Drittes Zeitalter, 2941 Jahr der Zeitrechnung,
Rhovanion, Erebor
Winter
Hastig duckte sich Fíli unter der heranpfeifenden Orkklinge weg und stieß in der Abwärtsbewegung gleichzeitig mit dem Schwert zu, dass er in der rechten Hand hielt. Die Kreatur, die vor ihm stand, war so darauf bedacht, den Zwerg einen Kopf kürzer zu machen, dass sie ihre Deckung fallen gelassen hatte und das schartige Schwert in ihren Klauen in einem weiten Bogen führte. Das wurde ihr zum Verhängnis. Fílis Waffe bohrte sich in den ungeschützten Bauch des Orks und durchtrennte Haut und Fleisch. Das Scheusal stoppte den Angriff mitten in der Bewegung und starrte ungläubig auf die Klinge, die plötzlich aus der Leibesmitte ragte. Dann riss der Zwerg die Waffe zurück und richtete sich auf. Der Ork starrte ihn noch einen Moment lang aus glasigen Augen an, dann brach er endlich zusammen und hauchte gurgelnd sein Leben aus.
Der blonde Zwerg hatte nicht viel Zeit, sich über den Sieg zu freuen – von rechts drang bereits der nächste Gegner auf ihn ein. Diesmal benötigte er beide Schwerter um den Ork abzuwehren, trennte ihm dadurch aber in einem sauberen Schnitt den Kopf von dem dürren Hals. Ungläubigkeit und die Erkenntnis über den eigenen Tod beherrschten dessen Miene und gruben sich für alle Zeit darin ein, während der Schädel langsam davon rollte.
Fíli atmete tief ein und wischte mit dem Handrücken über das Gesicht. Schweißtropfen und Blut vermischten sich und hinterließen lange Schlieren auf seiner Stirn und seinen Wangen, wodurch er nur noch grimmiger und furchteinflößender aussah. Die Schlacht, die bereits seit Stunden zwischen den Zwergen, Menschen und Elben auf der einen Seite und den Orks, Wargen und Goblins aus Dol Guldur und den Gundabad-Bergen auf der anderen Seite tobte, gewann zusehends an Heftigkeit. Die erste Welle der Angreifer war noch in einer halbwegs geordneten Reihenformation über sie gekommen und vor allem die Waldelben mit ihren Bögen hatten den Vormarsch schnell gestoppt und schließlich zum Erliegen gebracht. Die nachfolgenden Krieger hatten sich über die Leiber ihrer gefallenen Kameraden arbeiten müssen, die sich, durchbohrt von den schlanken Elbenpfeilen, zuhauf türmten. Diese Verzögerung gab den Waldwächtern genügend Zeit, die Schwerter zu ziehen und den Wall der Toten noch zu vergrößern.
Dieser ersten Welle an der Westflanke des Berges folgte rasch der nächste Ansturm, diesmal an der Ostflanke gegen die Kämpfer aus Esgaroth und die Zwerge der Eisenberge. Wargreiter preschten auf den großen, wolfsähnlichen Tieren in die Reihen der Menschen und überrannten sie einfach oder töteten sie von den Rücken der Bestien aus, die wild um sich schnappten und sich zusätzlich mit ihren kräftigen Kiefern einen Weg durch die Reihen arbeiteten. Hier waren die Verteidiger kaum in der Lage, die Horde zu stoppen. Schreie mischten sich, und die wenigsten Stimmen gehörten den Orks. Einigen gelang es sogar, fast bis in die Mitte des Rings aus Zwergenkriegern vorzudringen, ehe sie von den Äxten und Schwertern der Bergbewohner gefällt wurden. Schließlich schafften es Bards Männern mit einer wahnwitzigen Attacke, bestehend aus einer keilförmigen Formation und einem Frontalangriff, die Reihen der Orks zu sprengen und die Feinde dadurch aufzuhalten. Doch die Freude darüber blieb aus – die Ostflanke war schwer getroffen worden und hatte durch diesen einen Angriff fast ein Drittel der Krieger verloren.
Die dreizehn zwergischen Weggefährten, darunter auch Fíli und sein Bruder Kíli, hatten sich auf Thorins Befehl hin auf der höchsten Stelle des steinernen Torweges postiert, ganz in der Nähe des Eingangstores. Dort standen sie und warteten darauf, dass die Feinde vordrangen.
Die dritte Angriffswelle durchbrach die geschwächte Ostflanke schließlich und begann, auf den Eingang des Erebor zuzustürmen.
"Baruk khazad ai-menu! Du Bekar!", ertönte Thorins Stimme laut und deutlich über den Lärm der anrückenden Horde hinweg.
Dann hob der Zwergenkönig mit einer grimmigen Miene Orcrist und stürmte voran auf die Angreifer zu. Ehe er den ersten Ork erreicht hatte, pfiff ein Pfeil an ihm vorbei und fällte den vordersten. Kíli hatte bereits den zweiten Pfeil verschossen, als der erste gerade das rechte Auge der Bestie durchschlug und tief in den Schädel eindrang. Die Kreatur starb, ohne auch nur einen Laut von sich gegeben zu haben.
Diese Geste schien wie ein geheimes Zeichen zu sein, auf das die anderen Zwerge gewartet hatten. „Khazad ai-menu!", ergänzte Bifur Thorins Schlachtruf, dann folgte er dem Anführer, in der einen Hand die speerartige Saufeder, in der anderen sein Kurzschwert.
Fílis Hände wanderten automatisch zu den beiden Schwertern und zogen die Zwillingswaffen mit einem leisen, beruhigenden Sirren aus den Lederscheiden. Die Griffe lagen angenehm vertraut in seinen Händen und gaben ihm sofort ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Er war bereit.
Jetzt, etwa eine Stunde später, spürte Fíli, wie seine Kräfte allmählich anfingen zu erlahmen. Er konnte nicht sagen, wie vielen Kreaturen er den Tod gebracht hatte, genau so wenig wie er einschätzen konnte, wie oft er an dem Selbigen nur haarscharf vorbeigeschrammt war. Er kämpfte fast automatisch, hieb, parierte und stach, als hätte er nie etwas anderes getan. Und der Strom der Orks schien kein Ende zu nehmen. Der Blondschopf wusste nicht, wo sein Bruder oder Thorin oder einer der anderen Zwerge waren; die Gruppe hatte sich kurz nach der ersten Attacke aufgelöst und kämpfte zunehmend in Einzelscharmützeln. Hin und wieder hörte er einen zwergischen Kriegsruf, konnte aber nicht sagen, ob es tatsächlich einer seiner Freunde oder Verwandten war.
Eine rostige, gezackte Klinge, an der Blut und Hautfetzen hingen, sauste von der linken Seite heran. Wie von selbst blockte er den Hieb und schwang mit dem zweiten Schwert gegen den Angreifer. Eine gekrümmte, grüne Hand kreuzte seine Schneide und das Eisen fand den Weg durch Muskeln, Sehnen und Knochen. Die Klaue fiel mitsamt der Waffe, die sie hielt, auf den blutgetränkten, schlammigen Boden. Das hohe Kreischen des Feindes gellte in seinen Ohren und übertönte für einen Moment alle anderen Geräusche um ihn herum. Er schüttelte den Kopf, um das Fiepen in seinem Gehör zu vertreiben, als sein Blick auf ein unwirkliches Schauspiel fiel.
In der Mitte des Torweges, unweit der Stelle, an der er mit seinen Kameraden ausgeharrt hatte und damit nur ein paar Dutzend Schritte von ihm entfernt, erhob sich die Gestalt des bleichen Orks auf dem schneeweißen Warg. Unverkennbar zeichnete sich die Silhouette gegen das von Feuerschein erhellte Schlachtfeld ab. Die Bestie, die als Reittier diente, hatte die Lefzen zurückgezogen, so dass Fíli deutlich das scharfe Gebiss schimmern sehen konnte. Mit geradezu aufreizender Ruhe bewegte sich die muskulöse Gestalt der Wolfskreatur zwischen den Kämpfenden hindurch.
Azogs Miene war zu einer Grimasse der Blutgier erstarrt, gepaart mit einem gefährlichen Grinsen. Seine kleinen Augen, die wie feurige Punkte in dem zernarbten, weißen Gesicht glommen, hatten eine Gestalt fixiert, die sich offenbar ganz in der Nähe befand, denn er ließ das Reittier anhalten und sein Grinsen wurde breiter. Er bewegte die Lippen, aber für Fíli war es unmöglich, bei der Entfernung und dem herrschenden Lärm etwas zu verstehen. Dann hob er die rechte Hand, in der er eine mächtige Klinge hielt, halb an und deutete mit dem metallenen Spieß, der seine linke Hand ersetzte, auf eine Gestalt vor sich.
Fíli erstarrte, als sich der Schattenriss bewegte und ins Licht trat. Es war Thorin Eichenschild, der ebenso betont langsam vortrat, Orcrist fest mit der rechten Hand umklammert. Das Gesicht des Zwergenkönigs war ausdruckslos, doch seine Augen brannten vor Hass. Er blieb etwa zehn Schritte vor Azog stehen, setzte einen Fuß nach vorne, verlagerte das Gewicht und hob das Schwert, den Griff nun mit beiden Händen umklammert. Die geschwungene Klinge reflektierte den Feuerschein und für einen Moment schien es, als würde sie selbst in Flammen stehen.
Dann, als hätte jemand ein Zeichen gegeben, sprintete Thorin plötzlich auf den Ork zu. Dieser brüllte auf und der Warg duckte sich zum Sprung, die breiten Kiefer klafften auseinander, bereit, den Zwerg zu zerreißen. Die Kämpfenden in unmittelbarer Umgebung erstarrten, fasziniert von dem Schauspiel, das sich ihnen bot. Für den Bruchteil einer Sekunde schien absolute Ruhe einzukehren.
Dann prallten die beiden ungleichen Gegner aufeinander und Fíli schnellte los. Sein Blickfeld verengte sich, er sah nur noch die beiden, ineinander gekrallten Gestalten.
Er musste zu Thorin.
Musste ihm helfen, ehe Schlimmes passierte.
Er musste den König – nein, seinen Onkel – um jeden Preis schützen!
Der junge Zwerg kam nicht weit. Er hatte kaum drei Schritte getan, als er plötzlich einen Schlag in den Rücken bekam, der ihn straucheln ließ. Fast gleichzeitig explodierte ein nie gekannter Schmerz in seiner Brust, der ihm die Luft abschnürte und ihn jeder Kraft zu berauben schien. Er konnte fühlen, wie seine Beine nachgaben, sah den dunklen Erdboden auf sich zurasen und spürte dumpf, wie er mit dem Kopf gegen etwas Hartes schlug. Schwarze Sterne erblühten vor seinen Augen, die sich rasch ausbreiteten. Er versuchte den Arm auszustrecken und sich in die Höhe zu stemmen, begriff aber im selben Moment, dass er nicht in der Lage war, auch nur den kleinsten Muskel zu rühren.
Was, bei Mahal war geschehen?
Er musste zu Thorin und ihm helfen!
Er musste…
Musste…
Noch ehe er den Gedanken zu Ende führen konnte, wurde der Schmerz übermächtig und die Welt um ihn herum versank in wirbelnder Schwärze.
