Ein eisiger Wind wehte über den See und ließ die Blätter der alten Weide rascheln. Feiner Regen mischte sich mit ihren Tränen. Bewegungslos stand sie auf den Stufen von Hogwarts und starrte in die Dunkelheit. Das weiche Gras war niedergetrampelt. Trümmer lagen auf dem Abhang und zeugten Stumm von dem Geschehen, welches der Welt den Atem geraubt hatte. Stöhnen drang aus der Halle hinter ihr an ihr Ohr, doch sie hörte es nicht. Wollte es nicht hören. Jahre hatte sie für diesen Augenblick gekämpft und nun war es vorbei. Im Bruchteil einer Sekunde hatte alles geendet. Ihr Ziel war erreicht. Voldemort war tot.
Ihre unbändige Freude, die sich hätte einstellen sollen, blieb fern. Langsam, wie in Trance, stieg sie die letzte Stufe hinab und ging den seichten Abhang hinab zum See. Etliche Male war sie diesen Weg schon gegangen. Lachend, weinend, freudig, verzweifelt, wütend, hoffnungsvoll, aber noch nie gleichgültig. Kein Gefühl drang zu ihr durch und ihre Tränen bemerkte sie nicht einmal mehr. Blut rann ihren rechten Arm hinab, in dessen Hand sie immer noch ihren Zauberstab hielt. Ihr linker Arm brannte. Die schlecht verheilte Wunde, die ihr Bellatrix zugefügt hatte eiterte, das wusste sie, doch auch das war ihr egal. Ihre Gedanken waren zäh wie alter Honig und so fein wie Nebel. Nichts Greifbares, nichts Reales. Der Matsch unter ihren Füßen ließ sie rutschen, doch unbeirrt setzte sie einen Fuß vor den anderen. Die kühle Luft war eine Wohltat für ihre Lunge. Sie hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. Das Stöhnen der Kranken, den Geruch von Blut und Tot. Das hektische Treiben, die Freudenschreie, die Weinenden. Es war ihr einfach zu viel geworden. Jedermann wollte ihr gratulieren. Immer wieder wurde ihr auf die schmerzende Schulter geklopft. Menschen, die sie noch nie gesehen hatte riefen sie beim Namen, legte ihr vertraulich einen Arm um die Schulter. Natürlich fragte jeder, wie es ihr ginge, doch wollte man die Antwort wohl einfach nicht hören. Im Moment konnte sie einfach keinen ertragen. Keinen ihrer Freunde und erst recht keinen Fremden. Kurz bevor ihre Schuhspitzen die seichten Wellen des Sees berührten blieb sie stehen. Am liebsten würde sie sich hinein fallen lassen und alles vergessen. Es waren nur Minuten der Ruhe, die ihr gegönnt wurden, da war sie sich sicher. Spätestens wenn Harry wieder genesen war – und so wie Madame Pomfrey sich um ihn bemühte, war das in kürze der Fall – ging es zurück zum Hauptquartier. Aber sie wollte nicht. Sie wollte einfach ihre Ruhe haben. Aber wo sollte sie hin? Durch den Krieg hatte sie keine Ersparnisse mehr. Das Haus ihrer Eltern war verkauft. Ihre Eltern selber noch in Australien, ohne Wissen an ihre einzige Tochter. Abermals liefen ihr heiße Tränen über das Gesicht. Sie hatte die Welt gerettet, aber ihr eigenes Leben war ein Scherbenhaufen. Ein Seufzer entwich ihren aufgesprungenen Lippen und sie schloss die Augen. Der Wind spielte mit ihren Haaren und ließ eine nasse Strähne in ihr Gesicht fallen. Fahrig strich sie diese weg. Das Säuseln des Windes beruhigte sie irgendwie. Auch wenn sie abstruser Weise sowieso total ruhig war. Doch säuselte der Wind nicht nur, sondern trug auch ein leises Schluchzen an ihr Ohr. Augenblicklich schlug sie ihre haselnussbraunen Augen auf und sah sich um. Ein silbriges Schimmern unter der Weide ließ ihren Blick innehalten. Dort an den Stamm des alten Baumes gelehnt saß eine zusammengesunkene Gestalt. Den Kopf gesenkt, ein Bein aufgestellt, das andere gerade - saß dort jemand und weinte. Langsam setzte sie sich in Bewegung. Bereits in der ersten Sekunde hatte sie das silberblonde Haar erkannt. Die tiefschwarzen Gewänder hätten ihn unsichtbar gemacht, aber sein Haar verriet ihn. Schweigend trat sie zu ihm und ließ sich zu Boden sinken. Einen Momentlang sahen sie sich in die Augen. Kein Wort, keine Geste. Nur der Blick in die Augen reichte aus und er hob einen Arm. Langsam schob sie sich auf seinen Schoß und lehnte sich mit dem Rücken gegen sein aufgestelltes Bein. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Der zuvor erhobene Arm sank auf ihren Oberschenkeln nieder.
Sie hassten sich, ja. Aber im Moment war er der Einzige, denn sie ertragen konnte. Er fragte nicht, er beglückwünschte sie nicht, er wollte sie nicht preisen, nicht bedauern, nicht bemitleiden, nicht mit ihr reden, nein. Er war einfach nur da. Unter ihren halb geschlossenen Lidern musterte sie ihn. Sein Umhang war zerfetzt. Blut sickerte an seinem Schlüsselbein unweit ihres Gesichtes hervor. Sein Ärmel war zerrissen, deutlich stach das Mal an seinem Unterarm hervor, der auf ihren Schenkeln ruhte. Es beunruhigte sie nicht. Schon damals hatte sie gewusst, dass er nicht böse war. Es hätte nicht des Statements vorhin bedurft, als Voldemort ihn aufgefordert hatte zu ihm zu kommen. Auch so hatte sie gewusst, dass er auf ihrer Seite war. Nein, sie hatte nie mit ihm darüber gesprochen, doch es war ein Gefühl gewesen. Seine Verzweiflung, im sechsten Schuljahr, in diesem Jahr, als sie im Manor gewesen waren. Seine Hilfe eben in der Schlacht und der Ausdruck seiner Augen. Ein dünnes Rinnsal Blut floss von seinem Ellenbogen hinab zu seiner Hand. Ohne es zu merken, hatte sie ihre Hand in seine gelegt. Deutlich hörte sie sein Herz schlagen und spürte das Zucken seiner Brust, wenn er unkontrolliert aufschluchzte. Sie fragte nicht warum, so wie er sie nicht fragte, warum sie bei ihm war. Immer noch rollten ihre Tränen über die Wangen und auch sie kam nicht umhin ab und an zu schluchzen. Langsam schloss sie ihre Augen und lehnte ihr Gesicht an seine Halsbeuge. Ein zarter herber Geruch stieg ihr in die Nase und vertrieb den ständig gegenwärtigen Geruch von Blut und Tod. Tief atmete sie seinen Duft ein und hielt inne. Sie spürte sein Bein an ihrem Rücken, ihre Hand in seiner, sein Kinn an ihrer Stirn und seine Körperwärme an ihrem Oberkörper. Den sanften Regen, der auf sie niederprasselte, der seichte Wind der sie umwehte und das feuchte Gras unter ihr. Kurz vergaß sie alles und spürte nur. Kein Gedanke, kein Gefühl nur Gespür. Unbewusst tat er es ihr gleich. Er spürte ihren zierlichen Körper, die zerbrechliche Hand, roch ihr Haar und spürte den Regen. Langsam versiegten die Tränen, deren Herkunft er nicht bestimmen konnte. Eigentlich hatte er frei von Gedanken und Gefühlen hier gesessen. Keine Bilder waren ihm erschienen oder dergleichen. Aber dennoch hatte er geweint. Unbewusst. Nicht einmal seinen schmerzenden Körper hatte er wahrgenommen. Etliche Wunden und Blessuren zierten seinen sonst so schönen Körper. Sein Haar war unordentlich und seine Kleidung alles andere als standesgemäß, doch das interessierte ihn nicht. Überhaupt interessierte ihn seit dem Sieg eben nichts mehr. Während alle im Freudentaumel in die große Halle gelaufen waren, hatte er sich unbemerkt an den See geschlichen. Es war ihm einfach zu viel. Zu viele Leute, zu viele Fremde, zu viele Fast-Feinde, zu viele Eindrücke und vor allem, zu viele Ereignisse in den letzten Stunden. Kurz hatte er sich gut gefühlt. Endlich hatte er einmal etwas richtig gemacht und konnte voll hinter seiner Entscheidung stehen, doch was hatte er nun gewonnen? Sein Vater war von den Auroren weggebracht worden und hatte ihn verstoßen, seine Mutter hatte geweint und war freiwillig zum Ministerium mitgegangen. Ob oder wann er sie jemals wiedersehen würde wusste er nicht. Ihn selber hatte man hier gelassen. Genügend Auroren waren dabei gewesen, als er sich offen gegen den Dunklen Lord gestellt hatte, wobei auch Harrys Aussage, dass er ihm sein Leben zu verdanken hatte nicht unerheblich gewesen war. Die genauen Begebenheiten wollten die Auroren in den nächsten Wochen im Ministerium aufnehmen. Wichtiger war es nun erst einmal alle Todesser zu fassen, ehe sie sich neu organisieren konnten um ihren Herrn zu rächen. Seufzend senkte er den Kopf und stieß mit seiner Nase sanft auf den Scheitel von dem zarten Wesen an seiner Brust. Sie roch nach Blut, Rauch, Staub, Tod… aber auch nach Vanille und Macadamia. Ihre Anwesenheit beruhigte ihn. Er hatte nicht das Verlangen zu sprechen. Aber er fühlte sich wohl dabei nicht mehr alleine hier zu sitzen. Was ihre Beweggründe waren interessierte ihn nicht. Noch nicht, vielleicht würde er sie einmal danach fragen. Doch im Moment wollte er lediglich hier sitzen, ihre Nähe spüren und die Ruhe genießen. Zeit war unerheblich geworden. Dennoch kam es ihnen nur vor wie Sekunden, als eine laute Stimme vom Schloss her nach Hermione rief. Augenblicklich hielt diese ihre Luft an und drückte sich enger an ihren Erzfeind. Der Gedanke jetzt wieder zurück zu den anderen zu müssen, schnürte ihr schier die Luft ab. Sie liebte ihre Freunde, dennoch wünschte sie sich gerade nichts mehr als nicht zu ihnen zu müssen. Der junge blonde Zauberer spürte ihren Unwillen. „Willst du weg?", wisperte er. Seine Stimme fast tonlos, sanft wie Seide und dennoch so rauchig, dass sie wie feiner Nebel zu ihr durchdrang. Tonlos nickte sie und legte ihre Hand in seine, sodass er ihren Zauberstab berühren konnte. Abermals wurde nach ihr gerufen. Mehrere Stimmen ertönten und kamen immer näher. Angespannt verschloss sie die Augen und drückte sich an Draco. Gleich würden sie sie finden. Sie wollte nicht. Sie wollte einfach ihre Ruhe, aber das würden ihre besorgten Freunde einfach nicht akzeptieren. Deutlich hörte sie die Schritte näher kommen und gerade als sie fest damit rechnete, dass man sie hier in seinen Armen finden würde, spürte sie das gleichwohl bekannte und verhasste Gefühl des Apparierens.
Draco hatte seine letzten Kräfte mobilisiert und sie aus dem Sitzen heraus weggebracht. Es hatte ihn enorm viel Kraft gekostet. Das letzte was er wahrnahm, ehe ihn die erholsame Schwärze der Ohnmacht einfing, war das weiche Sofa seiner kleinen Bibliothek unter sich. Hermione bemerkte von seinem Dahingleiten in die zeitlose Tiefe der Ohnmacht nichts. Sie saß immer noch auf seinem Schoss, eng an seinen Körper gedrückt, mit geschlossenen Augen. Die Ruhe, welche sie nun umgab war ihr mehr als willkommen. Die lauschige Wärme des Raumes in dem sie sich anscheinend befanden erreichte sie und jagte ihr einen kleinen Schauer über den Rücken. Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie nicht den Drang ihre Augen zu öffnen und ihre Umgebung direkt zu erkunden. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass sie hier sicher waren, dennoch spürte sie, dass sie es waren. Ihr Handeln stand außer jedweder Vernunft und doch fühlte es sich so richtig, so gut an. Einmal nur das tun, was das Herz einem sagte und nicht ihr Verstand. Jahrelang hatte sie immer nach ihrem Verstand gehandelt. Hatte gelernt, gekämpft und schließlich gewonnen. Niemals war es ihr vergönnt gewesen, einfach nur das zu machen, was sie wollte. Immer musste sie über ihr Handeln und die Konsequenzen für sich und ihre Freunde nachdenken. Möglichkeiten abwägen und zum Schluss oft einen Entschluss fassen, der wider ihren Wünschen war. Doch jetzt war der Krieg vorbei. Sie musste nicht mehr die Denkerin des Trios sein. Harry hatte es geschafft. Von nun an brauchte er sie nicht mehr, zumindest hoffte sie das irgendwo. Natürlich war sie nie dazu gezwungen worden, ihm zu helfen und sie hatte alles freiwillig getan. Aber es war eine Last gewesen. Immerzu hatte sie nicht nur an sich, sondern auch an ihre Freunde denken müssen. Nun, war sie frei. Aber irgendwie machte ihre diese neugewonnene Freiheit Angst. Es war widersinnig, keine Frage, aber sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie damit glücklich war, nun frei zu sein.
Über ihre Überlegungen, driftete sie schlussendlich ins Reich der Träume. In der Nacht erwachte Draco kurz aus seiner Ohnmacht. Deutlich spürte er seinen schmerzenden Körper und ihr Gewicht auf ihm. Vorsichtig schob er sich in seinem Taumelzustand weiter nach unten, in eine liegende Position und drückte Hermione leicht zur Seite, sodass sie schlussendlich mit ihrem Kopf, auf seinem Schoss lag. Seufzend legte er seine linke Hand auf ihre Taille, ehe er die Augen schloss und ihr ins Land der Träume folgte.
