Prolog

Wie viel Schmerz kann ein Mensch ertragen, bevor er zerbricht? Wie sehr lässt Gott einen leiden, bevor er endlich der Erlösung, dem Tod, zustimmt? Ich habe mir niemals Gedanken über derlei Fragen gemacht; zumindest nicht, bis mich der Mann, der mich doch eigentlich wie seinen Augapfel hüten und beschützen sollte, in der Kälte der Nacht zurückließ, nachdem er und seine Freunde mich auf jede nur denkbare Weise erniedrigt und misshandelt hatten. Auch der Tod, der in dieser endlosen Zeit des Wartens ununterbrochen in meinen Gedanken war, sich jedoch einfach nicht dazu herabließ, all dem ein Ende zu machen, ist bisher nie ein Thema gewesen, über das ich nachgedacht habe. Ich lag da und stellte mir all die Fragen, die ich mich nie zuvor gefragt hatte und wartete auf den Tod. Mit jeder Sekunde, die ereignislos verstrich, konnte ich den Schmerz in meinem geschundenen Körper nicht mehr von dem in meinem Herzen, meiner Seele unterscheiden. Ich war mir sicher, dass es nichts mehr gab, was all den Schmerz noch übertreffen konnte … und irrte mich. Irgendwann war da eine Stimme, die mir sagte, dass alles gut werden würde – die Stimme eines Mannes. Ich wollte das nicht hören, ich wusste, ich würde nicht noch mehr Schmerz ertragen können und der Besitzer dieser Stimme würde mir sicher nur wieder wehtun. Und dann flog ich. Ich lag in den kalten Armen des Todes und flog dahin. Doch statt nun nichts mehr zu fühlen, wurde der Schmerz so stark, dass ich haltlos zu schreien begann. Durch all meine Schreie hindurch hörte ich wieder diese Stimme. Der Mann sagte mir, dass ich leben würde und dass es ihm leid täte, was er getan habe. Ich schrie die Stimme an, sie solle mich töten, doch sie sagte immer wieder, dass es ihr Leid täte und dass ich leben würde. Eine weitere Welle des Schmerzes hielt meinen Körper in seinen Klauen und bevor sich mein gesamtes Denken endgültig dem Schmerz ergab, wusste ich, dass ich, wenn ich das hier irgendwie überlebte, Rache üben würde. Blutige Rache an denen, die mir das angetan hatten.

Rosalie Lillian Hale, 1933

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