Luftschlösser

Der Jumbo Jet, die Boeing, war klimatisiert, was anfangs großartig gewesen war. Mittlerweile hasste er es. Alles war einfach schrecklich. Die Kälte, die Enge mit den vielen Menschen, das lange Sitzen, das fade Essen aus zugeschweißten Pappschachteln, die Dad ihm öffnen musste, als sei er drei Jahre alt, und sich dabei in den Finger schnitt und fluchte, als sei die Verpackung seine Schuld. Am liebsten wäre er sowieso zuhause geblieben. Mum brauchte ihn. Aber Dad behauptete, dass er sie störe und sie Ruhe jetzt nötiger hatte als ihn, um wieder gesund zu werden.

Einen Tag vor dem Flug hatte Dad sie fortgebracht. Auf Kur, wie er sagte. Mum hatte beim Abschied geweint. Ihre Tränen hatten es ihm schwer gemacht, sie zu verlassen, obwohl sie beteuert hatte, wie sehr sie sich für ihn freue und wie stolz sie auf ihn war. Kinder waren bei Kuraufenthalten für Erwachsene nicht willkommen, hatte Dad gesagt.

Er fühlte sich auch nicht willkommen bei dem Mann, den er Dad nannte und der im Grunde ein Fremder für ihn war. Mit Mum wäre es lustig gewesen, eine Reise zu machen. Nicht mit ihm, den erkaum sah und der sich unbehaglich fühlte, wenn er mehr als zwei Worte mit ihm wechseln musste. Dabei könnte es so aufregend sein. Seine erste Reise über das Meer. Zwei Meere, um genau zu sein. Den Pazifik und den Atlantik. Dort lag Paris in Frankreich. Mit dem Eiffelturm. Die Weltkarte hatte er so lange studiert, bis er die Flugroute auswendig kannte. Französisch lernte er erst seit einem Jahr in der High School, aber die Vorstellung, eine fremde Sprache praktisch anzuwenden, hatte etwas Erregendes, und er war fest entschlossen, es zu probieren.

Den ersten Zwischenstopp hatte er verschlafen, was er sehr bedauerte. Der war nämlich auf Hawaii gewesen. Hawaii, wo es Blumenkränze um den Hals für die Besucher gab, Ukulelenklänge und Hulamädchen, die dazu tanzten. Er hatte unbedingt wach bleiben wollen und es Dad gesagt, dass er ihn weckte, falls er die Landung verpasste, aber der hatte ihn schlafen lassen. Weil schlafende Kinder am wenigsten Ärger machten.

Er war empört gewesen, weil er sein Versprechen nicht eingehalten hatte, aber vor allem traurig. Wo er doch gewusst hatte, dass er so gerne Hawaii gesehen hätte.

Wenigstens der Eiffelturm würde ihm nicht entgehen. Wenn Dad einen guten Tag hatte und nicht zu beschäftigt war auf dem Kongress (er war immerhin ein berühmter Arzt), würde er ihn dorthin mitnehmen, das hatte er gesagt. Er dachte an seine neue Kamera im Handgepäck und hätte plötzlich gern nachgesehen, ob sie noch da war. Aber Dad würde das albern finden.

Einige Passagiere, die während des ersten Stopps draußen gewesen waren, trugen immer noch stolz die Farbenpracht der Insel im Haar und um den Hals, und er fühlte sich ausgeschlossen, wie einer, der geächtet war, weil er es nicht geschafft hatte, ein Souvenir zu ergattern. Wäre er mutig gewesen, hätte er jemanden gebeten, ihm einen Kranz zu schenken, um damit vor seinen Freunden zu prahlen.

Aber abgesehen davon, dass er viel zu schüchtern war, um Fremde um einen Gefallen zu bitten, hätte Dad sich für ihn geschämt und ihn anschließend tüchtig ausgeschimpft. Es war fast so, als wüsste er nicht, wie man anders mit Kindern kommunizierte.

Mum schimpfte nie. Oder selten. Außerdem schimpfte sie anders als Dad. So, dass man es wusste. Sie veränderte die Stimme. Dad nicht, was das Schimpfen noch schlimmer machte. Bei Dad war man sich nie sicher, ob er tadelte, lobte oder zornig war. Er klang immer gleich. Gleichgültig. Als wäre ihm alles egal.

Eine ältere Frau hinter seinem Sitz tippte ihm auf die Schulter, und er fuhr herum. „Das ist mal ein braver Junge. Sitzt stundenlang da und sagt keinen Ton. Da ist mal eine kleine Belohnung fällig, oder?"

Sie reichte ihm ein Bonbon, das er mit einem höflichen Danke, Ma'am entgegennahm und in den Mund steckte. Er hatte furchtbaren Durst. Wenn er Glück hatte, war es Pfefferminzgeschmack, der über das Durstgefühl hinweghelfen würde. Seit dem Mittagessen hatte es nichts mehr zu trinken gegeben.

Hinter seinem Buch aufschauend warf Dad ihm einen rügenden Blick zu. Als die Lady Richtung Toilette verschwand, ließ er es auf den Schoß sinken. In seinem Gesicht zuckte es.

„Hat Mum dir nicht beigebracht, dass man nichts von Fremden annimmt?"

Er spuckte das Bonbon diskret in seine Handfläche und wickelte es sorgsam in das Papier ein. Es war ohnehin mit Füllung, und die Sorte mochte er nicht.

Da ihm nichts anderes übrig blieb als entweder den Film zu schauen (der für Jungs in seinem Alter zu kompliziert war, sagte Dad und konfiszierte die Kopfhörer – alles war zu kompliziert und ungeeignet für ihn) oder zu schlafen, rollte er sich auf dem Sitz zusammen, den Blick zum Fenster, aus dem er die Wolkendecke unter ihnen betrachten konnte. Der Ausblick wurde derart eintönig, dass er bald wieder einschlief. Vorher überzeugte er sich doch noch einmal, dass der Fotoapparat nicht gestohlen worden war und machte ein Wolkenfoto, das Dad als Verschwendung von Filmmaterial verunglimpfte.

In Los Angeles, wo der Tag gerade zu Ende ging, war er zu müde für eine kleine Sightseeingtour. Überdies schmollte er immer noch wegen Hawaii, als Dad ihn fragte, ob sie rausgehen und sich die Füße vertreten wollten und dabei vielleicht einen Baseballspieler der Lakers oder einen Hollywoodstar auf der Straße trafen.

Er rieb sich die Augen mit den Fäusten. Beides lockte ihn nicht sonderlich. Australischer Football war nicht populär in den USA, und Fernsehen schaute er nur gemeinsam mit Mum, die alte Schmachtfetzen liebte. Er bezweifelte, dass Gregory Peck oder Audrey Hepburn noch am Leben waren. Und falls doch, traf man sie bestimmt nicht hier auf dem Airport. Oder sie waren so uralt, dass man sie gar nicht mehr erkannte. Und andere Schauspieler – neue – würde er überhaupt nicht bemerken. Mum mochte die Klassiker oder heimische Daily Soaps.

Als er an Mum dachte, kamen ihm jäh die Tränen, und er blinzelte sie weg. Der Mann – sein Vater - der vor seinem Sitz in die Hocke gegangen war, seufzte auf, sah verstohlen nach links und rechts über den Korridor und nickte einer Frau zu, die besorgt stehen geblieben war und den Verkehr aufhielt. Es war ihm peinlich, dass sein Sohn Heimweh hatte. Ihm selbst übrigens auch.

Sein Ton, mit einem harten Akzent, der seine tschechische Herkunft offenbarte, klang tatsächlich eine Spur ungehalten.

„Ich hätte dich nicht mitgenommen, wenn Mama nicht so krank wäre, das kannst du mir glauben. Hör zu, Sportsfreund. Es sind doch nur fünf Tage, danach kannst du zu Tante Amy oder zu diesem wilden Protestanten ... Daniel heißt er? Da bist du immer gern, oder? Bis dahin sei ein bisschen neugierig. Du bist doch ein großer Junge, auf den die Welt wartet. Mach mir keine Schande, hm?" Er zwickte ihn in die Wange. Eine seltene Geste, die zwar wehtat, weil Dad zu fest kniff, ihn aber irgendwie stolz machte und den Impuls unterdrücken ließ, die Hand auf die gereizte Stelle zu legen.

„Und jetzt hör auf zu heulen. Wie soll das denn erst werden, wenn du ins Internat kommst?"

Den drohenden Internatsbesuch hatte er verdrängt, wenngleich er seit dem Beschluss der Eltern, ihn fortzuschicken, jeden Abend vorm Einschlafen daran gedacht hatte und der wie ein Alptraum über seinem Bett hing. Keiner hatte ihn gefragt, ob er dorthin wollte. Wie stellte sich Dad das überhaupt vor? Er war ja kaum zuhause, reiste berufsbedingt in der Weltgeschichte umher und überließ Mum sich selbst, die Tabletten schluckte, nicht mehr aus dem Haus ging, aus Einsamkeit zuviel trank und weinte, wenn sie glaubte, er würde längst in seinem Zimmer schlafen.

Jemand musste auf sie aufpassen und für sie sorgen; ihr zeigen, dass sie jemand lieb hatte, und da Dad es nicht konnte, hatte er diese Aufgabe übernommen. Er fand, dass er es ganz gut machte. Und er liebte seine Mutter – der Gedanke, sie allein zu lassen, war ihm unerträglich.

„Ich will da nicht hin", erwiderte er aufmüpfig, obwohl er wusste, dass jede Debatte darüber sofort im Keim erstickt wurde. „Was soll dann aus Mum werden?"

„Keine Diskussion, Robert. Deine Mutter und ich sind uns einig. Du wirst diese Schule besuchen wie sich das für einen Akademikersohn gehört. Ich hab sämtliche Beziehungen spielen lassen, damit du dort in zwei Jahren einen Platz bekommst. Das ist eine Ehre für dich. Nur die Besten gehen dorthin."

Woher wollte er denn wissen, dass er zu den Besten gehörte? Seine schulischen Leistungen waren ganz in Ordnung, doch seit dem Wechsel auf die High School musste er sich mehr anstrengen als früher, besonders in Mathematik und Chemie. Und auf gute Noten im Sport oder Religion legte Dad nicht allzu viel Wert. Nach seiner Vorstellung sollte er Mediziner werden, und der brauchte weder schnelle Beine noch göttlichen Beistand. Was ihn selbst betraf, so träumte er von einer Karriere als Profisportler.

Dad würde ihn verständnislos anschauen, aber in letzter Zeit war sogar der Wunsch in ihm gereift, Priester zu werden. Er mochte Father Christopher von der Sonntagsschule, die er seit der Erstkommunion regelmäßig besuchte. Auf jede noch so vertrackte Frage hatte der Geistliche eine Antwort parat und war immer da, wenn man Probleme hatte. So allwissend und geduldig fast wie der Herrgott selber. Das schien ihm ein erstrebenswertes Ziel zu sein, falls ihm beim Profisportler irgendwas dazwischenkam. Verletzungen waren da schließlich an der Tagesordnung. Falls es ihn schlimmer erwischte, war es besser, mit einem zweiten Standbein vorzusorgen.

Zeit zum Spielen blieb ihm kaum noch. Vor kurzem war Mum am helllichten Tag die Treppe heruntergefallen, und er hatte sich schuldig gefühlt, weil er erst am späten Nachmittag vom Strand zurückgekommen war und den Notdienst hatte benachrichtigen müssen, der sie mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gebracht und zwei Tage zur Beobachtung dabehalten hatte. Was für sie furchtbar gewesen sein musste.

Seitdem rief er jede halbe Stunde daheim an, wenn er unterwegs war, oft allein mit dem Rad oder dem Skateboard. Freunde hatte er ohnehin nicht viele, aber durch seine familiäre Ausnahmesituation verscherzte er es sich mit dem Großteil der wenigen, die ihm geblieben waren. Sie nach Hause einzuladen, war tabu, und er selbst erhielt nicht viele Einladungen, nachdem sich herumgesprochen hatte, was für ein Sonderling er war. Mum konnte ihm keine coolen Klamotten kaufen, und so trug er das, was erschwinglich, aber keineswegs modisch war. Und Dad hielt es für dekadent, zerrissene Hosen für hundert Dollar zu erwerben, aus denen er in spätestens einem Jahr herausgewachsen sein würde. Dabei hatte er den Eindruck, in den letzten Jahren keinen Zentimeter gutgemacht zu haben.

Eigentlich war es ihm einerlei, was er trug; als Junge setzte er andere Prioritäten vor die äußere Erscheinung. Aber ein modisches Outfit hätte ihm geholfen, anerkannt zu werden im Klassenverband, in dem er allein schon durch seine Statur unangenehm auffiel – er war der bei weitem Kleinste und Schmächtigste seiner Altersgruppe. Eine Tatsache, die ihm zu schaffen machte und die er durch sportliche Aktivität kompensierte in der Hoffnung, dadurch größer und schwerer zu werden.

Und dann gab es da Susan, die im Chor hinter ihm stand und so ganz anders war als andere Mädchen. Nicht so zickig und zimperlich und eine ziemlich gute Läuferin beim Volleyball.

Aber es wollte ihm einfach nicht gelingen, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nicht so, wie er es beabsichtigte.

„Robert? Hörst du mir zu?"

„Ja, Sir", sagte er. „Darf ich Musik hören?"

Er nickte gnädig, und der kleine Robert schaltete seinen Walkman ein, während sich Dr. Rowan Chase ein wenig Bewegung gönnte, indem er durch den Duty-Free-Shop bummelte und eine Zigarette rauchte. Nicht ohne ihn zuvor ermahnt zu haben, den Airbus ja nicht zu verlassen. Obwohl er es hoch und heilig beteuerte, sah er ihn am Ausgang mit einer Flugbegleiterin sprechen und ihr einen Geldschein zustecken als Anreiz, ihn im Auge zu behalten.

Als ob er noch ein Kindermädchen bräuchte! Mürrisch pustete er sich das Haar aus der Stirn und streckte die Beine über den momentan freien Vordersitz, um seinen Körper angespannt in die Horizontale zu stemmen. Seine protestierenden Glieder waren vom vielen Sitzen schon ganz taub und steif, aber er war einfach zu müde, um umherzulaufen und beließ es bei der Dehnübung. Da es dunkel war, würde er sowieso nichts sehen, was ihn interessierte. Erst recht nicht Gregory Peck und Audrey Hepburn.

Seufzend plumpste er auf den Sitz zurück und stieß sich gemein das Steißbein. Der Schmerz war so groß, dass er aufkeuchte und nur mit Mühe die automatisch aufsteigenden Tränen verbiss. Gerade rechtzeitig. Da kehrte Dad zurück. Er hatte eine Zeitung gekauft und eine Dose Bier. Er hatte gehofft, dass er ihm etwas mitgebracht hätte. Ein Soda oder irgendetwas typisch Amerikanisches. Einen Cowboyhut vielleicht.

„Ich hab auch Durst", murmelte er, als Dad die Dose öffnete. Seine Kehle brannte.

Mit erstauntem Blick wandte Dad sich ihm zu.

„Entschuldige. Daran hab ich nicht gedacht."

Reuig ließ er ihn das Bier kosten, das bitter schmeckte und ihm Übelkeit verursachte. Wie brachten Erwachsene nur eine ganze Dose davon runter? Aber er hatte einen solchen Durst, dass er mit Todesverachtung die halbe leerte.

„He! Langsam, junger Mann, eigentlich musst du damit noch ein paar Jahre warten. Bestimmt kommt bald der Bordservice", tröstete Dad und tätschelte ihn ein wenig unbeholfen. Es war ihm jetzt doch unangenehm, dass er die Bedürfnisse seines eigenen Sohnes vergessen hatte.

Sein Kopf schwirrte, er konnte ihn nicht mehr gerade halten. Wie etwas, das nicht zu ihm gehörte, schwankte er auf seinem Hals herum. Beängstigend war das. Kläglich ließ er sich gegen das Polster sinken. Die Übelkeit wich einer bleiernen Müdigkeit. Hatte Dad irgendwas in das Bier gemischt? Oder war er besoffen? Von dem bisschen Alkohol? Das konnte ja heiter werden. Er hörte Dad neben sich schnauben.

„Wenn das deine Mutter wüsste", knurrte er. „Du fängst schon an wie sie. Erzähl das bloß nicht ..."

Wem er es nicht erzählen durfte, würde für immer ein Geheimnis bleiben, denn seine Ohren verschlossen sich auf unerklärliche Weise. Mit flatternden Lidern sackte er zur Seite und war gleich darauf weg.

oOo

„Robert!"

Ein zunächst zaghaftes, dann kräftigeres Schütteln an seiner Schulter riss ihn aus unruhigen Träumen. Die Turbinen des Flugzeugs dröhnten. Das Neonlicht blendete ihn, als er vorsichtig die Augen aufschlug und im ersten Moment intuitiv nach dem Arm seines Vaters griff. Leute mit ausdruckslosen Gesichtern flanierten vorbei, packten ihre Taschen aus den Ablagen über den Sitzen und verbreiteten eine allgemeine Aufbruchsstimmung.

Die Hand, die seine umschloss, fühlte sich inmitten der Hektik ermutigend vertraut und doch fremd an. Er konnte sich nicht erinnern, ihn je angefasst zu haben. „Wir sind da", informierte ihn Dad und verzog die Mundwinkel zu einem fast unmerklichen Lächeln. „Am Flughafen Charles de Gaulle in Paris. Hast du deinen Rausch ausgeschlafen oder soll ich dich tragen?"

Erleichtert, dass Dad seinen Ausrutscher ungewohnt humorvoll nahm, versuchte er zurückzulächeln. „Es geht schon."

Die Vorstellung, als Elfjähriger getragen zu werden, hatte etwas Demütigendes. Aber in seinem Zustand auch etwas Verführerisches. Seine Knie schienen aus Gummi zu bestehen, und er war auf Dads Führung angewiesen, weil er keinen blassen Schimmer hatte, in welche Richtung er sich wenden sollte, um den Ausgang zu erreichen.

Es war schon wieder Nacht. Wie ein Schlafwandler lavierte er an der Seite des riesigen Mannes, der routiniert die Koffer abholte, sie beide durch den Zoll schleuste, der hier Douane hieß. Ein Herr in Uniform strich ihm übers Haar, ohne dass er ihn darum gebeten hätte.

„Da ist aber einer müde", sagte er in einem Tonfall, der noch exotischer und schroffer klang als Dads, obwohl es nett gemeint war. Der war inzwischen wieder in seine seelenlose Einsilbigkeit verfallen, vergewisserte sich lediglich hin und wieder, dass Robert seinen Mantel nicht losgelassen hatte; wegen des Gepäcks hatte er keine Hand frei. Dabei war sein Blick alles andere als wohlwollend.

Er kam sich wieder wie der Störenfried vor, der er war. Mum hatte Dad mit ihren neuen Eskapaden einen Strich durch die Rechnung gemacht, denn ursprünglich hatte er ihn nicht mitnehmen wollen. Auf geschäftlichen Reisen waren Kinder hinderlich. Robert fragte sich, wann sie für Dad mal nicht hinderlich waren.

Doch Ausweichstationen kamen nicht in Frage: Tante Amy war krank, Freund Daniel mit den Eltern über die Ferien nach Singapur verreist. Was Dad stirnrunzelnd zur Kenntnis genommen hatte.

Allerdings sagte er nie, was er dachte. Mit einer Gleichgültigkeit, die genauso gut Ärger sein konnte, hatte er sich entschlossen, sein lästiges Anhängsel wohl oder übel mit über den Erdball zu schleifen.

Europa, Frankreich war anders als Oz. Selbst in der Nacht herrschte außerhalb des Flughafens fieberhafte Betriebsamkeit und steckte jeden an, der sich in diesem Kosmos aufhielt. Dad hatte Mühe, ein Taxi zu bekommen, was Robert erstaunte. Sonst gelang ihm alles auf Anhieb.

Endlich hielt eines an. In der Landessprache nannte Dad die Adresse des Hotels in der Innenstadt, wo auch der medizinische Kongress stattfand. Der etwas eigenartig riechende Fahrer studierte grinsend den Zettel mit der Heimatadresse am Koffer und sagte etwas, das er nicht verstand, bis ihm aufging, dass er ihn angesprochen hatte.

Mon fils", erklärte Dad ungeduldig, während er mit dem Chauffeur das Gepäck in den Kofferraum wuchtete. „Il est fatigué. Alors, faites votre travail et allez à l'Hôtel!"

„You nice surfin' Aussie boy", sagte der Fahrer in gebrochenem Englisch zu ihm, und er versteckte sich hinter Dads breitem Rücken, bevor der Kerl ihm wie der Zollbeamte mit dicken Wurstfingern ungeniert übers Haar zausen konnte.

Von der nächtlichen Fassade des Hotels an der Place Vendôme sah er nicht viel, doch die Inneneinrichtung beeindruckte ihn. Das Zimmer war ungefähr so groß wie die Hälfte der Wohnfläche ihres Hauses oder noch größer. Die Möbel sahen alt und teuer aus, und selbst im Badezimmer, dessen Wanne mit einer altmodischen, vergoldeten Armatur ausgestattet war, schwebte ein monströser Kronleuchter von der Decke. Als würden dort normalerweise Queen Victoria und Prince Albert verkehren, von denen er im Geschichtsunterricht gehört hatte.

„Die sind schon lange tot", korrigierte Dad, als er ihm seine Begeisterung mitteilte. Das wusste er natürlich. Aber es sah doch wirklich so aus. „Es gibt ein Schwimmbad im Hotel. Wenn du möchtest, kannst du morgen schwimmen gehen."

„Oh!" sagte er und klatschte in die Hände. Einen Moment lang vergaß er die Scheu vor seinem Vater, den er am liebsten umarmt hätte für das Angebot, es aber doch nicht wagte und sich stattdessen auf ein Herumzappeln beschränkte, um seiner Freude Ausdruck zu verleihen. „Wirklich? Gehst du auch?"

„Mein lieber Junge. Dafür werde ich keine Zeit haben. Ich bin hier, um zu arbeiten. Und jetzt zieh deinen Pyjama an und geh dir die Zähne putzen, bevor du im Stehen einschläfst."

Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Wie ein Großer allein etwas unternehmen, war schließlich auch ganz schön. Nebenbei war es sehr erhebend, dass Dad ihm zutraute, ohne ihn zurechtzukommen.

„Mum würde es hier gefallen", meinte er im Brustton der Überzeugung. „Schade, dass sie nicht hier ist. Ich muss morgen Fotos machen und ihr schreiben."

Noch bevor sein Kopf das mit kühlem Damast bezogene Kissen berührt hatte, war er trotz der Aufregung der vergangenen Tage eingeschlafen.

Sonnenstrahlen schlüpften durch einen Spalt der schweren, geblümten Vorhänge und kitzelten seine Lider. Von der Straße schallte der Lärm des Berufsverkehrs herauf.

Als er die Augen aufschlug, überwältigte ihn ein Gefühl des Verlassenseins, das sich nicht legen wollte. Krampfhaft umklammerte er seinen Teddy, das einzige, das ihm vertraut vorkam, während er an die Decke starrte. Er hatte mit sich gerungen, ob er das abgeliebte Plüschtier einpacken sollte und sich dagegen entschieden. Große Jungen kuschelten nicht mehr mit Spielzeug. Doch als er den Koffer aufgeklappt hatte heute Nacht, war es zuoberst auf seinen Sachen gelegen. Mum hatte es heimlich hineingelegt, weil sie wusste, dass Tony ein Stückchen Heimat in der Fremde bedeutete. Jetzt war er froh darum. Ein bisschen klein durfte er schließlich noch sein, besonders jetzt, wo er sich so entwurzelt fühlte.

Er brauchte eine Weile, um zu rekapitulieren, wo er war und dass sein Vater hier einer wichtigen Tagung beiwohnte. Wehmütig dachte er an Mum, die jetzt auf der anderen Seite der Welt auf ihn wartete. Unwillig wischte er die Tränen des Heimwehs fort. Es gab überhaupt nichts zum Heulen. Er würde viel zu erzählen haben, wenn er wieder bei ihr war.

Dad hatte recht: ein bisschen Neugier hatte noch keinem geschadet. Auch wenn es ihm schwer fiel, die Stadt zu mögen. Gestern hatte sie sich von einer lauten Seite gezeigt, und auch heute schien es nicht viel anders zu sein.

In dem Vorort von Melbourne, wo sie lebten, war es dagegen geradezu beschaulich, obwohl die Stadt ganz sicher nicht klein war. Plötzlich kam er sich vor wie auf dem Mars. Oder als habe man ihn an einem unauffindbaren Ort ausgesetzt, um ihn loszuwerden. So wie die böse Stiefmutter Hänsel und Gretel in den Wald schickt.

Auf dem Nachttisch fand er einen Zettel, auf dem in säuberlichen Handschrift stand, dass nach seinem Schwimmbadbesuch das Frühstück im Speisesaal für ihn gerichtet sei und eine Mademoiselle Chantal, die im Hotel Zimmermädchen war, auf ihn aufpassen würde.

Was? Er sollte den ganzen Tag unter Aufsicht im Hotel vertrödeln? Dafür war er nicht mitgeflogen. Nicht dass er erwartet hatte, dass Dad sich rund um die Uhr mit ihm befasste – es hätte ihm genügt, während des Kongresses einfach bei ihm zu sein und danach vielleicht zur Belohnung gemeinsam ein bisschen Paris erkunden - aber eine Angestellte als Gouvernante zu verpflichten, war beinahe eine Beleidigung. Quengelig oder unvorsichtig war er nicht. Als Einzelkind war er es gewöhnt, sich selbst eine gute Unterhaltung zu sein. So gut sollte Dad ihn doch kennen.

An seiner Unterlippe nagend schaute er grübelnd aus dem Fenster. Die Place Vendôme war eine weltbekannte Geschäftsmeile, hatte Dad gesagt. Was er bestätigt fand. Scharen von Autos flitzten kreuz und quer vor dem Platz umher, hupten einander an, obwohl keiner von ihnen die Verkehrsregeln beachtete. Selbst rote Ampeln wurden einfach ignoriert. Und die bedeuteten doch wohl dasselbe wie daheim in Australien.

Langsam reifte ein Plan in seinem Gehirn. Er würde nicht schwimmen gehen und sich auch nicht das Frühstück servieren lassen und danach unter den Argusaugen eines Zimmermädchens in der Suite mit seinem Gameboy spielen, bis Dad wiederkam. Er würde ihm beweisen, dass er kein Baby mehr war.

Keiner achtete auf ihn, als er mit seinem Rucksack flotten Schrittes das Foyer zum Ausgang durchquerte. Der Portier war an der Rezeption mit einem eintreffenden Gast beschäftigt und hätte ihn vermutlich ohnehin nicht aufgehalten. Er kam sich sehr erwachsen vor.

Nachdem er den Platz mit der Säule (Obelisk hieß das, und hatte irgendetwas mit dem französischen Kaiser Napoleon zu tun) hinter sich gelassen hatte, stieg Beklommenheit in ihm hoch. Teil des Gewimmels zu sein war nicht mehr so amüsant wie es aus der Distanz zu beobachten.

Er suchte eine Stelle, an der er es riskieren konnte, die vielbefahrene Straße zu passieren und verzweifelte fast dabei. Er musste auf die andere Seite, denn dort lagen Geschäfte und Bistros, und er hatte Hunger. In einem der Cafés würde er ganz mondän wie ein richtiger Franzose frühstücken. Lange wartete er, abwechselnd nach beiden Seiten schauend. Irgendwann erschöpfte sich seine Geduld. Wahrscheinlich half nur Rücksichtslosigkeit, so wie man es ihm vormachte. Wenn er anfing, zu rennen, mussten die Autos anhalten.

Mitten im Anlauf wurde ihm plötzlich der Boden unter den Füßen weggerissen, und er schrie erschrocken auf.

„Whoa whoa! So jung und schon lebensmüde."

Der Mann, der ihn daran gehindert hatte, über die viel befahrene Straße zu springen, war ein Hüne, etwa so wie Dad. Er bemerkte es schon an der Höhe, in die er ihn bei seiner Rettungsaktion katapultierte. So rasch, wie er ihn aufgefangen hatte, ließ er ihn wieder hinunter, aber nicht los. Seine Hand schloss sich warm um seine eigene, die völlig darin verschwand und feucht wurde.

Als er hoch schaute, funkelten große, erstaunlich blaue Augen in einem hageren Gesicht auf ihn herab. Weder tadelnd noch freundlich maßen sie ihn von Kopf bis Fuß. Der Blick hatte etwas Durchdringendes, das ihn fesselte, fast hypnotisierte. Doch nicht nur die Augen und die Größe seines Beschützers taten es ihm an – er sah aus wie der heilige Johannes in der heimatlichen Kapelle, der dort aus Holz gehauen als Verkünder des Heilands verewigt war. Mit asketischen Zügen, langen, sehnigen Armen und Beinen und einem traurigen Ausdruck im Gesicht, der ihn jedes Mal würgen ließ vor Mitleid. Selbst den konnte er an dem Mann erkennen. Der beruhigende Gedanke, von Johannes dem Täufer persönlich eskortiert zu werden, ließ ihn Vertrauen fassen. Er drückte die Hand fester.

Die Haare des Mannes waren braun und leicht gewellt, an Kinn und Kehle schillerte ein dunkler Bartschatten. Er sah jünger aus als Dad, war aber schon erwachsen und hatte leichte Fältchen um die Augenwinkel, von denen sich eine steil hinunter zur Wange zog. Als er kurz lächelte, zeigte sich ein Grübchen darauf.

Obwohl er ihn immer noch festhielt, konzentrierte er sich jetzt auf den Verkehr, ging mit ihm in raschem, aber nicht zu schnellem Tempo bis zur Mitte der Straße, hielt dort an, um ein paar Autos vorbei zu lassen, signalisierte dem nächsten Fahrer, dass er halten sollte und brachte ihn sicher an sein Ziel, die andere Straßenseite.

„Danke", hauchte er. Der Mann hatte Englisch gesprochen, wenn auch mit komischem Akzent (amerikanisch?) dann verstand er ihn bestimmt. Er nickte ihm kurz zu, ließ seine Hand los, fuhr grinsend mit der Handfläche über seinen dunklen, knielangen Mantel (er schämte sich seines Schweißausbruches) und verschwand.

Vergeblich reckte er den Hals, um ihm mit seinem Blick zu folgen. Er war fort, als hätte er sich in Luft aufgelöst.

Fröstelnd schulterte Robert seinen Rucksack, der heruntergerutscht war und bummelte die Chaussee entlang auf der Suche nach einem Café, das ihm gefiel. Auswahl gab es hier genug.

Um nicht weiter über das rätselhafte Auftauchen des Mannes zu brüten, akzeptierte er den Zwischenfall als eine Begegnung mit seinem Schutzengel. Komisch nur, dass er keine Flügel gehabt hatte. Mit einem Achselzucken schlenderte er weiter. Vielleicht waren die auf der Erde unsichtbar. Ja, so musste es sein.

Die Leute sahen ihm nach. Die meisten besorgt, manche belustigt. Er wusste, dass er oft jünger geschätzt wurde und vermutlich darum Aufsehen erregte. Kleine Kinder waren nicht ohne Begleitung unterwegs. Das war gefährlich. In einer überfüllten Stadt noch mehr als auf dem Land. Aber er würde sich zu wehren wissen. – Würde er das? Er hatte sich nicht gewehrt, als der Fremde ihn gepackt hatte. Was, wenn er geplant hätte, ihn zu kidnappen? Theoretisch hätte er ihn schnell in eine kleine Gasse zerren und ihn unbemerkt töten können. Oder Lösegeld von Dad erpressen.

Auf einmal hatte er Angst unter den vielen Leuten, deren Sprache er nicht sprach. Sein Entdeckerdrang und der, Dad zu demonstrieren, dass er schon groß war, verflüchtigten sich angesichts der Erkenntnis, dass er nicht einmal etwas bei sich trug, um sich zu verteidigen, falls man ihn angriff. In seinem Rucksack hatte er nur einen Stadtplan, ein paar Haushaltgummis und den Geldbeutel mit zwanzig Dollar. Er besaß nicht mal französisches Geld, um sein französisches Frühstück zu bezahlen.

Ein junges Paar flanierte fröhlich schwatzend an ihm vorbei. Aus der Tasche der jungen Frau ragte ein längliches, appetitlich aussehendes Brot, und er merkte, dass der Hunger stärker war als die Angst.

Er holte tief Luft und stemmte sich gegen die Glastür mit der Aufschrift „Boulangerie ~ Café", aus dem das Pärchen getreten war.