Schimmer der Erinnerung
„Es wird Zeit für deine Begrüßungsrede, Hermine." rief ihr Vater die Stiegen nach oben. Hermine saß immer noch vor ihrem Schminktischchen und betrachtete sich im Spiegel. Sie hatte die teure Kette umgelegt, das Geburtstagsgeschenk ihres Vaters. Zart schmückte sie ihr Dekolleté und Hermine blickte zufrieden in ihr eigenes Spiegelbild. Endlich stand sie auf um sich ihren Gästen zu präsentieren. Bedächtig schritt sie die lange Treppe hinunter, darauf achtend nicht auf ihr Kleid zu steigen. Sie schritt in den Vorgarten und fand eine wunderbar geschmückte Tafel vor. Ihr Vater hatte keine Mühen gescheut um ihr diesen Tag besonders gut in ihrer Erinnerung glänzen zu lassen.
Als sie hinaus schritt wurde es ruhig. Sie begann als dann ihre Ansprache, die sie schon Tage zu vor eingeübt hatte.
„Liebe Freunde, Verwandte…"
Was dann kam erschien ihr wie in Zeitlupe. Ein Lieferwagen kam die Einfahrt hoch gerast. Alle drehten sich um und Hermines Worte blieben ihr im Halse stecken. Das Auto wurde langsamer. Die Tür wurde unsanft aufgestoßen und eine lange Schusswaffe kam zum Vorschein. Schreie drangen an Hermines Ohr, doch sie schienen abgestumpft. Reflexartig ging sie in die Knie, als plötzlich die ersten Schüsse fielen. Ihren Ohren schienen zu zerbersten. Schreie. Schüsse. Blut. Ihr ganzer Körper zitterte. Sie musste fort. Sie stieß sich vom harten Steinboden ab und rannte. So schnell sie nur konnte in Richtung Haustüre. Sie wagte es gar nicht sich umzublicken sondern lief einfach nur. Sie hatte es bis ins Haus geschafft und rannte nun die Treppen hinauf. Sie stolperte über ihre Absätze. Hastig schlupfte sie aus ihren Stöckelschuhen um weiter die Treppen hinaufzukriechen. Sie strebte ihr Zimmer an und versteckte sich sofort in ihrem großen Wandschrank.
Hermine kauerte sich in die Ecke. Immer noch konnte sie einzelne Schüsse hören. War das ihr Vater, der ihren Namen schrie? Tränen begannen ihr Gesicht hinunterzulaufen. Sie wusste nicht was gerade passiert war. Sie wollte nur noch aus dem Albtraum erwachen und wissen, dass alles in Ordnung war. Plötzlich wurde es still. Nur ihr zittriger Atem klang ihr noch in den Ohren. Jemand kam die Treppen hoch. Sie hörte schwere Schritte auf den Stiegen und ein beklommenes Gefühl sagte ihr, dass es nicht ihr Vater war um sie zu sich in Sicherheit zu bringen. In der wagen Hoffnungen ungefunden zu bleiben, hielt sie den Atem an und schloss ihre Augen. Tränen rannten leise über ihr Gesicht und ihre Gedanken sammelten sich in einem Punkt der Verzweiflung. Die Schritte kamen näher und mit brutaler Wucht wurde ihre Zimmertür aufgeschlagen sodass die Türschnalle sich in der dahinter liegenden Wand vergrub. Hermine zuckte unweigerlich und stieß dabei gegen ein Kleid, das hinter ihr hing. Dieses bewegte sich und der Haken auf dem es hing erklang eisern und laut in Hermines Ohren. Alles verkrampfte sich in ihr und sie riss die Augen weit auf. Nur Sekunden später wurde die sie schützende Schranktür aufgestoßen und grelles Licht blendete Hermine.
Dunkle Umrisse packten sie unsanft an ihren Armen und schleiften sie aus dem Kasten. Schützend schloss sie ihre Augen. Augenblicke später wurde ihr eine Art Sack über den Kopf geworfen und hätte sie ihre Augen wieder geöffnet, hätte das trotzdem nichts verändert. Es wurde finster um sie. Sie spürte wie sie jemand hochhob und unsanft die Stiegen hinunterschleppte. Ihr Atem begann sich unkontrolliert zu verschnellen. Je schneller sie atmete desto weniger Sauerstoff schien sie zu bekommen. Sie wurde panisch. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Völlig unerwartet fiel sie auf einmal. Sie spürte wie in Zeitlupe die Schwerkraft auf sie einwirkte, bis sie jäh auf etwas Hartes stieß. Sie stöhnte laut auf. Ein stechender Schmerz durchzog ihre rechte Schulter.
Etwas wurde mit einem lauten Geräusch zu gemacht. Es klang wie eine Tür. Ein paar Sekunden später raunte ein Motor auf und Hermine, oder besser gesagt das Gefährt in dem sie sich nun befand, begann sich fortzubewegen. Hermine begann hastig mit ihren Händen ihre Umgebung abzutasten, in der Hoffnung auf irgendetwas Bekanntes zu stoßen. Was sie spürte war kaltes, glattes Metall. Sie befand sich in einem Lieferwagen. Bilder schossen in ihren Kopf. Bilder von einem schwarzen Lieferwagen, der die Auffahrt hinaufgerast kam….
Der Lieferwagen schien schneller zu fahren und er wackelte hin und her. Plötzlich wurde Hermine ein wenig in die Luft gehoben. Unsanft landete sie wieder auf dem harten Untergrund und sie verlor alsgleich das Bewusstsein.
Ein greller Schrei drang durch die Dunkelheit. Es war Hermine, die aufwachte. Nur ein Tram. Nur ein Traum. Nur ein verdammt realistischer Traum. sagte sie sich leise vor. Alles war dunkel um sie herum und ihre Orientierung war ihr verloren gegangen. Mit zittrigen Händen tastete sie ihre Umgebung ab und spürte Stroh. Ihr Atem wurde wieder schneller. Stroh? Stroh?! Wo bin ich hier?? Ihre Augen schienen sich langsam an die Dunkelheit zu gewöhnen und ein leichter Lichtschimmer drang durch ein kleines Fenster herein. Sich umsehend bekam sie zusehends das Gefühl sich in einer Zelle zu befinden. Sie verspürte den Drang nach Hilfe zu rufen, doch schien ihre Angst sie verstummen zu lassen. Ein plötzlicher Schmerz durchfuhr sie. Ihr Hinterkopf pochte wild. Vorsichtig fuhr sie sich mit ihren Fingern darüber und spürte etwas klebrig, feuchtes unter ihren Fingerspitzen. Blut. Ihr Oberkörper krampfte sich zusammen, immer schneller werdend zog sie Luft durch ihren Mund ein. Sie schlang ihre Arme um ihren zittrigen Körper als müsste sie verhindern, dass dieser auseinanderfiele. Leises Wimmern drang aus ihrem Kehlkopf und Tränen benetzten ihre Wangen.
Es schienen Stunden zu vergehen bis Hermine endlich Stimmen vernahm. Augenblicklich verstummte ihr Wimmern und sie hielt die Luft an. Ihr Blick war in Richtung des kleinen Fensters gerichtet von dem die Schritte zu kommen schienen. Die Tür zu ihrer Zelle wurde aufgeschlossen und unter einem bemitleidenswerten Ächzen wurde sie geöffnet. Hermines Neugier siegte in diesem Moment über ihre Angst. Sie wollte demjenigen in die Augen blicken, der ihr das angetan hatte. Der, der ihr ihren Geburtstag zerstört hatte. Der, der womöglich zahlreiche ihrer Familie, ihrer Freunde umgebracht hatte. Der, der ihrem Vater etwas angetan haben könnte. Der, wegen dem sie leiden musste.
Eine grelle Neonlampe in ihrer Zelle wurde eingeschalten. Sie war geblendet von dem plötzlichen Licht und überwältigt davon musste sie ihre Augen schließen. Sie hörte Schritte an sie heran kommen und drängte sich reflexartig gegen die hinter ihr liegende Mauer. Jemand packte ihren Harm und zog sie von dem Bett.
„Steh auf!" ertönte eine hohe aber bestimmende Stimme. Es war zweifellos eine Frau, die Hermine erbarmungslos an den Armen zog. Hermine zwang sich die Augen zu öffnen und war geblendet. Allmählich konnte sie die Konturen einer zart gebauten Frau erkennen. Sie hatte aschblondes Haar und eiskalt blaue Augen. „Ich sagte du sollst aufstehen!" Augenblicklich richtete Hermine sich mühsam auf ohne, dass die Frau von ihr abließ. Als sie endlich auf ihren wackeligen Beinen stand, stieß die Fremde vorwärts in Richtung Türe.
Hermine wurde in einen spärlich beleuchteten Gang geführt. Von den Steinwänden hingen vereinzelt Spinnennetze und ab und zu flackerten die Lampen gefährlich über ihren Köpfen. Der Weg schien ihr endlos und ihre Füße begannen zu schmerzen. Auf ihrer nackten Haut spürte sie jeden einzelnen Stein am Boden, der sich in ihre verschmutzte Haut zu bohren schien – von der Kälte des Steinbodens einmal abgesehen.
Die Schritte der Frau hinter ihr wurden langsamer bis sie schlussendlich stehen blieb. Mit einer Hand Hermines Handgelenke umschlingend öffnete sie eine Tür zu ihrer Rechten.
„Sie ist hier." Rief sie in den dunklen Raum. Sie packte Hermine und stieß sie in den Raum. Es kam völlig unerwartet und Hermine stürzte in einen ihr unbekannten, düsteren Raum…
