Müde
hob Lily die Hand und schob eine Strähne ihres langen Haares
hinter ihr Ohr, während sie seufzend aus dem geöffneten
Fenster schaute. Es dämmerte bereits und sie konnte hören,
wie einige der anderen Schüler den warmen Sommerabend damit
verbrachten, Quidditch zu spielen und die eine oder andere Runde um
den See zu spazieren. Sie erkannte James und Sirius, die auf ihren
Besen durch die Luft sausten und sich dabei johlend den Quaffel
zuwarfen.
Für einen kurzen Moment dachte sie daran, sich
ihnen anzuschließen und alle Gedanken an die bevorstehenden
Prüfungen einfach wie einen Mantel abzustreifen und den Abend zu
genießen, aber dann entschied sie sich doch dagegen.
Wild
entschlossen, in Zauberkunst mindestens ein ‚Erwartungen
übertroffen' zu schaffen, vertiefte sie sich wieder in die
Bücher.
Ihre Lippen bewegten sich lautlos, während sie
den furchtbar langweiligen Abschnitt über die Koboldaufstände
las, ohne überhaupt zu verstehen, was der Sinn dahinter war.
Oder ob es überhaupt einen gab.
Das Lachen, das durch
das geöffnete Fenster drang, lenkte sie zunehmend ab, und sie
musste sich eingestehen, dass sie James und Sirius um ihre
Sorglosigkeit beneidete. Langsam stand sie auf und ging zum Fenster,
um es zu schließen.
Als sie wieder zu ihrem Tisch zurück
ging, bemerkte sie, dass sich die Tür der Bibliothek lautlos
öffnete und eine Gestalt hereingehuscht kam.
"Severus",
entfuhr es ihr, was ihr einen strafenden Blick von Madam Pince
einbrachte, die sie mit einem rasch aufgesetzten Lächeln zu
besänftigen versuchte.
Der große, hagere Junge zuckte
zusammen, fing sich jedoch schnell wieder und nickte ihr dann knapp
zu, ehe er sich an einen Tisch weit weg von ihrem setzte.
Seine
schwarzen Haare fielen wie ein Vorhang vor sein blasses Gesicht, so
dass sie lediglich seine Nase sehen konnte, und plötzlich musste
sie an all die Sachen denken, die James und seine Freunde Snape
zuzischten, wenn sie ihm begegneten... wobei "Schiefelus"
noch mit Abstand das Freundlichste war.
Lily war sich nie ganz sicher, ob sie Mitleid empfinden oder das Lachen unterdrücken sollte, wenn Snape von James lächerlich gemacht wurde. Nicht, dass sie die Scherze und Gemeinheiten von Potter je lustig finden konnte, im Gegenteil, aber es erstaunte sie jedes Mal, dass der sonst so ernste und beherrschte Severus es auch nach fünf Jahren immer noch nicht fertig brachte, James einfach zu ignorieren.
Sie
beobachtete, wie Snape eine Rolle Pergament aus seiner Tasche
hervorholte und es auf dem Tisch ausbreitete. Seine Hand huschte
eifrig über das Papier und im nächsten Moment war das
Kratzen seiner Feder das einzige Geräusch in der Bibliothek.
Lily wandte sich wieder ihren Büchern zu, aber als sie
einige Zeit später den Kopf hob, bemerkte sie, dass Snape sie
beobachtete.
Hastig senkte er den Blick und ohne zu wissen, warum
sie es tat, stand sie auf und setzte sich neben ihn.
Das, was
sie von seinen Zügen erkennen konnte, verriet ihr nicht, was er
über die Unterbrechung dachte, aber sie beschloss, ihm keine
Gelegenheit zum Protestieren zu geben.
"Aufsatz über
die Eigenschaften von Einhornblut?", fragte sie mit einem Blick
auf sein Pergament.
Seine schwarzen Augen funkelten sie an und er
hatte diesen Blick, bei dem sie nicht wusste, ob er ihr zugehört
hatte oder überhaupt antworten würde.
"Offensichtlich",
sagte er schließlich, wobei sein Ton ihr unmissverständlich
sagte, dass er am liebsten aufgestanden und gegangen wäre.
"Ich lerne für die ZAGs", sagte sie und
deutete auf den Stapel Bücher auf ihrem Tisch, und es hätte
sie nicht überrascht, wenn er unbeeindruckt "Ja, und?"
geantwortet hätte.
Er sagte aber gar nichts, sondern starrte
sie weiter an, so als würde er zu ergründen versuchen,
warum sie sich zu ihm gesetzt hatte.
Es erinnerte sie daran,
wie sie ihn das erste Mal gesehen hatte, damals im Hogwarts Express
vor fünf Jahren. Niemand hatte mit ihm das Abteil teilen wollen,
und nachdem sie eine Stunde vergeblich versucht hatte, etwas wie eine
Unterhaltung zustande zu bringen, war ihr auch klar geworden, warum
das so war. Der hässliche, dünne Junge mit der großen
Nase war nicht nur mürrisch und ungesellig, sondern gab, wenn er
den Mund aufmachte, meistens nur boshafte Dinge von sich.
Sie
hatte sich nicht von ihm einschüchtern lassen, sondern hatte
lediglich kühl gesagt, dass der verkniffene Ausdruck auf seinem
Gesicht ihn aussehen ließ, als hätte er eine zu enge
Unterhose an. Severus hatte kein weiteres Wort mehr mit ihr
gewechselt, sondern nur stumm aus dem Fenster gestarrt, aber Lily war
nicht aufgestanden, um sich ein anderes Abteil zu suchen.
Im
Laufe der Jahre hatte sie miterlebt, wie sich der fahlgesichtige
Junge zu einem talentierten Zauberer entwickelte, dessen Zauberkünste
mit denen von weitaus älteren Schülern durchaus mithalten
konnten. Dieser Umstand machte ihn jedoch nicht beliebter bei den
anderen, im Gegenteil, er war derjenige, mit dem kaum jemand beim
Essen am Tisch sitzen oder die Wochenenden in Hogsmeade verbringen
wollte. Eine Handvoll Slytherins waren die einzigen Leute, die sich
mit ihm abgaben, darunter Lucius Malfoy, den Lily zutiefst
verabscheute.
Und obwohl die Gryffindor es sich zu einer Art
Sport gemacht hatten, Snape zu demütigen und zum Gespött
der Schule zu machen, konnte Lily nicht von sich behaupten, diese
kleinen Aufführungen zu genießen.
Sie hasste Snape
nicht.
Und sie wusste nicht einmal, wieso.
Es gab nichts an
ihm, was in irgendeiner Weise liebenswürdig gewesen wäre,
und doch...
Vielleicht war es die Art, wie sie manchmal einen
Blick auf ihn erhaschte, wenn die anderen Schüler Eulen von
ihren Eltern bekamen und Snape, dem nie jemand schrieb, ihnen zusah,
wie sie Pakete und Briefe öffneten, mit einem Gesichtsausdruck,
der eine Mischung aus Neid, Bitterkeit und Enttäuschung war.
Vielleicht war es der tiefe Ernst, der von ihm ausging, und bei
dem sich Lily immer fragte, warum ein Junge in seinem Alter nie einen
Grund fand, sich über irgendetwas zu freuen.
Aber vielleicht
waren es auch jene seltenen Momente, in denen Snapes harten
Gesichtszüge plötzlich ganz weich wurden, und die Fassade
allmählich von seinem Gesicht abbröckelte.
So wie jetzt.
Lily wusste nicht, ob er sich dessen bewusst war, aber
sie sah die Veränderung in seiner Körperhaltung und seinem
Gesicht.
Es geschah meistens, wenn sie alleine waren und
aufeinander trafen, dass Lily einen plötzlichen Impuls
verspürte, etwas zu ihm sagen. Es war nie etwas wirklich
Bedeutsames, vielleicht über Zaubertränke oder Quidditch
oder Prüfungen, aber aus irgendeinem Grund wollte sie sehen,
dass es noch einen anderen Snape gab, der hinter der Maske verborgen
war.
Diese seltenen Begegnungen zwischen ihnen endeten genauso
unspektakulär, wie sie anfingen, und obwohl Snape nicht viel zu
der Unterhaltung beisteuerte, wusste Lily, dass er mehr zu ihr sagte,
als er vielleicht in den letzten zehn Tagen gesprochen hatte.
Es war eine seltsame, wenngleich auch vertraute Art, wie Lily leise über die Prüfungen sprach und Snape hier und da einen einsilbigen Kommentar von sich gab, so wie er es immer tat, wenn sie sich unterhielten.
Und doch waren seine schwarzen Augen auf sie
fixiert und seine Lippen zu einer dünnen Linie verzogen, während
er ganz still dasaß, so als müsste er sich konzentrieren,
sich nicht anmerken zu lassen, was er dachte.
Für Lily sah
es immer so aus, als würde etwas in ihm sich darum streiten, ob
er sich die ganze Nacht mit ihr unterhalten oder sie lieber zum
Teufel jagen wollte.
Lily wusste, dass er ihr nachsah, als
sie wieder aufstand und zu ihrem Platz ging.
Und sie wusste, dass
er am folgenden Tag in Zaubertränke nicht ein Wort mit ihr
wechseln würde, sondern ihr lediglich hinter dem schützenden
Schleier seiner Haare verstohlene Blicke zuwerfen würde.
Blicke, die sie sehr wohl bemerkte- und die aus irgendeinem Grund nicht den Abscheu in ihr erweckten, den sie vielleicht erwartet hätte.
