Jahren keine Probleme mehr machte. Als er keine Schlägereien mehr anfing, als er stumm und klaglos alle Methoden des Ministeriums über sich ergehen ließ.

Als er reumütig wurde, als er anfing, die demütigen Arbeiten zu übernehmen, gegen die sich die Gefangen beharrlich sträubten, war seine Haft weiter herabgesetzt worden.

Und alles war kaum von Bedeutung. Draco hatte sich so oft gewünscht, die Dementoren würden kommen, würden ihm die letzte Ehre erweisen, und es war seine Wunschvorstellung geworden, mit den anderen Namenlosen in den Massengräbern von Askaban in Vergessenheit zu geraten, nachdem ihn der Wahnsinn nach dem Kuss in den Tod geschickt hätte. Er hatte danach gefragt, hatte nach dem Kuss verlangt, und die Wachen hatten es als Reue gewertet. Ein Fehler ihrerseits.

Es war das winzige Quantum, was die Waagschale nicht zu seinem Verhängnis zum Kippen gebracht hatte. Denn nichts zerstört die Seele so wie Schuld.

Und das war der einzige Grund, warum er noch lebte. Es war der feine Unterschied, der seinen Zellennachbarn den sicheren Tod bescherte, und Draco hatte es schnell herausgefunden. Bereute man seine Taten, brachte die Schuld einen um. Die logische Konsequenz war demnach nur die eine: Nicht einen Tag hatte er seine Handlung bereut. Und seltsamerweise schien ihm das sein Leben gerettet zu haben. Seine Züge versteiften sich unwillkürlich.

Er hob den Blick, und er wusste, Snape verbarg seinen Abscheu bloß besser als all die anderen. Sein Blick glitt hinüber zur Spüle, und langsam erhob er sich, ohne ein Geräusch zu machen. Seine Hand griff nach einem umgedrehten Wasserglas, was neben der Spüle stand. Glas… So etwas hatte er lange nicht mehr berührt. Er drehte den Hahn auf und füllte das Glas mit klarem Wasser. Es waren simple Bewegungen, die man nicht verlernte.

Er kehrte zurück an den Tisch, setzte sich auf den Stuhl und trank. Er wollte das kostbare Geschenk in Form einer Tasse Tee von Snape nicht annehmen. Er nahm an, Snape glaubte nicht, dass er es verdiente, und er hatte das Denken der Menschen bereits übernommen, glaubte ebenfalls nicht, dass er so etwas wie Tee verdiente. Und er hatte es nicht vermisst. Er kam ohne Tee aus. Er hatte wenig vermisst, in all der Zeit. Askaban zeigte einem sehr deutlich den Unterschied zwischen den Dingen, die man brauchte und den Dingen, die absolut überflüssig waren.

Und er hatte gelernt, er brauchte zwei Dinge. Nicht mehr und nicht weniger. Wasser und Hoffnung. Und es war egal, welche Art von Hoffnung es war. Er hatte keine Hoffnung darauf, von den Menschen Vergebung zu erlangen. Er hatte keine Hoffnung darauf, von irgendwem akzeptiert zu werden. Er machte sich keine Hoffnungen, dass irgendwer verstand. Aber er hegte die Hoffnung, dass er seine Handlung nicht bereuen musste.

Und das war alles. Das war alles an abstrakter Hoffnung, was er noch brauchte.

Und jetzt war er hier, denn er hatte nichts mehr. Er hatte kein Zuhause mehr, in das er gehen konnte. Er hatte keine Heimat mehr, keine Freunde. Er hatte gar nichts mehr. Lucius war vor über zwölf Jahren gestorben. Er war nicht einmal dabei gewesen, hatte nicht dabei sein dürfen, als sie Lucius' Körper verbrannt und bestattet hatten. Er hatte nur den Rauch des Krematoriums aus dem Fenster seiner Zelle erkannt, während er stumme Tränen geweint hatte. Seine Mutter war vor einigen Jahren verstorben. Auch ihre Beerdigung hatte er natürlich nicht besuchen dürfen. Sie hatte begonnen zu trinken, nachdem Lucius den Kuss erhalten und als leere Hülle noch ein weiteres Jahr in Askaban in seiner Zelle dem Tod entgegen vegetiert hatte. Sie war nicht mehr zu den seltenen Besuchertagen der Schwerverbrecher erschienen.

Er nahm an, sie hatte ihm und Lucius ihr Leid vorgeworfen, und Draco konnte es ihr nicht einmal verdenken. Sie hatten das Leben seiner Mutter zerstört, hatten sie in die Armut getrieben, und was ihr blieb, war wohl nur der Alkohol gewesen. Er nahm an, sie war daran gestorben. Er hatte keine Informationen erhalten. Nur während einer Verhandlung war das Thema gefallen. Niemand hatte sich mit ihm darüber auseinander gesetzt. Es war ein lästiges Hindernis, weil er dann zum Tage seiner Entlassung keine Verwandtschaft mehr hatte, die sich seiner annehmen konnte. Der Malfoy-Besitz war verkauft worden, die Konten in Gringotts bereits geschlossen und alles Gold verbraucht.

Es hatte sich also jemand finden müssen, der sich seiner annahm, und er hatte angenommen, auf der ganzen magischen Welt würde es niemanden geben, der sich seiner annehmen würde.

„Im Rahmen deiner Eingliederung wird sich eine Unterkunft für dich finden lassen", vernahm er Snapes Stimme wie durch einen Nebel hindurch. Er war es so sehr gewöhnt, mit sich selbst und seinen Gedanken alleine zu sein, dass er immer wieder vergaß, dass er jetzt nicht mehr alleine war. Er hob den Blick.

Er hatte daran gedacht. Er sollte also tatsächlich eingegliedert werden? Er nahm an, er musste seine Gedanken in überflüssige Worte fassen. Wahrscheinlich waren es Menschen wie Snape gewöhnt, dass man mit ihnen kommunizierte. Es war schwer für Draco. Es war schwer, zu vermitteln, was er sagen wollte. Er nahm mittlerweile Informationen auf, bewertete für sich, was er daraus für sich umsetzte und das war es dann.

„Wann?", krächzte seine Stimme unzusammenhängend, und er besann sich auf weitere Worte. „Wann wird… diese Eingliederung sein?" Er erkannte jetzt schon, dass seine Stimme heiser sein würde, denn das waren mehr Worte, als er an ganzen Tagen gesprochen hatte. Er klang, als hätte er das sprechen erst heute gelernt, fiel ihm auf.

„Bald", sagte Snape vage. „Sehr bald", konkretisierte er wohl den Wunsch, ihn schnell loszuwerden.

„Und wo?" Draco musste für sich den Wert dieser Information erfassen, und ob er sich darauf einrichten musste, von einem wütenden Mob letztendlich doch noch auf offener Straße hingerichtet zu werden. Snape atmete schließlich aus.

„Sie werden dich bestimmt nicht bei ‚Flourish und Blotts' hinter die Kasse stellen", erwiderte Snape schließlich, und Draco brauchte bestimmt eine Minute, um den Sarkasmus hinter den Worten zu entdecken. Anscheinend hatte Snape seine Sorge erkannt, allerdings wusste Draco nichts mehr mit Sarkasmus anzufangen.

„Das war Humor", stellte er dennoch leise fest, fast anerkennend, mit so absolut fremder Stimme, die er selber nicht mal mehr erkannte und war innerlich stolz, etwas Subtiles wie Humor überhaupt noch erkennen zu können. Und Snape schloss für einen Moment die Augen, fuhr sich über die Stirn, ehe er laut seufzte.

„Ja, das war Humor, Draco", erwiderte er, mit erschütterter Verwunderung und grenzenloser Bestürzung auf seinem zerfurchten Gesicht, während er ungläubig den Kopf schüttelte. Und Draco konnte es nicht wirklich benennen, aber ein wenig von dem Eis, was Snapes Augen erfasste, wann immer er ihn ansah, schien zu schmelzen. Nicht viel, aber… ein wenig.

„Was hältst du davon, ein Bad zu nehmen, vor dem Essen?"

Wieder verschwamm Dracos Blick vor seinen Augen.

Und dieses Mal hörte er, wie Snape aufstand, als Draco unkontrollierte Tränen weinte, das Gesicht in seinen schmutzigen, mageren Händen verbarg, allein, weil ein solcher Satz schon Gefühle von solcher Stärke in ihm auslöste, ihn erinnerte an eine längst vergessene Welt, im Vergleich zu der Hölle, die er jetzt sein Leben nannte. Und er spürte, wie Snape die Hand auf seine Schulter legte und sanften Druck mit seinen Fingern ausübte. Mehr Körpernähe schien Snape nicht aufbringen zu wollen, aber selbst das war schon zu viel für Draco. Es war mehr Nähe, als er in den letzten siebzehn Jahren erfahren hatte.

Steif löste Snape die Hand von seiner Schulter, und Draco schämte sich über all die Tränen, die er weinte. Er kam sich vor wie ein geschundener Hauself, dem man Kleidung anbat. Es war nicht mal besondere Dankbarkeit ob einer Tasse Tee oder ob der Aussicht auf ein heißes Bad – es war allein die Tatsache, dass es jemanden auf der Welt gab, der ihm die Aussicht tatsächlich anbot. Es musste nicht einmal wahr sein, aber… allein die Geste war… etwas, was Draco nicht mehr kannte.

Er erhob sich müde und wusste, er würde in einem heißen Bad bestimmt einschlafen, vielleicht auch ertrinken. Aber es war ihm egal. Wenn es sein letztes Bad auf dieser Erde wäre, er würde diese Erfahrung nach siebzehn Jahren eiskalter Gemeinschaftsduschen gerne noch machen.

Er glaubte, der stumme Hass umgab Snape immer noch. Draco nahm an, ohne Snapes Gnade würde er jetzt im Ministeriumsgewahrsam sitzen müssen, und er nahm an, Tee oder heiße Bäder waren dort ebenso Fremdworte, wie sie es in Askaban waren.

Er machte keinem einen Vorwurf, der ihn hasste. Es kümmerte ihn nicht mehr, denn sie hassten ihn alle. Die Alten wie die Jungen, ob dumm oder weise. Wenn er ehrlich war, dann hatte er allerdings fest damit gerechnet, diesen Hass nicht mehr außerhalb von Askaban erleben zu müssen. Er hatte gehofft, nach siebzehn Jahren längst tot zu sein. Aber leider schien nicht einmal das Schicksal ihm diesen Wunsch gewähren zu wollen. Er war noch hier. Und unfassbarerweise war er frei. So frei wie ein Schwerverbrecher frei sein konnte, nahm er träge an.

Er glaubte nicht an Vergebung. Er glaubte an gar nichts mehr.

Er hatte nichts mehr zu erzählen. Das brauchte er auch nicht mehr. Seine Geschichte sprach für sich. Er hatte es nicht gewollt, er hatte nicht darum gebeten. Es war alles so gekommen, wie es hatte kommen müssen. Er hegte keinen Groll mehr. Gegen niemanden mehr. Zuerst hatte er sie alle verteufelt, hatte ihnen die Schuld gegeben an all den Dingen, die passiert waren. Aber… die Zeit hat es an sich, dass man lernt, nicht anderen die Schuld zu geben. Denn wahrscheinlich hatte niemand Schuld. So musste es wohl sein.

Doch immer, wenn er an die anderen dachte, dann dachte er an sie. Er hatte so oft an sie gedacht. Hatte ihr Gesicht so oft vor sich gesehen, während er Nacht für Nacht auf der harten Pritsche in seiner Zelle gelegen hatte, ohne zu schlafen. Als der Strafrichter vor dem Ministeriumsgericht die Frage gestellt hatte, ob es irgendjemanden gäbe, der etwas zu seiner Entlastung vorbringen wolle, war sie nicht da gewesen. Sie war nicht zu seiner öffentlichen Verhandlung gekommen. Und hätte er auch nur geahnt, dass dieser Tag sein letzter Tag in Freiheit gewesen war, dann er hätte er damals etwas anderes zu ihr gesagt, als sie sich das letzte Mal im Südturm getroffen hatten. Dann wären seine letzten Worte ihr gegenüber nicht feige und oberflächlich gewesen. Dann hätte er sich ihr Gesicht besser eingeprägt, den Klang ihrer Stimme, ihre Augen, ihre Lippen – alles an ihr. Hätte er gewusst, dass er sie nie wieder sehen würde, dann hätte er sich entschuldigt.

Aber das hatte er nicht. Er war ein Arschloch gewesen.

Und mit vollem Ausmaß hatte er das Urteil bekommen, was das magische Volk in blinder Vergeltung gewählt hatte.

Im Namen des Volkes… - Lebenslange Haftstrafe mit anschließendem Kuss der Dementoren.

Die Todeshaft für Draco Malfoy, wegen Mordes an Harry James Potter.

Und er hatte sich gefragt, wann der Minister sprechen würde. Wann er an den Richter treten würde, um dieses Urteil endlich zu entkräften, während eine wilde Menschenmasse vor den Toren des Saals nach Vergeltung schrie. Und an diesem Tag hatte Draco eine wichtige Lektion gelernt.

Die magische Justiz hatte nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Und er hatte sich gewehrt, Merlin, was hatte er sich gegen die magischen Fesseln gewehrt. Er hatte getobt und geschrien, und als er grob in die vergitterte Kutsche geworfen worden war, war der Minister nahe an das Gitter getreten, und Draco hatte dieses verborgene Lächeln, still und böse, nie mehr vergessen. Dracos Finger hatten sich blutig und steif um die Eisenstäbe des Kutschenfensters geschlossen, und er hatte Coldwell völlig verzweifelt angesehen, mit der letzten blinden Hoffnung, dass es nur ein schrecklicher Albtraum war. Mittlerweile nahm Draco an, war es töricht von ihm gewesen, dem Minister zu vertrauen.

Und die leisen Worte des Mannes hatten ihn Jahre verfolgt.

Und das hier ist dein Platz in dieser Gesellschaft, Malfoy. Vergiss das nicht.'

Träge wanderten seine Gedanken ab und an zu diesem Tag zurück. An ihm wurde ein Exempel statuiert. Er war nur eine winzige Schachfigur gewesen, die im Sinne des gewonnenen Kriegs hatte geopfert werden müssen. Und Dracos Wahrheit musste der guten Seite verdammt unangenehm gewesen sein. Er war jung gewesen und hatte noch nicht begriffen, dass die Gerechtigkeit für jemanden wie ihn nicht so funktionierte wie für andere Menschen. Als er sich Coldwell anvertraut hatte, hatte nie die Aussicht auf eine faire Chance bestanden. Er nahm an, er war das Beste gewesen, was dem Minister hatte passieren können. Denn dank ihm, hatten zweihundert weitere ehemalige Todesser einen schnellen Tod gefunden, weil er bewiesen hatte, dass sie alle gemeingefährliche Mörder waren. Wenn das keine Leistung war.

Manchmal zweifelte Draco selber an seiner Erinnerung. An seinem guten Grund. Er nahm an, Coldwell hatte seinen Entlastungsbeweis so schnell wie möglich im Kamin verbrannt.

Die Kälte der Ironie hinter all dem erfüllte ihn. Nur manchmal, in dunklen Stunden voller Selbstzweifel und Einsamkeit. In den übrigen Stunden machte sich die stumme Gleichgültigkeit breit.

Und damals hatte er eine wichtige Entscheidung treffen müssen, als er begriffen hatte, dass die Jahre vergehen würden, dass er niemals wieder die Sonne oder ihr Gesicht erblicken würde. Und er entschied sich dafür, nicht zu bereuen, was er getan hatte. Er entschied sich, das verdammte Versprechen, was er abgelegt hatte, zu halten. Auch wenn es unmöglich geworden war, hinter den Mauern von Askaban. Er hatte sein Wort gegeben.

Und an diesen Gedanken hatte er sich geklammert, bis der Schmerz der Ungerechtigkeit, bis die Angst, der Zorn und der Verlust seiner Freiheit, ihn nicht mehr gerührt hatten. Ihn nicht mehr dazu gebracht hatten, gegen die rauen Steinwände der Zelle zu schlagen, bis seine Fäuste blutig waren. Bis er nicht mehr blind vor Wut auf andere Gefangene losgestürmt war, um sie bewusstlos zu prügeln, weil sie alle dachten, er wäre kaltblütig und gewissenlos und böse. Böse… wie alle Todesser! Wie jeder Todesser….

Die Stille dröhnte in seinen Gedanken, während er nicht gemerkt hatte, dass er stehen geblieben war und Snape ihn musterte.

Mittlerweile war es egal geworden. All diese Dinge. All diese Gedanken. All die Menschen.

Er hatte alles vergessen, was einst wichtig war. Und die Menschen hatten ihn vergessen.

Es gab nicht viel, was ihn berühren konnte. Nahezu gar nichts mehr.

Aber seine zusammenhanglosen und tristen Gedanken wurden kurz verdrängt, als er etwas aus dem Augenwinkel gewahr wurde, was seine Aufmerksamkeit tatsächlich erregte.

Ziellos machte er einige Schritte in den Raum hinein. Tief atmete er den Geruch ein, den er schon nicht mehr kannte. Snape blieb im Türrahmen stehen und beobachtete ihn, während Draco langsame Schritte auf das riesige Regal zumachte, was die gesamte Wand ausmaß. Er hob seine bleichen, schwachen Hände, und zitternd breitete er seine gespreizten Finger über die vielen Buchrücken aus.

Er spürte Stoff- und Ledereinbände unter seinen Fingerspitzen, und verschwommen lasen seine Augen die Titel, einfach, um sie zu lesen, denn ein geschriebenes Wort auf Papier hatte er ebenfalls seit der Inhaftierung nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Es gab keine Bücher in Askaban. Zumindest nicht im Trakt der Schwerverbrecher.

Bücher…. Draco hatte ganz vergessen, dass es sie gab. Er las alle möglichen Titel über Architektur, Trollkriege und seine Augen verfingen sich an einem besonders vergilbten Titel der ‚Geschichte von Hogwarts'. Wieder spürte er Tränen in den Augen, und noch einmal atmete er tief den ureigenen Geruch der Bücher ein.

„Du kannst dir später ein Buch aussuchen", unterbrach Snape seine Offenbarung, und Draco wusste, hatte er damals wenig Geduld für die Kunst des Lesens besessen, so hatte er mittlerweile zumindest diese Tugend verinnerlicht. Mit einem schwachen Lächeln wandte er sich ab, und seine Gedanken sponnen bereits Geschichten und Worte zusammen, die er lesen würde, während seine Finger mit Genugtuung weiche Seiten umblättern würden.

Beinahe eine keusche Vorfreude, aber Draco konnte sich kaum etwas Besseres vorstellen, während er mit müden Schritten Snape die Treppe nach oben folgte. Er spürte den weichen Teppich unter seinen Füßen. Er konnte sich gerade so davon abhalten, sich auf die Stufen zu setzen, um den Stoff unter seinen Händen zu spüren, wie er die Bücher hatte spüren müssen. Er nahm an, es wirkte befremdlich für Snape. Wie sollte es auch anders wirken? Snape sah jeden Tag, was Draco ein halbes Leben nicht mehr gesehen hatte.

Ein wenig benommen stand er in der Badezimmertür des ersten Stocks, während Snape Wasser in die Wanne laufen ließ. Ein privates Badezimmer. Es war wie ein Königreich, dachte Draco überwältigt.

„Ich habe dir ein Handtuch raus gelegt sowie frische Sachen", erklärte Snape behutsam, wohl, um ihn nicht wieder zum Weinen zu bringen. Draco nickte nur und betrachtete fast vorsichtig die Badewanne, als könne sie sich plötzlich in Luft auflösen. Vielleicht gab es kein Leben nach dem Tod für die Mörder aus Askaban, aber Snapes Haus kam ihm einigermaßen paradiesisch vor, überlegte er äußerst erschöpft und fühlte, wie sich die Anspannung des Tages zu lösen begann.

Preview – nächstes Kapitel:

Part One

~ Unwell ~

Before

1. The Club

There's a club. The Dead Dads Club. And you can't be in it until you're in it.

You can try to understand, you can sympathize. But until you feel that loss...

George, I'm really sorry you had to join the club."

Grey's Anatomy - Cristina Yang

Es war ungewöhnlich still geworden in den alten Räumen des Schlosses, so tief unter der Erde. So kühl und fast losgelöst vom übrigen Treiben des alten Gemäuers.

Der Tod hatte die Stille mitgebracht hatte, wie einen ungebetenen Gast.

Die Stille war ihnen gefolgt wie ein herrenloses Tier, Tag und Nacht; schien jedes Wort zu verschlucken, schien alles Gute auszulöschen, mitzureißen in einen Sog voller Dunkelheit und Schrecken. Es war ein ohnmächtiges Gefühl und so unüberwindbar wie trügerische Klippen gegen welche hohe, kalte Wellen in eisiger Brandung tobten.

Als sie besiegt worden waren, war es, als hätte alles Gute sie verlassen und zurück blieb nur noch Zerstörung. Und was folgte war der mörderische Tribut, den die Gute Seite ihnen abverlangte. Der gerechte Preis, den sie zahlen mussten, weil sie es gewagt hatten, eine Ideologie zu vertreten.

Es war so still, dass sie ihn hören konnten. Gregory lag oben im Schlafsaal auf seinem Bett in seinem maßgeschneiderten schwarzen Anzug, bezeichnenderweise von Whisker & Jenks, den letzten verbliebenen Reinblüter-Schneidern der Winkelgasse. Und er weinte.

Das Wasser über ihnen im immergrünen See war bewegt, denn seit den ersten Morgenstunden war der Himmel grau und der Wind wehte scharf und kalt über das Land. Drohend hatten die ersten Gewitterwolken heute Morgen über dem Gebirgsmassiv gestanden, um den Weltuntergang einzuläuten. Es war, als halte sich selbst das Wetter an einen ungeschriebenen Kodex, der ihrer Trauer angemessen erschien.

Und keiner von ihnen konnte ihn trösten. Keiner konnte ungeschehen machen, was passierte. Keiner wusste, wie.

To be continued…