Unter Feinden

Der Anfang vom Ende

Nun ist es also passiert. Mein Name wurde gezogen – ausgerechnet meiner. Ich konnte es noch nicht ganz fassen. Ich würde tatsächlich als Tribut an den 74sten Hungerspielen teilnehmen müssen. War es egoistisch, sich jemand anderen an meiner Stelle zu wünschen? Vielleicht, aber ich konnte nicht anders. Hilfesuchend blickte ich umher. In Distrikt 2 gab es fast jedes Jahr Freiwillige, die im Gegensatz zu mir auf den Kampf um Leben und Tod vorbereitet waren – warum nicht auch dieses Jahr? Ich ließ meinen Blick über die vielen verschiedenen Gesichter wandern, in der Hoffnung, ein Mädchen zu finden, das sich allem Anschein nach freiwillig melden würde, doch meine Suche blieb erfolglos. Die meisten hielten ihren Blick auf die Bühne geheftet, waren begierig darauf, die diesjährigen Tribute zu begutachten. Andere sahen sich bereits ungeduldig nach der Person um, dessen Name gerade gezogen wurde – nach mir. Gerade, als ich meine Suche nach einer Freiwilligen aufgeben wollte, sprang mir ein Gesicht ins Auge. Es kam mir bekannt vor.

Das Mädchen, zu dem das Gesicht gehörte, hatte braune lange Haare, dazu passende große dunkle Augen, die mich hasserfüllt anfunkelten und trug ein hämisches Grinsen auf den Lippen. "Clove" war ihr Name, da war ich mir ziemlich sicher. Verglichen mit den anderen Mädchen, die an der Akademie trainierten, um sich eines Tages freiwillig für die Hungerspiele zu melden, war sie eher klein und zierlich – aber ich wusste, dass man sie besser nicht unterschätzte. Ich hatte in den letzten Jahren mehrmals von ihrem Talent im Umgang mit Messern gehört. Sie war gut, sehr gut sogar und verfehlte nie ihr Ziel. Ich hatte nicht viel mit ihr zu tun, aber hin und wieder liefen wir uns über den Weg. Ich mochte sie noch nie besonders, auf mich machte sie immer einen bösartigen, hinterlistigen Eindruck und sie ließ mich unmissverständlich wissen, dass sie mich genauso wenig leiden konnte. Unwillkürlich musste ich mich an unser erstes Aufeinandertreffen erinnern.

Ich war gerade auf dem Weg nach Hause, als ich es hörte – schrille Schreie und dann ein Wimmern, ganz in der Nähe. Es dauerte nicht lange, bis ich die Ursache dafür entdeckt hatte. Clove saß auf einem Mädchen, das ich nicht kannte und drückte sie zu Boden. Sie hatte ein Messer in der Hand und offensichtlich Spaß daran, das Mädchen unter ihr leiden zu sehen. Erst bei näherem Hinsehen vielen mir die Schnitte in dessen Gesicht auf – das musste der Grund für ihre Schreie gewesen sein. Ich entschied mich damals dazu, dem Mädchen zu helfen und zerrte Clove von ihr herunter, sodass es aufstehen konnte und letztlich wegrannte. Clove war wütend, wirklich richtig wütend, drehte sich blitzschnell zu mir um und zielte mit ihrem Messer auf mich. Ich hatte glücklicherweise schon von ihren Wurfkünsten gehört und konnte so gerade noch rechtzeitig ausweichen, sodass es nur einen leichten Schnitt an meinem Arm hinterließ. Kurz darauf sah ich Clove frustriert und rot vor Wut auf mich zurennen. Es kam zu einem kurzen Gerangel, aber ich war größer als sie und schaffte es, sie mit einem glücklichen Schlag gegen den Kehlkopf abzuwimmeln. Als sie erneut angreifen wollte stieß ich sie so heftig ich konnte von mir weg und sie landete mit dem Kopf direkt auf dem harten Steinboden, was ihr eine ordentliche Gehirnerschütterung und eine Platzwunde einbrachte. Später erfuhr ich, dass sie sich bei dem Sturz zudem das Handgelenk verstaucht hatte. Für diese Erniedrigung hatte sie mich seitdem gehasst und ich war dankbar, dass sich meine Eltern gegen das Training für die Hungerspiele entschieden haben und ich ihr nicht jeden Tag in der Akademie über den Weg laufen musste, denn so nachtragend, wie sie war, würde ich wetten, dass sie alles dafür geben würde, sich an mir zu rächen. Kein Wunder, dass sie sich über die Ziehung meines Namens freute. Sie wusste, dass ich keine Chance hatte zu gewinnen. Wer weiß, vielleicht hätte sie sich dieses Jahr sogar freiwillig melden sollen und verzichtete nun extra meinetwegen darauf. Na vielen Dank.

Ich schluckte trocken. Inzwischen war ich mir ganz sicher, dass niemand meinen Platz einnehmen würde, es wäre sonst schon längst geschehen. Mit langsamen Schritten bahnte ich mir einen Weg durch die Menge und zur Bühne, auf welcher man mich schon freudig erwartete. Ich warf der Frau, welche eindeutig Kleidung aus dem Kapitol trug, nur einen flüchtigen Blick zu und blieb dann regungslos auf der Bühne stehen, ließ meinen Blick über die Menge schweifen. Es dauerte ein wenig, aber schließlich entdeckte ich meine Mutter, welche sich die Hände vor das Gesicht hielt und von meinem Vater gestützt werden musste. Von hier aus konnte ich nicht sehen, ob sie weinten oder nicht, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie es taten. Ich zwang mich dazu, den Blick abzuwenden. Ich durfte jetzt nicht in Panik geraten und losheulen, schließlich gab es hier überall Kameras und ich konnte es mir nicht leisten, schon jetzt als Schwächling abgestempelt zu werden.

Es war alles so unwirklich und ich fühlte mich wie in Trance. Ich bekam nicht einmal mit, wer als mein Distriktpartner auserkoren wurde. Erst als ich plötzlich sah, wie ein blonder Junge fast schon zu enthusiastisch die Hand hob und auf die Bühne stürmte, holte mich die Realität wieder ein.

Oh Gott. Bitte nicht.

Der Junge war monströs - mir fiel kein passenderes Wort ein, um ihn zu beschreiben. Er war riesig, bestand praktisch nur aus Muskeln und war absolut von sich überzeugt, das konnte ich ihm ansehen. Es bestand kein Zweifel daran, dass er jahrelang, wenn nicht sogar sein ganzes Leben, für diesen Augenblick trainiert haben musste. Er war einer der Karrieretribute, die man jedes Jahr in den Hungerspielen zu sehen bekam und es war in den allermeisten Fällen einer von ihnen, die wieder nach Hause zurückkehrten. Wie sollte ich gegen jemanden wie ihn gewinnen? Ich versuchte die Hoffnungslosigkeit, die gerade dabei war aufzukeimen, zu unterdrücken und redete mir stattdessen ein, dass ich immer noch eine Chance hatte. Es kam schließlich hin und wieder vor, dass die Spiele eine überraschende Wendung nahmen und Tribute gewannen, denen man dies nie zugetraut hätte.

Als wir uns die Hände schüttelten, wie es von uns erwartet wurde, musste ich mich zusammenreißen, um nicht vor Schmerz zusammenzuzucken. Cato, so hieß mein Distriktpartner, hatte einen verdammt festen Händedruck. Seine Präsenz war bedrohlich und einschüchternd, wenn er einem so nahe war und ich wettete, dass ihm das bewusst war. Vermutlich genoss er es. Ich zwang mich dazu, ihm in die Augen zu sehen und hoffte, dass ich entschlossen und selbstsicher wirkte, als er mich mit einem arroganten Grinsen ansah. Wenn er mich für so armselig und schwach hielt, wie ich mich gerade fühlte, war ich aufgeschmissen. Ich durfte mich nicht von ihm einschüchtern lassen – oder es zumindest nicht zeigen.

Der Abschied von meiner Familie und meiner einzigen Freundin hier im Distrikt war herzzereißend. Sobald mein Vater den Raum betrat, überrannte mich die Verzweiflung und die Angst, vor dem, was kommen würde und ich brach in Tränen aus.

"Du schaffst das, Alissa." Mein Vater versuchte mich aufzubauen, wie er es immer tat, doch seine Stimme klang zunehmend brüchig und schwach. "Du kommst wieder nach Hause, okay? Du schaffst das." Dann versagte seine Stimme und auch er fing an zu weinen. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich ihn so verzweifelt erlebt hatte.

Meine Mutter bekam kaum ein Wort heraus. Sie schluchzte unkontrolliert, als sie mich umarmte und ich machte mir sorgen um sie, um sie alle. Was wäre, wenn ich nie mehr nach Hause zurück kommen würde? Die Angst machte mich wahnsinnig. Selbst mein jüngerer Bruder musste weinen, als wir uns verabschiedeten – und dass, obwohl wir zu Hause eigentlich nie richtig miteinander auskamen und uns permanent über die lächerlichsten Dinge streiten mussten. Ich wollte sie nicht gehen lassen, aber schließlich kam der Moment und die Friedenswächter begleiteten sie nach draußen. Jetzt würde ich sie vielleicht nie wieder sehen. Mir blieb nur noch ein wenig Zeit, um mich von meiner Freundin zu verabschieden, meiner einzigen richtigen Freundin. Die einzige Freundin, die mich verstand und der ich vertraute. Ich war froh, sie zu sehen, schließlich war es womöglich das letzte Mal, doch auch sie wurde viel zu schnell wieder aus dem Raum eskortiert.

Dann war alles vorbei und ich fühlte mich plötzlich unglaublich verloren, doch mir blieb kaum Zeit darüber nachzudenken, denn kurz darauf wurde ich auch schon zum Bahnhof gefahren, welcher ganz in der Nähe lag. Hier wartete bereits der Zug, welcher uns auf direktem Wege ins Kapitol bringen würde und ich sah zum ersten Mal meinen Distriktpartner wieder. Mit seinem selbstgefälligen Grinsen sah er diesmal noch überheblicher aus als bei der Ernte. Ich mochte ihn nicht. Ich versuchte mir vorzustellen, wie seine Familie sich wohl von ihm verabschiedet hatte und kam zu dem Schluss, dass sie vermutlich alle stolz waren und sich darauf freuten, ihn auf den Leinwänden in Aktion zu sehen. In unserem Distrikt war das nicht unüblich, es hatte schließlich auch einen Grund, dass Eltern ihre Kinder auf Akademien schickten, um sie zu brutalen Killermaschinen ausbilden zu lassen. Distrikt 2 hatte keine Angst vor den Hungerspielen. Die meisten freuten sich sogar darauf und sahen sie eher als Sport, in dem sie sich beweisen konnten. Meine Familie hatte nie viel von dieser Einstellung gehalten. Trotzdem war ich immer froh, in Distrikt 2 zu leben, denn wir hatten nicht nur das Glück, im Vergleich zu den meisten anderen Distrikten, sehr gut leben zu können, ich hatte auch nie besonders große Angst vor der Ernte. Schließlich gab es hier fast immer Freiwillige. Fast immer.

Der Zug war luxuriös und komfortabel eingerichtet und ich fragte mich, ob es im Kapitol wohl überall so aussah. Es dauerte nicht lange, bis wir das erste Mal unsere Mentoren kennenlernten. Brutus und Enobaria. Auf mich wirkten sie beide unbarmherzig und irgendwie bedrohlich – vor allem Brutus. Ich war mir sicher, dass er vom selben Schlag war wie Cato. Während Brutus diesen unverzüglich unter seine Fittiche nahm, zeigte Enobaria mir mein Schlafabteil und ich war dankbar dafür, einen Ort zu haben, an dem ich für mich sein konnte. Als ich mich auf mein Bett legte, fielen mir augenblicklich die Augen zu.

Ich träumte von zu Hause und meiner Familie, davon, dass mein Name nie gezogen wurde und dass es uns gut ging. Doch plötzlich veränderte sich die Umgebung und ich befand mich in der Arena. Flammen waren überall und es war unglaublich heiß. Ich wusste nicht, was ich tun sollte und stand einfach nur da, bis Schritte hinter mir ertönten. Ich drehte mich um und sah Brutus und Cato, kurz dahinter Enobaria und andere Tribute, die ich nicht kannte. Siie wollten mich töten, das wusste ich sofort und ich versuchte mit aller Kraft loszurennen, aber meine Beine bewegten sich so quälend langsam, dass ich wusste, sie würden mich bald einholen. Es war, als wäre da eine unsichtbare Kraft, gegen die meine Beine einfach nicht ankamen. Die Schritte hinter mir wurden immer lauter und lauter, so laut, dass es fast schon in den Ohren wehtat. Es klang beinahe wie ein Klopfen... ein Türklopfen.

Ich öffnete die Augen und mir wurde klar, dass es nur ein Traum war. Das Türklopfen war aber immer noch da und plötzlich hörte ich Enobarias Rufe: "Hey! Komm raus da, es gibt Abendessen!". Richtig, sie konnte nicht reinkommen, schließlich hatte ich abgeschlossen. Ich fragte mich, wie lange sie wohl schon versucht hatte mich aufzuwecken, bevor ich mich dazu entschied ihr zu antworten.

"Schon gut, komme sofort", grummelte ich. Eigentlich wollte ich freundlicher klingen, aber dafür war ich wohl noch zu müde. "Wird auch Zeit!", rief sie mir durch die Tür zu und klang dabei schon recht genervt. Das ging ja schon gut los.

Ich machte mich kurz frisch und zog mich um, bevor ich die Tür öffnete und Enobaria sah, die mich finster anblickte. "Tut mir Leid, ich bin eingeschlafen", erklärte ich ihr diesmal etwas freundlicher, doch sie gab mir mit einer Handbewegung nur zu verstehen, dass ich ihr folgen sollte. Im Speisewagen fühlte ich mich augenblicklich wieder unwohl. Enobaria setzte sich neben Brutus und so blieb mir nichts anderes übrig, als mich neben meinen Distriktpartner zu setzen, der bereits am Essen war. Auch ich schlug mir nun den Magen mit den leckersten Gerichten voll, bis mir übel war. So gut hatte ich schon lange nicht mehr gegessen.

"Also Junge, was sind deine Stärken?", fragte Brutus, während er Cato musterte und klang dabei schon recht optimistisch. "Ist das nicht offensichtlich?", erwiderte Cato mit seinem typischen selbstgefälligen Grinsen. Er ging mir jetzt schon auf die Nerven. Brutus gab sich damit scheinbar nicht zufrieden, denn er sah ihn fragend an und wartete offenbar noch immer auf eine Antwort. "Ich bin der beste in meinem Jahrgang", begann Cato und ich drehte meinen Kopf kurz zur Seite und sah mir die aufwendig verzierten Wände an, um meinen genervten Gesichtsausdruck zu verbergen, "im Nahkampf bin ich unschlagbar." "Was sind deine bevorzugten Waffen?", fragte Brutus ungeduldig. "Schwerter und Speere", antwortete Cato, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. "Sehr schön, damit können wir arbeiten", hörte ich Brutus sagen, welcher nun ein siegessicheres Grinsen auf den Lippen trug. Dann wandte er sich mir zu: "Was ist mit dir, Mädchen? Was sind deine Stärken?"

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich hatte im Grunde keine Stärken, zumindest keine, die mir hier helfen würden, aber das konnte ich schlecht offen zugeben - vorallem nicht, wenn Cato, mein potenzieller Mörder, direkt neben mir saß. Ich warf einen kurzen Blick auf Enobaria, welche mich wie Brutus erwartungsvoll ansah. Was sollte ich ihnen sagen? Dass ich in meinem ganzen Leben noch nie eine Waffe in der Hand gehalten hatte? Dass ich keine Ahnung vom Kämpfen hatte? Wohl eher nicht, aber das war die Wahrheit. Es gab für mich nie einen Grund, den Umgang mit irgendwelchen Waffen zu erlernen. Schließlich bin ich auch nie davon ausgegangen, dass ich einmal in den Hungerspielen um Leben und Tod kämpfen müsste.

Fieberhaft suchte ich nach potenziellen Stärken, die mir eventuell einen Vorteil verschaffen könnten, um zumindest eine halbwegs vernünftige Antwort geben zu können. "Ich bin clever", begann ich, wahrscheinlich etwas zu zögerlich, und warf Cato einen düsteren Blick zu, als er losschnaubte, "und ich bin schnell." Das klang selbst in meinen Ohren nicht sehr überzeugend. Super. "Noch irgendwas anderes?", fragte Brutus sichtlich amüsiert, "Oder hast du vor, die ganzen Spiele über vor deinen Gegnern wegzulaufen?"

Eigentlich hatte ich genau das geplant. Ich schätzte, dass diese Strategie in meinem Fall am erfolgversprechendsten war. Brutus gefiel das scheinbar nicht.

"Naja..", begann ich, "es ist schon öfter vorgekommen, dass die cleversten Trib-". Doch Brutus schnitt mir das Wort ab. "Nicht aus meinem Distrikt!", er klang aufgebracht, "Tribute aus Distrikt 2 sind keine Feiglinge, die sich verstecken und wegrennen! Wir sind Kämpfer! Wir sind gefährlich! Und ich werde nicht zulassen, dass du den Leuten da draußen einen anderen Eindruck vermittelst, ist das klar?" Ich starrte ihn an und war für einen Augenblick sprachlos. "Beherrsch dich Brutus", erwiderte Enobaria, bevor ich mich verteidigen konnte. "Sie kommt nun mal offensichtlich nicht von der Akademie", fuhr sie fort und wandte sich dann mir zu. Offensichtlich? Sah ich wirklich so schwach aus? "Das erste, was du im Trainingscenter tun wirst, ist dir eine Waffe auszusuchen, klar? Wenn du damit einigermaßen umgehen kannst, sind wir schon mal einen guten Schritt weiter", erklärte sie mir nun. Ich nickte bloß. Ihr Ton war zwar ziemlich befehlshaberisch, aber Enobaria war mir definitiv dennoch um einiges sympathischer als Brutus. "Also, kommen wir zu euren Schwächen. Bei dir brauch ich wohl gar nicht erst anzufangen", er sah mir direkt in die Augen und ich spürte, wie ich langsam einen Hass auf den Mann entwickelte, dann wanderte sein Blick weiter zu meinem Distriktpartner, "wie sieht's bei dir aus, Junge?" Diesmal hatte Cato offenbar Probleme damit, eine Antwort zu finden. Nach einigen Sekunden sagte er schließlich: "Ich habe keine Schwächen." Er legte den Kopf kurz in den Nacken und setzte sein typisches Grinsen auf, während ich ihn ungläubig ansah. War das sein Ernst? War er wirklich dermaßen von sich überzeugt?

"Selbstüberschätzung ist auch eine Schwäche", murmelte ich und erschrak, als Brutus laut loslachte. "Haha, da hat die Kleine Recht." Vielleicht war er doch nicht so übel, wie ich dachte. Ich warf einen Blick auf Cato und erschrak ein zweites Mal, als ich sah wie er mich anstarrte. Seine blauen Augen funkelten hasserfüllt und durchbohrten mich regelrecht. Ich zwang mich, nicht wegzusehen und war froh als Brutus wieder das Wort ergriff und ich meine Aufmerksamkeit auf ihn richten konnte. "Selbstüberschätzung kann gefährlich sein, Junge", sagte er und sah Cato ernst an, doch ich konnte ihm ansehen, dass er noch immer amüsiert war. "In Ordnung, genug für heute!", hörte ich Enobaria krächzen, "Es wird Zeit, dass wir uns eure Gegner ansehen."

Die Ernte in den anderen Distrikten verlief relativ unspektakulär. In Distrikt 1 gab es wie so oft zwei Freiwillige. Als unser Distrikt gezeigt wurde, war es zunächst ungewohnt, mich selbst auf dem Bildschirm zu sehen, aber ich war erfreut darüber, dass ich nicht so ängstlich und verzweifelt aussah, wie ich mich gefühlt hatte. In Distrikt 4 gab es dieses Jahr keine Freiwilligen, was aber auch sonst nicht unbedingt immer der Fall war. Während die Ernte der folgenden Distrikte gezeigt wurde, hörte ich Cato hin und wieder kurz schnauben und murmeln, wie schwach die Tribute dieses Jahr doch waren.

Erst Distrikt 11 schaffte es wieder, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Zunächst war da ein kleines Mädchen, das ich auf 12 oder 13 schätzte und die mir auf der Stelle Leid tat – sie hatte keine Chance. Doch dann gab es da noch ihren Distriktpartner, der genauso monströs war wie Cato und auf mich ziemlich bedrohlich wirkte. Cato sagte nichts.

In Distrikt 12 wurde ein kleines Mädchen auserkoren, für das ich sofort das selbe Mitleid empfand wie für das Mädchen aus 11. Doch noch bevor es ein paar Schritte in Richtung Tribüne gehen konnte, schrie ein anderes Mädchen ihren Namen und meldete sich schließlich freiwillig an ihrer Stelle. Die Szene war herzzereißend und ich wusste in dem Moment, dass sie alles tun würde, um für das kleine Mädchen, welches vermutlich ihre Schwester war, zu gewinnen. Der männliche Tribut aus ihrem Distrikt wirkte verzweifelt und geschockt, als er die Tribüne betrat, aber er sah dennoch stark aus.

"Unterschätzt eure Gegner nicht", hörte ich Enobaria sagen, doch ich war mir sicher, dass diese Warnung eher an Cato gerichtet war. Ich schnaubte kurz, weil ich mir sicher war, dass er genau das tat. Dann stand ich auf und verabschiedete mich von meinen Mentoren, um mich auf den Weg zu meinem Zimmer zu machen. Als ich mich noch einmal kurz umdrehte, musste ich feststellen, dass Cato seinen Blick auf mich gerichtet hatte, welcher entweder finster oder einfach nur selbstgefällig war. Ich war mir, was das anging, nicht ganz sicher, aber er reichte aus, um mir einen kleinen Schauer über den Rücken zu jagen. Ich warf ihm noch einen düsteren Blick zu, bevor ich den Speisewagen verließ. Was solls, ich würde mich sowieso nicht mit ihm und den Tributen aus Distrikt 1 verbünden – ich wusste dass sie in der Arena zusammenarbeiten würden, da es ja Tradition war. Aber ich war schließlich kein Karrieretribut und Cato wusste dank des netten Gesprächs beim Abendessen jetzt schon, dass ich nicht kämpfen konnte. Warum sollte ich also nett zu ihm sein, vor allem, wenn er genauso wenig nett zu mir war?

Ich dachte nicht weiter darüber nach und freute mich auf mein Bett. Bevor wir im Kapitol ankommen würden, wollte ich mich noch einmal hinlegen und versuchen zu schlafen. Das Geschehene sacken lassen.

Doch gerade als die Tür zu meinem Schlafabteil schon in Sichtweite lag, hörte ich schwere, gedämpfte Schritte hinter mir. Ich wusste sofort, wer es war, ohne mich umdrehen zu müssen.