(Vorbemerkung: Diese FF habe ich im Februar 2013 begonnen. Sie spielt – abgesehen von dem ersten Kapitel - in den Wochen nach der Poolszene und sollte ursprünglich auch zu Staffel 2 passen. Als aber dann Staffel 3 kam, stellte sich manches als nicht mehr „serienkanonisch" heraus. Das hier wird also zu S1 passen, aber da es dann sowieso etwas AU wird, habe ich beschlossen, das es dann auch nicht mehr zu S2 passen muss.
Es ist also noch alles möglich…)
.
.
.
Auf dem Flug nach Minsk
.
.
.
Nach Minsk zu fliegen, ist natürlich totaler Unsinn.
Selbstverständlich hatte John recht gehabt: Es wurmte mich, dass ich Shan nicht hatte dingfest machen können – und ich hatte mich damals auch gefragt, wie ich jemals an Moriarty herankommen sollte.
Und dann wurde ich von diesem Idioten angefordert, der in Weißrussland im Knast saß. Es war ganz klar, dass der Fall fad, langweilig und vorhersehbar sein würde, denn dieser Typ war strunz-dumm und einfallslos, das verriet mir schon sein plumper Stil.
Aber dann platzte diese kleine Idee in mein Gehirn: Wenn ich diesen Fall annahm und das auf unseren Webseiten zu sehen war, dann wäre das eine Gelegenheit, die sich Shan, Moriarty oder wenigstens sonst irgendein Krimineller, der glaubte, mit mir noch ein Hühnchen rupfen zu müssen, sich nicht entgehen lassen würde.
Wir waren nur knapp davon gekommen, ich und John, und ich gierte nach einem Erfolgserlebnis wie ein Junkie nach dem nächsten Schuss. Ich langweile mich jedes Mal kurz nach einem gelösten Fall schon wieder entsetzlich, habe das Gefühl, mental irgendwie ins Bodenlose zu stürzen, aber nach diesem unbefriedigenden Ende, war es geradezu unerträglich. Also beschloss ich, mich zur Zielscheibe zu machen und einfach mal zu sehen, wer mich angreifen würde.
Es war eine Kurzschlussreaktion, eine Übersprungshandlung – hochriskant – und bei weitem nicht so genial, wie ich anfangs hatte glauben wollen.
John war davon überhaupt nicht begeistert, auch wenn im Internet nichts davon zu sehen war und ich ihm natürlich nicht verriet, dass es eine Falle mit mir selbst als Köder sein sollte. Doch für mich war nur entscheidend, dass John keinerlei Anstalten machte, mich begleiten zu wollen, weil er seine eben erst ergatterte Arbeitsstelle nicht wieder verlieren wollte, denn ich konnte ihn dabei – wie so oft – selbstverständlich nicht gebrauchen.
Allein – mein Plan ging nicht auf. In Heathrow fielen mir schon diese verdächtigen Anzugheinis auf, die sich da – für die üblichen Idioten nicht erkennbar, aber für meine Beobachtungsgabe ganz offensichtlich – zusammenrotteten. Aber es waren bedauerlicherweise nicht Moriartys hochwillkommene Schergen, sondern mein überfürsorglicher Big Brother, der hier seine Schlinge zuzog: Mit mir im Zentrum.
Für meine Begriffe ein wirklich eklatanter Fehler! Wie hatte ich diese völlig offenkundige Konsequenz meines Handelns nur übersehen können? Mycrofts Maßnahme hätte für mich vorhersehbar sein müssen, denn er verhielt sich doch eigentlich so berechenbar wie immer!
Es war nur ein weiteres Indiz in einer schier endlosen Beweiskette in einem höchst beunruhigenden Fall. Dem Fall des zerstreuten Consulting Detectives – oder dem Fall des nicht mehr hochfunktionellen Soziopathen – einen solch unsäglichen Titel hätte wohl John für einen seiner fürchterlichen Blogeinträge gewählt!
Nun waren es schon zwei!
Aber zurück zu diesem meinem ganz privaten Fall:
Irgendetwas stimmt nicht mit mir!
Nun, wo mich der achtstündige und sicher völlig nutzlose Flug zur Untätigkeit verdammte, musste ich mich dieser Erkenntnis schließlich doch stellen. Es hatte die letzten Tage über so einige Momente gegeben, in denen ich nicht klar denken konnte und unbeschreiblich dumme, peinliche und noch dazu hochgefährliche Fehler gemacht hatte – und damit meine ich nicht mal so sehr diese dämliche Reise.
1. Mir hätte viel früher auffallen müssen, dass der Eindringling in Soo Lins Wohnung noch da war – es war so offensichtlich!
1. a) Wenn du im Sterben lägst, man hätte dich ermordet – in deinem letzten Augenblick, was würdest du da sagen?
Was mich anbelangte, wusste ich es nun:
John...!
1. b) Ich hatte nicht nur nach ihm gerufen, in der Hoffnung, dass er die Tür aufbrechen und mich retten würde, sondern weil mein sonst so geniales Gehirn in diesem Augenblick wie leergefegt schien und nur noch der Gedanke an ihn da war. Das verwirrte und entsetzte mich maßlos – es war sogar stärker als meine Todesangst, weil es so befremdlich, so irrational war.
2. Noch alarmierender: Meine absolut unbegreifliche Blödheit in jenem stillgelegten Eisenbahntunnel, die sogar für Anderson zu bescheuert gewesen wäre, dass ich
2. a) nicht einfach Sarah – alberne, nervige, kleine Sarah...! – , die meiner Schätzung nach nur 96einhalb Pfund wog – samt dem Stuhl aus der Schusslinie gezogen hatte!
2. b) Und wieso hatte ich mich nicht zuvor vergewissert, dass nicht noch weitere potentielle Angreifer in der unübersichtlichen Dunkelheit lauerten?
Ich zwang mich dazu, mich zu daran zu erinnern, wie beschämend es für mich gewesen war, meinen Fehler zu erkennen, als sich Zhi Zu auf mich stürzte und als John – tapferer, kleiner John! – entschlossen MIT seinem Stuhl auf das Mordinstrument zu robbte. Es ist mir immer noch ein Rätsel, wie er es dann auch noch hatte schaffen können, die Spinne zu treffen.
Ich hatte mich voller Entsetzen einen Moment abwenden müssen, um mich wieder halbwegs in den Griff zu bekommen, mein Gesicht wieder in eine ausdruckslose, marmorne Maske zu verwandeln, aber dann:
Keine Sorge! Das nächste Date wird anders!
Noch einmal drehte ich mich erschüttert um, wie um nach weiteren Angreifern Ausschau zu halten. Aber was in diesem Augenblick wirklich in mir vorging, war neu und erschreckend...
Jetzt wusste ich es zu deuten: Ich war zutiefst verletzt und enttäuscht gewesen, dass er sich an Sarah gewandt hatte! Dass er mich nicht gefragt hatte: Sherlock, bist du okay?
Er hatte sich nur für sie interessiert!
Und ich war leider viel zu verstört dadurch, um meinerseits ihn zu fragen, ob er in Ordnung sei. Dieser Gedanke kam mir erst viel später und da schien er mir deplatziert, denn ich da hatte ich ja längst deduziert, wie er sich fühlte und er wusste das auch und er gab ja sowieso kaum jemals zu, wenn es ihm schlecht ging, nicht mal, wenn er vor Müdigkeit im Stehen einschlief...
Was war nur in den letzten Wochen passiert?
In jener Nacht vor dem Roland-Kerr-College war alles so klar und einfach gewesen: John, der vermutlich akzeptable Mitbewohner, bisher passabelste Assistent und angenehmstes Publikum meiner Wissenschaft, hatte mich ehrlich verblüfft mit seinem entschlossenen, professionellen Handeln und seinem exzellenten Schuss. Noch mehr war ich aber verblüfft über mich selbst gewesen, weil ich im Augenblick der Erkenntnis, dass er mein Scharfschütze gewesen war, sofort das Bedürfnis verspürte, mich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Ich hatte nicht einmal eine spezifische Befürchtung wie einen drohenden Flashback oder Gewissensbisse, auch wenn ich davon redete, ihm einen Prozess ersparen zu wollen. Ich war nicht einmal so sehr dankbar, als vielmehr tief beeindruckt und einfach unbeschreiblich froh, dass unsere Wege sich gekreuzt hatten. Es war ein unbekanntes, überwältigendes Gefühl – aber eines, das mir keinerlei Unbehagen bereitete, wie es diese – meiner Selbstbeherrschung sei Dank! – seltenen und dabei höchst überflüssigen, ja, störenden Dinge sonst tun. Es war, als sei ich, der niemals etwas gehabt hatte, was sich auch nur im Entferntesten wie Heimat anfühlte, endlich nachhause gekommen.
Der zuerst leicht unsichere, aber aufrichtige Blick aus den azurblauen Augen zu mir hinauf, sein jungenhaftes Grinsen und sein befreites Kichern waren wie etwas, wonach ich lange gesucht hatte, ohne davon zu wissen.
Was war nur schiefgelaufen seit dieser Nacht?
Lag es daran, dass ich mich als zu wenig kompromissbereit und lernfähig erwiesen hatte, was die bedeutungslosen Kleinigkeiten des langweiligen Alltags anging? Dass ich im Haushalt nicht "mitanpackte", nicht einkaufen ging, dass ich – wenn ich überhaupt mal selbst Kaffee machte – immer nur einen Becher zubereitete, weil ich einfach zu tief in Gedanken war, um Rücksicht auf John zu nehmen? Waren es meine Alleingänge? Andererseits: John hatte auch jetzt noch seine Probleme damit, wenn ich in eine Wohnung einstieg. Waren es meine Experimente, die menschlichen Körperteile in unserem Kühlschrank? Oder das, was John und Mrs Hudson als "Unordnung" bezeichneten?
Ich wollte dieses Einvernehmen zwischen uns zurück haben, diese "Wir können doch hier nicht kichern – das ist ein Tatort"-Stimmung, die ich so sehr genossen hatte...!
Zuletzt hatte ich mir Mühe gegeben, netter zu sein – aber irgendwie funktionierte das nicht. Ich weiß, ich bin in diesen Dingen wirklich absolut stümperhaft, aber bisher war das nicht wichtig gewesen, weil ich sowieso nie jemanden länger ertrug – und vice versa.
Außer irgendwie...
...Lestrade, weil er mich manchmal in interessante Fälle einbezieht, weil er meine Hilfe schätzt und braucht, weil er mich bis zu einem gewissen Grad so akzeptiert, wie ich bin, weil er an mich geglaubt hatte, als ich noch ein Junkie war und mich niemals aufgegeben hatte… –
Und Mrs Hudson? Das war ein Rätsel! Ihre aufdringliche Art wäre mir bei jedem anderen Menschen auf die Nerven gegangen, ihr Herumgewusel in unserer Wohnung, ihr ständiges 'Mein Lieber!', die völlig unangemessenen Umarmungen und Küsschen – bei jedem anderen hätte ich es als übergriffig und absolut inakzeptabel empfunden und dieser Nähe sehr bald ein jähes Ende mit Schrecken bereitet... Die normalen kleinen Idioten bezeichnen ein solches Verhalten, wie es Mrs Hudson mir und auch John gegenüber an den Tag legte, wenn ich mich recht erinnere, als "Herzlichkeit". Das ist natürlich Unsinn, wie so vieles in der menschlichen Sprache: Das Herz ist ein Hohlorgan, eine komplizierte, hochfunktionelle Konstruktion aus Muskeln und Adern, gesteuert von bestimmten Gehirnregionen mithilfe von Nerven und Hormonen. Trotzdem bin ich schon vor langer Zeit dazu übergegangen, zu behaupten, ich besäße kein Herz, denn das verstehen die Idioten wenigstens und jede weitere Diskussion sollte sich damit erübrigt haben.
Aber ich schweife ab.
Ich sah nicht kommen, dass ich es nur noch schlimmer machte, indem ich Johns Geldsorgen überhörte und einen Job als langweilig abtat. Es ist nun einmal so, dass ich kein Einfühlungsvermögen habe; ich kann – wenn ich es für nötig halte, unter Berücksichtigung aller Parameter und meinem empirischen Katalog menschlicher Verhaltensweisen, den ich im Laufe der Jahre auf meiner Festplatte angelegt habe, ein ganz brauchbares Profil eines Verdächtigen erstellen, seine Motive, seine Denkmuster erfassen: Ich wusste, dass John sich bei einer normalen Beschäftigung fast ebenso langweilen würde wie ich – einfach weil er nicht langweilig, nicht gewöhnlich ist. Er ist etwas Besonderes, das weiß ich besser als irgendwer sonst.
Aber ich nahm mir vielleicht zu selten die Zeit, ihn zu lesen – vielleicht, weil ich so oft die Gelegenheit dazu hatte, dass es einfach nicht dringend zu sein schien?
Vielleicht am Schlimmsten war das gewesen, was letzten Mittwoch in der Bank passiert war.
Das ist mein Freund – John Watson."
Kollege!
war John dazwischen gefahren. Und Sebastians Blick hatte gesagt: Ach so, dann passt es! Das wäre ja auch was ganz Neues! ...natürlich hat Sherlock keine Freunde...!
Ich hatte mich augenblicklich wieder wie der kleine, schmächtige Junge gefühlt, der Außenseiter, den alle mobbten, der sich aus purem Selbstschutz einredete, doch gar nicht mitspielen zu wollen, weil die Spiele der anderen ja so dumm waren!
So hatte ich mich nie wieder fühlen wollen. Verletzlich, verloren und schmerzhaft einsam. Diese Datei hatte ich doch schon vor langer Zeit in den Papierkorb verschoben und nun wurde sie urplötzlich wiederhergestellt, obwohl sie längst überschrieben worden sein sollte!
Ich versuchte, John nicht merken zu lassen, wie sehr ich unter dieser Distanz, die er damit zwischen uns erzeugte, litt. Ich selbst hatte ihn zu Anfang als Kollegen bezeichnet. 'Kollege' besagt nicht, ob jemand gleichwertig oder unterstellt ist. Ich hätte auch Assistent sagen können. Das wäre naheliegender gewesen, eigentlich. Aber er hatte immerhin einen Doktor – etwas, wozu ich mich nie aufraffen könnte, weil mir dazu die Geduld fehlt, und er hatte es immerhin bis zum Captain gebracht - auch etwas, was mir nie gelungen wäre, weil ich schon als Rekrut wegen Insubordination gleich in der ersten Woche hochkant aus der Truppe geflogen wäre. Gehorsam ist das Letzte, was mir liegt. Wohl deshalb hatte ich dann 'Kollege' gesagt, statt Assistent, obwohl es nicht so recht passte und ich beim nächsten Anlass einfach erklärte:
Er gehört zu mir. Irgendwie stimmte das eher – und aus einem mir damals noch unbegreiflichen Grund, hatte ich gewollt, dass es stimmte...
Aber der Fall des Bankeinbruchs beschäftigte mich dann doch viel zu sehr.
3. a) Zwar fragte ich John geistesgegenwärtig immerhin höflich, wie sein Bewerbungsgespräch verlaufen sei, und war irritiert, dass er eher so wirkte, als hätte er sich mal wieder erfolgreich mit einem dummen, langweiligen Weibsbild verabredet, aber ich schenkte dem dann doch keine weitere Beachtung, weil John in den vergangenen 53 Tagen, seit wir zusammen wohnten, nie mehr als ein zweites Date zustande gebracht hatte.
3. a) α Aber noch schlimmer war – nach all den bedeutungslosen, flüchtigen Dates! – war da plötzlich Sarah! Und irgendetwas war anders. Weil sie endlich einmal deutlich kleiner war als er? Weil sie ebenfalls Ärztin war und auch altersmäßig besser passte, als die bisherigen jungen Gänse? Ich weiß es nicht. Es interessierte mich auch gar nicht. Ich wusste nur, dass sie störte! Wahnsinnig, unerträglich störte! Sie machte aus John einen albernen, verliebten Jungen, der bereitwillig auf ihr kindisches Kichern, ihre gespielte Schreckhaftigkeit, mit der sie sich gleich beim ersten Date bei jeder noch so lächerlichen Gelegenheit an seine ach so starke Schulter kuschelte - dabei war es nicht mal seine Rechte, sondern die lädierte Linke! - dass ich das Gefühl hatte, jeden Moment hochgehen zu müssen wie eine Rakete und die Decke dieser alten heruntergekommenen Veranstaltungshalle zu durchschlagen.
3. a) β Sie hatte sich nicht im Mindesten beeindruckt gezeigt von meiner Arbeit. Das hätte mich gleich beunruhigen sollen, denn wenn diese Sichtweise auf John abfärbte, wäre die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten!
3. a) γ Als ich mich nachts nochmals zum Museum aufmachte, hatte ich natürlich keinen Gedanken daran verschwendet, dass Sarah noch in unserer Wohnung herumschnüffelte. Zwei Straßenecken später erst, als sich schon mehrere Passanten argwöhnisch zu mir umgewandt hatten, fiel mir dann auf, dass ich Selbstgespräche führte: John war gar nicht mitgekommen.
3. b) Viel zu spät erst wurde mir klar, dass ich niemals hätte zulassen dürfen, dass ihn diese engstirnigen, fantasielosen Ordnungshüter mit den Spraydosen von Raz einkassierten. Ich hatte nicht einkalkuliert, dass es sein Ehrgefühl so verletzen würde, dass es für ihn etwas so völlig anderes sein musste als für mich oder für Raz, vor Gericht erscheinen zu müssen oder auch nur aktenkundig zu werden. Wie oft war ich im Zuge meiner Ermittlungen schon verhaftet worden! Ich habe längst aufgehört zu zählen. Meistens war es sogar amüsant gewesen, ich hatte oft das Beste daraus gemacht, auch wenn damit natürlich meine Arbeit allzu oft völlig unnötig behindert wurde.
Auch jetzt noch – zwei Tage später – packt mich lähmendes Entsetzen, wenn ich mir ins Gedächtnis zurückrufe, wie ich später im Hochgefühl meiner bahnbrechenden Entdeckung in unsere Wohnung hinaufgestürmt war – und mir schlagartig klar wurde: Sie haben John!
In diesem Augenblick hatte mich so eine quälende Angst überfallen, dass ich fast ausflippte, denn dieses Gefühl war etwas, dessen ich mich für total unfähig gehalten hatte, es zu empfinden. Ich hatte Angst – eine körperliche, geradezu schmerzhafte Angst – , John zu verlieren. Und dieser Effekt erschreckte mich zusätzlich zutiefst.
Ich verlor ihn nicht in dieser Nacht. Nicht an den Tod, jedenfalls. Maßlos erleichtert und sogar noch viel tiefer beeindruckt von seinem Meisterschuss, als damals bei unserem ersten Fall, durfte ich feststellen, dass ich ihn wirklich bis auf eine kleine Platzwunde an der Schläfe und eine leichte Gehirnerschütterung wohlbehalten, wieder hatte.
Aber er ignorierte mich völlig!
Auch kurz darauf, als ich mit einem merkwürdigen, schockierenden Gefühl von Erlösung, das mich vor Schwäche zittern ließ, seine Fesseln zerschnitt und ihn voller Sorge stützte, als er bleich und schwankend auf die Beine kam, wollte er nur nach Sarah sehen.
Auf eine andere Weise hatte ich ihn nun doch verloren! Oder nicht?
Ich war maßlos erleichtert, dass er dann doch noch mich nachhause begleitete und nicht diese Nerv tötende Heulsuse. Ich bemühte mich um ihn, denn trotz allem war ich viel zu froh, um die Kränkung und den Schmerz des Verlustes die Oberhand gewinnen zu lassen – der Fall war ja auch praktisch gelöst, nur ein paar lose Enden würde ich am kommenden Tag noch zu verknüpfen haben – so dass ich die nächsten Stunden wirklich nutzte, mich um ihn zu kümmern. Er hatte Todesängste ausstehen müssen und die Kopfschmerzen machten ihm schwer zu schaffen, noch mehr die Gleichgewichtsstörungen. Ich bemühte mich, ihm ein bequemes Lager auf dem Sofa zu bereiten, das ich bisher mit allergrößter Selbstverständlichkeit als mein höchst privates Revier betrachtet hatte, obwohl das Möbel, wie die meisten anderen auch, Mrs Hudson gehörte. – Nie hatte ich auch nur daran gedacht, dass er es vielleicht manchmal auch gerne benutzt hätte! Er hatte auch nie danach gefragt, vielleicht weil er es für mein Eigentum hielt. Er war ja ohne jedes Möbelstück in 221b eingezogen und hatte – nachdem ihm klar geworden war, dass ich mich schon vor unserem gemeinsamen Besichtigungstermin dort eingerichtet hatte, nie gefragt, welcher Teil der Möblierung Mrs Hudson gehörte. – Ich hatte ihn mit Kopfschmerztabletten und Wasser versorgt, ihn sogar gefragt, ob er sonst noch etwas benötige, oder was ich noch für ihn tun könne, obwohl er beteuerte, es wäre nichts und er brauche nur etwas Ruhe. Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass es da irgendetwas gab, das ich nicht deduzieren konnte. Ich hatte ihn nicht aus den Augen gelassen, um ihn – falls nötig – aus einem Albtraum zu reißen, oder einen Gang zur Toilette zu bewachen. Ich hatte ihn ausschlafen lassen und war erst beruhigt, als er am Morgen wieder ganz sicheren Schrittes und mit fast normaler Gesichtsfarbe in die Küche ging. Ich ermunterte ihn sogar noch dazu, zu frühstücken – etwas, was ich wohl viel zu selten berücksichtigte. Aber die Angst der vergangenen Nacht hatte mir die Augen geöffnet: Ich nahm mir vor, ihn künftig nicht wieder einfach so mitzuschleifen, nur weil mir ein schwarzer Kaffee mit zwei Stück Zucker genügte. Später putzten wir gemeinsam die Fenster – das heißt: Er begann mit dieser Arbeit und als ich sah, wie er plötzlich schwankte und die Sprosse der Leiter verfehlte, war ich ihm beigesprungen und hatte ihn gerade noch auffangen können. Auf den Schrecken erbot ich mich, alles zu putzen, was mehr als 6 Fuß hoch war.
Außerdem räumten wir die Bücher der beiden toten Schmuggler zusammen und ließen sie abholen. Unser Wohnzimmer war niemals ordentlicher gewesen als an diesem Wochenende.
Obwohl mich die Langeweile fast schon wieder innerlich auffraß und ich den Ausgang unseres Falls als höchst unbefriedigend klassifizierte, versuchte ich, mich auf John zu konzentrieren. Am Abend lud ich ihn in ein teures Restaurant ein, obwohl mir selbst bei dem bloßen Gedanken an Nahrungsaufnahme beinahe speiübel wurde, denn für mich war dieser Fall eigentlich alles andere als abgeschlossen. Ich hatte es für einen äußerst cleveren Schachzug gehalten
a) nicht zu Angelo's zu gehen, weil ich mitbekommen hatte, wie unangenehm John die Mutmaßungen, dass wir ein Paar seien, offensichtlich waren,
b) stattdessen diesen noblen Schuppen zu wählen, um ihm meine Wertschätzung zu demonstrieren. Aber ich hätte bedenken müssen, dass er sich – obwohl dort nicht direkt Anzugzwang herrschte (selbstverständlich lehne ich es strikt ab, irgendwo zu speisen, wo man mich zwingen will, einen Schlips zu tragen!) – in diesem gehobenen Ambiente deplatziert fühlen würde und – außerstande, sich zu entspannen – die exzellente Küche nicht genießen konnte.
Ich versuchte, es wieder gut zu machen, indem ich am nächsten Morgen mit ihm frühstückte, obwohl ich keinen Appetit hatte – aber meine rastlosen Gedanken schweiften ab…zu Shan, zu Moriarty, von dem ich mir fast sicher war, dass er diesen Schmugglerring protegierte und mein vernachlässigtes Gehirn war schon wieder auf Turkey und lechzte nach dem nächsten Fall…!
Aber nun sitze ich im Flieger nach Minsk. Acht Stunden Zeit. Acht Stunden Zeit, in denen sich mir die scheußliche und niederschmetternde Erkenntnis aufdrängt, dass dies keine geniale Falle ist, die ich hier stelle, sondern eine Flucht, eine Flucht vor John und all den Gefühlen, die letztlich irgendwie mit ihm in Zusammenhang stehen. Eine sinnlose, irrationale Flucht, die bewirken könnte, dass dieses Problem noch eskalieren wird: Jetzt arbeitet er mit Sarah zusammen statt mit mir! Wie hatte ich das zulassen können? Ich beginne zu begreifen, was mich zwei Nächte zuvor so außer Fassung gebracht hatte – zumindest zum Teil verstehe ich es jetzt! Ich hätte mich nur zu gerne Sarahs entledigt! Sie stört so entsetzlich! Sie hatte sich einfach zwischen uns gedrängt. Mir ist nun klar: Ich hätte sie nur zu gerne sterben lassen! Hauptsache, wir wären sie wieder los! Nicht dass ich das in diesen Minuten wirklich bewusst gedacht hätte, aber nun – irgendwo über Polen – wird es mir klar. Es erschreckt mich nicht mal so sehr, dass ich so kriminelle Ideen habe, eher schon, dass es mir gar nicht aufgefallen war. Was hatte mich letztlich daran gehindert? John. Er wäre nicht damit fertig geworden. So betroffen er auf Soo Lin Yaos Tod reagiert hatte, stand das außer Frage. Für mich war es nur ein dummer, ärgerlicher und vermeidbarer Fehler gewesen, meiner unwürdig und für die Ermittlungen sträflich hinderlich. Für ihn war es Mitgefühl und Schuld – eine geradezu erdrückende Schuld. Ich konnte und wollte nicht in Kauf nehmen, ihm das anzutun – und was letztendlich entscheidend war, es hätte ihn abgestoßen, hätte mich in seinen Augen zum Psychopathen gemacht, auch wenn ich deswegen nicht mal angeklagt worden wäre. Ergo: Ich hätte ihn verloren. Deshalb verbot sich der Plan, Sarah sterben zu lassen, schon von selbst, so praktisch er gewesen wäre.
Würde diese witzlose Reise dazu führen, dass John sich um mich sorgte? Mich vermisste? Dann hätte sie wenigstens einen Zweck erfüllt, aber ich glaube nicht so recht daran. Vielleicht, wenn ich bei meiner Rückkehr scheinbar vor Kälte mitleiderregend zittern würde? Wenn er befürchten müsste, dass ich krank wurde? Das könnte vielleicht funktionieren. Aber es würde nicht lange anhalten, denn ich wurde ja nie krank. Nicht mehr, seitdem ich clean war. Ist doch logisch: Krank sein ist viel zu langweilig. Schmerz ist bisweilen spannend und unterhaltsam, oder auch, wenn der Magen, dieses vielleicht unsympathischste Organ von allen, rebellierte und buchstäblich Gift und Galle spuckte. Oder ein monumentales Niesen mit seiner beeindruckenden Geschwindigkeit, wenn es wie ein Schuss durch mein Gehirn zu fegen schien. Aber diese kleinen Highlights, die das Kranksein lieferte, waren nun mal nichts gegen die Ödnis eines lästigen, langwierigen Genesungsprozesses!
Zwischenstopp in Moskau. Umsteigen zurück nach Westen bis Minsk. Nun ist es nicht mehr weit. Ein Teil von mir, möchte einfach die nächste Maschine zurück nach London nehmen. Nachhause zu John.
Vielleicht sogar…ihm sagen: Weißt du eigentlich, wie froh ich bin, dass dir nichts weiter passiert ist…?
Auf meinem Forum hatte er mich damit aufgezogen, dass mich ein so einträglicher Job doch interessieren müsste – wohl wissend, dass das nicht der Fall war! Ich weiß sehr wohl, dass mich Sebastian mit insgesamt 25000 £ für meine Dienste entlohnt hat. Da brauchen wir für den Rest des Jahres keine weiteren Einnahmen. Mir war zwar klar, dass John nicht käuflich ist, das hatte er schon gleich zu Anfang demonstriert, als er sich von Mycroft nicht hatte als Privatspion anwerben lassen – aber das hier ist etwas völlig anderes: John hat sich seinen Anteil redlich verdient! Er braucht keinen langweiligen, bürgerlichen Job! Er ist doch mein Kollege.
Und ich bin ein Idiot!
Wieso hatte ich ihm nicht gratulieren können, als er die Hang Zhu-15 entdeckte?
Ihn loben, dass er die Grafitti-Botschaft selbstverständlich fotografiert hatte?
Warum?
Weil ich an so etwas eben nie denke, weil ich – ja…, ein sozialer Krüppel bin und immer mit meinem eigenen, alles dominierenden Verstand beschäftigt.
Das hatte mich bisher nie gestört, war mir nie hinderlich gewesen.
Bis zu meinem Zusammentreffen mit einem kleinen, kaputten Armydoktor.
Ein seelisches Wrack mit einer beeindruckenden Haltung.
Ein Mensch –
DER Mensch, der in mir – MIR unsozialem Freak – den dringenden Wunsch auslöste, sein Hinken heilen zu wollen, seine Schmerzen zu stillen.
DER Mensch, der mich dazu brachte – MICH, das rücksichtsloseste aller Individuen, den einsamen Jäger, mitten in einer Verfolgungsjagd inne zu halten und darauf zu achten, dass ich ihn nicht abhängte!
DER eine Mensch, der mich – MICH, den schamlosesten Egoisten von allen dazu brachte, ihn zu fragen, ob er wieder zu Atem gekommen sei und ob er in Ordnung wäre…!
Umgekehrt hatte es mich niemals gekümmert, wenn wirklich mal jemand Interesse an meinem Befinden bekundet hatte. Aber bei John war das anders. Bei John war alles völlig anders. Es war ein seltsames und völlig irrationales Gefühl, ähnlich einem wärmenden Kaminfeuer oder einem sonnigen, tiefblauen Himmel oder einem perfekt dargebotenen Violinkonzert – nur noch viel intensiver aber leider sehr viel kürzer – wenn er mich fragte: Sherlock, bist du okay? Sherlock, geht's dir gut? – Ich sagte dann freilich selten die Wahrheit. Und das wusste er und er wusste, dass ich es wusste. Es war eine Art von Ritual zwischen uns. Und wie mir nun bewusst wurde, vernachlässigte ich es geradezu sträflich, dieses Ritual zu erwidern. Entsprechend verhielt es sich mit dem Aufheben, das er um meine Nahrungsaufnahme und meine Schlafgewohnheiten machte. Es war ganz anders, als wenn Mycroft das tat – von Zeit zu Zeit und man könnte fast sagen "halbherzig", wenn ich nicht sicher wäre, dass ihn dabei keinerlei echte Sorge umtrieb. Auch bei John fühlte ich mich dadurch bisweilen belästigt. Aber ich mochte es auch. Ich hätte das niemals zugegeben, aber ich mochte es wirklich sehr, die Sorge aus seinen azurblauen Augen und seiner gerunzelten Stirn zu lesen, obwohl es auch diese ganz seltenen Momente gab, dass ich wirklich dachte:
Mach dir doch nicht solche Sorgen um mich, John. Ich will nicht, dass du dich aufregst und meinst, dir die Verantwortung für mein Wohlergehen aufbürden zu müssen. Entspann dich. Es belastet dich viel zu sehr. Nur deshalb bist du doch oft so erschöpft.
– Aber natürlich sagte ich ihm das niemals. Gewiss war es egoistisch von mir, dass ich seine Fürsorge meistens einfach genoss. Wäre es schwer gewesen, davon etwas zurück zu geben? Für mich schon. Ich dachte einfach zur Unzeit an solche Lappalien. Sollte ich, das Genie, das ein eidetisches Gedächtnis hatte, das endlose Dialoge speichern konnte, das den Londoner Stadtplan jederzeit mit Ampeln, Einbahnstraßen, Fußgängerzonen, Durchhäusern, Feuertreppen und sonstigen Schleichwegen und Abkürzungen und sogar um sämtliche aktuelle Baustellen upgegradet, abrufen konnte, etliche Sprachen beherrschte, das schon vom Blatt nahezu fehlerfrei komplizierteste Violinparts spielte und das selbst komponierte, nicht imstande sein, etwas zu ändern, wenn ich es wirklich wollte?!
Johns Gesellschaft war mehr als nur erträglich für mich, auch wenn selbst er mir bisweilen auf die Nerven ging und mich seine Begriffsstutzigkeit manchmal innerlich die Wände hochgehen ließ. Ich genoss seine Gegenwart, es tat mir gut, zu erleben, wie er nicht müde wurde, mich mit unverhohlener, geradezu kindlicher Begeisterung zu bewundern, wie er auf mich aufpasste, mich gegen die Feindseligkeiten und den Spott anderer abschirmte und welche Geduld er bewies – mit mir, den sonst keiner ertrug.
Ich bin gerade dabei, das alles zu verlieren.
Ich bin dabei, ihn zu verlieren.
Und besagtes hochfunktionales, gefühlloses Hohlorgan zieht sich schmerzhaft in meiner Brust zusammen.
.
.
tbc
wenn ihr wollt.
Noch läuft Sherlocks Festplatte ziemlich rund, auch wenn ungewöhnliche Gefühls-Malware erste Überlastungen des Arbeitsspeichers erkennen lassen. Aber Vorsicht, das kann noch schlimmer werden...
